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*
———
HARVARD COLLEGE
LIBRARY
HUGO REISINGER
OF NEW YORK
For the purchase of German books
MWandlungen.
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von
Fanny Lewald.
In vier Bänden.
Erſter Band.
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Braunfhweig,
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JUL 30 1924 -
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Meinem Bruder
Otto Lewald.
Erſtes Kapitel
Die Burfchenverfammlung war ſehr ſtuͤrmiſch
gewefen, die Studenten hatten eben das Audito⸗
rum marimum verlaffen, in dem fie gehalten
worden war, und die verfchiebenen: Corps ſon⸗
derten fich in Gruppen auf dem Hofe, den von
zwei Seiten die Univerfitätögebäude, von der
dritten der Dom begrenzte, während die vierte
fih mit einem eifernen Gitter gegen die ftattliche
Weitung ded Domplabes öffnete.
Die alten Linden und Kaftanien des Univer-
fitatöhofes, welche ihre Aefte hinüberbogen nad)
der bededten Halle ded Domes, zu der Grab:
flätte berühmter Profefforen, waren faft entlaubt,
Bandlungen I. 1
28 andlungen.
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WBandlungen,
von
Fanny Lewald.
In vier Bänden.
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Erſter Band.
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Braunſchweig,
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn.
18583.
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JUL 30 1924 *
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Meinem Bruder
Otto Lewald,
Erfteg Kapitel
Die Burfchenverfammlung war fehr ftürmifch
gewefen, die Studenten hatten eben bad Aubito-
rum marimum verlaffen, in dem fie gehalten
worden war, und die verfchiebenen. Corps fon-
derten fich in Gruppen auf dem Hofe, den von
zwei Seiten die Univerfitätögebaude, von ber
dritten der Dom begrenzte, während Die vierte
ſich mit einem eifernen Gitter gegen die ftattliche
Weitung ded Domplatzes öffnete.
Die alten Linden und Kaftanien des Univer-
fitatshofes, welche ihre Aefte hinüberbogen nad)
ver bededten Halle ded Domed, zu der Grab:
flätte berühmter Profefforen, waren faft entlaubt,
Bandlungen 1. 1
2
obfchon man ſich noch in der erften Hälfte des
Octoberd befand. Der Herbit hatte fich früh
eingeftellt und ſtarke Nachtfröfte bereit3 die Nähe _
des Winters verkündet.
Auch hatte die Burfchenverfammlung den
Sreuden des Winters gegolten. Won jeher hatte
zwifchen den Studirenden und den Bürgern ein
gutes Vernehmen beftanden, und da die Stuben:
ten in den Familienkreiſen ftet3 eine gaftliche
Aufnahme gefunden, war es feit alten Zeiten
Sitte gewefen, daß fie ſich dafür mit Bällen
und mit Concerten dankbar bezeigten. Wie, bie
Söhne aller Stände fich unter dem Schußeder alma
mater zu einer Corporation zufammenfanden,, fo '
begegneten ſich Kaufmannfchaft, Adel, Militair, :
Beamte und Handwerker in den Gartenconzer:
ten fowohl als auf den Bällen der Studenten, .
. und die Univerfität trug auf diefe Weife zur Aus-
gleichung der Standedunterfchiede bei, während
fih hinwieder daS Leben in den verfchiedenen
Samilienkfreifen für die Gefittung der Studirens
den förderlich bewies.
J
Der Geift der Stadt war aufgeklärt u
3
duldfam. Man hob ed gern hervor, daß die kri⸗
tifhe Philofophie von bier ihren neuen Auf:
fhwung genommen habe, und von jener kirchli⸗
chen, myſtiſchen Richtung, welche fpäter in ganz
Deutfchland fo bedenklich um ſich griff, war zu
Ende der zwanziger Jahre in dem Orte wenig
zu bemerken, der als Handeld- und Hafenftabt das
Gepräge eined gefunden, tüchtigen Weſens an ſich
trug.
Der Kaufmannöftand bildete den eigentlichen
Kern der Bürgerfchaft. Stolz auf eine altbegrün-
dete Wohlhabenheit, vol Vorliebe für ererbte Sitte
und doch auf den Weltverkehr gewiefen und durch
ihn moderniſirt, bewahrte dad innere Zeben der
Kaufleute eine gewiffe patriarchalifhe Abgefchlof-
fenheit, bei einer Gaftlichfeit, wie nur der Norden
fie kennt, und bei einer Prachtliebe, wie fie dem
Kaufmannsftande eigen ift.
Der Landadel, welcher im Winter das Stamm:
[bloß mit dem Haufe in der Stadt vertaufchte,
mochte an Saftlichfeit und Lurus der Handelö-
ariftofratie nicht nachftehen, zu ber fich auch die
fremden Confuln und nationalifirte englifche Kauf-
1*
Mandlungen.
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Bandlungen
Roman
von
Fanny Lewald.
In vier Bänden.
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Erſter Band.
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Braunfhweig,
Druck und Berlag von Friedrich Vieweg und Sohn.
1853. .,
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JUL 30 1024
Meinem Bruder
Otto Lewald.
— — — —
10
—
Griechen, fhon am Ende der erften Studienjahre
ein Menfch geworden, den nur die Gewohnheiten
einer guten Erziehung, und eifl angeborner Sinn
für fchöne Form, vor wüfter Robheit zu bewah⸗
ren vermochten. Ein flotter Burfche im Sinne
der Studenten war er dabei nie geweſen. Es
fehlte ihm nicht an Muth, aber er war zu be-
quem, fich irgend eine Anftrengung aufzuerlegen.
Alle jene Abenteuerlichkeiten, an denen die akade⸗
mifche Jugend leicht Gefallen findet, widerfpra-
chen feinem an bürgerlihe Behaglichkeit und
aͤußern Anftand gemwöhnten Sinne, und feine Vor⸗
liebe für die Letztem war mehr und mehr ge⸗
wachfen, je weiter er fich von wahrer Sittlichkeit
entfernt hatte. Die Grundfäge feined Vaterhau⸗
ſes waren ihm ein Spott, die Gewohnheiten def:
felben ein Heiligthum. Die Verehrung der
außern Form wird in Religion und Leben um
fo eifriger betrieben, je mehr der innere Gehalt
verfchwindet.
Larſſen war drei Sahre auf der Univerfität,
ald fein Vater durch unglüdliche Speculation
fein Bermögen verlor. Beide Eltern überlebten
11
dies Unglüd nur eine Eurze Zeit, und der Sohn
ſah fich plößlich auf fich felbft gemiefen. Für
eine energifche Natur wäre der Drud der Ber:
hältniffe eine Triebkraft gewefen, um fo fchneller
und höher zu fleigen; nicht fo für ihn. Er wollte
dem Menfchenfreife entgehen, der ihn beklagen
konnte, er wollte fich den drohenden, augenblid-
lihen Entbehrungen entziehen, und eine Haus⸗
Iehrerftelle in einer adligen Familie, die ein
Freund derfelben ihm anbot, ſchien ihm dazu ber
geeignetefte Ausweg.
Betroffen von dem Vertrauen feines Freun⸗
des, das nicht zu verdienen er ſich bewußt war,
hatte Larſſen es als eine Ehrenſache angeſehen,
ſeine Verpflichtungen im Hauſe des Baron von
Heidenbruck mit hoͤchſter Puͤnktlichkeit zu erfuͤllen.
Der aͤlteſte Sohn des Barons, Erich, den man
eben jetzt zum Entrepreneur der Baͤlle ernannt hatte,
war damals bereits in einem Erziehungsinſtitute,
und nur Georg noch im Haufe gewefen, der bald
darauf einem Cadettenhaufe übergeben worden war.
Larffen hatte alfo nur den wiffenfchaftlichen Un-
terricht der Züchter zu beforgen gehabt, der ihn
12
wenige Stunden des Tages befchäftigte. Die
ganze übrige Zeit hatte er fich felbft und feinen |
Neigungen gelebt, die in dem hochgebildeten, gafts
freien Haufe mit denen der Beſitzer glüdlich ges
nug zufammenfielen. Seine literariiche Bildung,
feine guten Umgangöformen, fein Geift und feine
Anfpruchelofigkeit, feine Theilnahme für jeden
Vorgang des menfchlichen Lebens, hatten ihn
dem Baron und feiner Gattin zu einem ange-
nehmen Hausgenoſſen gemacht, dem man jebe
Bequemlichkeit bereitwillig gewährte und manche
Unregelmäßigfeit der. Sitten verzieh.
Fünf Jahre waren für Larffen in dieſen Ver⸗
Hältniffen unter dauerndem Wohlbehagen dahin⸗
gefchwunden, ald die Ernennung zum Landforſt⸗
meifter den Baron nad) Königöberg berief, wo
man ded Haudlehrers für die Toͤchter nicht mehr
benöthigt war. Wohlmeinend drang man in ihn,
fi einem Eramen zu unterwerfen, der Baron
erbot fih, ihm beim Beginne jeder zu ermählen-
den Laufbahn mit feinem Einfluffe förderlich zu
fein; Larſſen konnte zu keinem Entfchluffe kom⸗
men. Seine Laͤſſigkeit war in den fuͤnf Jahren
13
des MWohllebens, bei den Studien, die er ale
Dilettant betrieb, gewachſen, und obfchon er das
bei dem erftrebten Ziele einer univerfellen Bil-
dung näher gefommen war, ald er felbft es
wußte, hatte er alle Kraft verloren, feine Kennt
niffe fleißig zum eigenen Beſten zu verwerthen.
Bereit, für jeden Andern mühevolle, langwierige
Arbeiten zu übernehmen, konnte er fi nicht
‚überwinden, eine Differtation zu fchreiben, um
ben Doctorgrad zu erwerben, und nur die Noth⸗
wendigkeit, für feinen Unterhalt zu forgen, hatte
ihn bewogen, in Erziehungsanftalten ald Huͤlfs⸗
lehrer zu unterrichten.
In diefer Weife hatte er fortgelebt, feit er
aus dem Haufe des Barond gefchieden war.
Seine Altersgenoffen, die Freunde feiner erſten
Studienzeit, waren zu bürgerlichen Stellungen
gefommen, hatten felbft Familien gegründet,
und Larſſen vermied es, ihnen zu begegnen, meil
fie ihm fein eigenes verfehltes Leben in's Ge—
dächtniß riefen. Aber von Natur gefellig, fühlte
er fich gedrungen, andere Genofjen zu fuchen,
und er fand fie in dem immer neuen Zuwachs
14
der Univerfität, zu deren traditionellen Figuren
er gerechnet ward. Befländig von neuen Bes
kannten, von fogenannten Freunden umgeben, die
fein Geift und feine Originalität leicht an fi
zogen, von ihnen verlaffen, fobald fie im bürgers
lichen Leben vorwärts fehritten, hatte Larſſen fein
dreißigſtes Jahr erreicht. Liebevoll für manchen jun-
gen Mann, der diefe Liebe nicht hoch anfchlug ober
fie kaum ahnte, verlegt durch jede Nichtbeachtung,
und immer ‘wieder zu neuer Theilnahme verlodt;
oftmals ein nüßlicher Freund, ein forglicher War⸗
ner, öfter ein Verführer der Studenten; bochges
halten um fein Wiffen von den Profefloren, miß⸗
achtet ald Charakter; felbftbemußt und an fidh
felbft verzweifelnd; gleichgültig gegen das Urtheil
der Welt und voll Achtung vor dem Schein der
guten Sitte, fo war Larfien, ald er an jenem
Tage dad Amt des Vorfchneiderd an der Tafel
der Studenten übernommen hatte.
Man konnte ihn nicht unfchon nennen. Er
war mittler Größe. Das etwas derbe Geficht,
defien Backenknochen eine hohe Röthe trugen, die
tiefliegenden blauen Augen, das Fraufe dunfel«
15
braune Haar, der ebenfalld krauſe Badenbart,
paßten wohl zufammen, und der flarfe Mund,
die breite Stirn belebten fich zu einem geiftrei-
hen, humoriſtiſchen Ausdrude, fobald er ſprach.
Saar, Bart, Zähne und Hände waren forgfältig
gepflegt, die Kleidung frei von jedem Stäubchen,
das fchwarze Halstuch mit einer großen Schleife
tünftlich gebunden, denn Larſſen legte Werth auf
die Kunft, das Halötuch recht zu falten und zu
tragen. Trotz diefer wohlanftändigen Sauberkeit
lag aber etwas Verkommenes in den Zügen, in
der Kleidung, in der ganzen Erfcheinung des
Mannes, dad keinem Menfchenkenner verborgen
bleiben Eonnte, und die Läfligkeit diefer Natur
Iprach fich in jeder Bewegung, felbft in der Art
und Weife aus, mit der Larffen die filberne
Brille an die Augen drüdte, um feiner großen
Kurzfichtigkeit zu Hülfe zu kommen.
Mit Befriedigung hatte er den gewaltigen
Rinderbraten zerlegt, die Serviette über daß
Bein gebreitet und die erften Biffen gekoftet, als
er, gegen feinen Nachbar den Senior gewendet,
16
bie im Univerfitätöhofe abgebrochene Unterbal-
tung wieder aufnahm.
»Du haft Recht gehabt, die Sache beizules |
gen«, ſprach er; »Nuthenberg geht noch zu blind -
in’d Zeug und Reinbed hätte ihn mit feiner feis .
nen Klinge fo zufammengehauen, daß er auf _
dem erften Balle nicht gefehen haben würde, 0b
Brand ein guter Entrepreneur ift oder nicht.
Aber es ift Fein Comment in der Jugend. Man
verträgt fich vor den Bällen und geht nad) ben
Bällen los.« — Dabei legte er fich einen neuen
Schnitt Braten vor, ließ fich einen befondern
Zeller zu den Beiſaͤtzen geben, den fonft Nies
mand erhielt, und fagte dann: »Ruthenberg, be=
lade Deinen Bart etwad weniger mit, Sauce,
Du mutheft ihm mehr zu, ald er tragen kann,
lieber Sohn!«
Ruthenberg ſtrich lachend mit der Serviette
den Schnurrbart zurecht und meinte: »Du ſoll⸗
teft als Univerfitätähofmeifter angeftellt werden,
Larſſen!“
»Oder in Deinen Mußeſtunden ein Complimen⸗
17
tirbuch für Mufenföhne fchreiben,« fiel ein Ande⸗
ter ein.
»Nein!« rief ein Dritter. »Er muß ein Bud)
ſchreiben: »Perikles, der vollkommene Gentles
man;» dabei kann Larſſen feine ganze Gelehr⸗
famfeit entfalten, und das univerfell gebildete
Alterthum mit unferer Barbarei vergleichen !«
»Und,« fiel Ruthenberg ein, »über fpartanifche
Suppe, attifched Salz, über den Faltenwurf der
Statuen und die Kunft, Cravatten zu binden,
fäinfinnige Bemerkungen machen!«
»⸗Perikles mit einer Cravatte ald Xitelfups
fer wäre ein Anblid für Götter!«
»Und im zweiten Bande Larffen, mit nadter
Bruft als Grieche! Welche Sterbliche könnte ihm
widerſtehen?«
Alle lachten, die Neckereien waren harmlos,
und Larſſen, der ſich gar Manches gegen ſeine
Bekannten herausnahm, ließ ſich in ſeiner Ruhe
und ſeiner Mahlzeit nicht ſtoͤren. Erſt als er
ſeiner Eßluſt Genuͤge gethan, ein großes Glas
Bier in einem Zuge ausgetrunken und ſich dann
mit lang ausgeſtreckten Beinen behaglich in fei-
Bandiungen I. 2
18
nen Stuhl zurüdgelehnt hatte, entgegnete er: .
»Glaubt Ihr nicht, daß ed ohne Schaden wäre, _
. wenn man bei den Univerfitäten Lehrer anftellte, .
die Euch fagten, wie Ihr efien, wie Ihr fliehen,
figen und gehen folt? Seht einmal dad ganze
Beamten: und Profefiorenvolf an, ob darunter |
im Grunde auch nur Einer einem Menfchen aͤhn⸗
lich fieht, wenn er fih vor Menfchen zu bewes
gen hat. Wie verfchüchterte Nachteulen und Fle⸗
dermäufe flattern fie aus ihren Bureauldchern
und Studirneftern hervor auf die Straße und in
die Gefellfchaft, daß mir unmwohl wird, wenn ich
— — — — — ui mu — —
ſie ſehe. Jeder Unteroffizier, jeder Statiſt des
elendeſten Theaters iſt ein Halbgott gegen dieſe
—7
verkommenen Herren der Intelligenz. Und Ihr
ſelbſt? Unter den ſechshundert Studenten koͤnnen
nicht fünfzig gehen oder ftehen.«
„Wir Litthauer koͤnnen Alle geben, dem wir
wachſen im Freien auf!« wendete ber Senior
ein.
»Ihr Tönnt reiten, und dad Spruͤchwort bat
Recht, wenn ed behauptet: «Jeder Litthauer
fommt mit einem Pferdezaum in der Hand auf
19
die Welt.» Dad fpringened Roß, das Euer
Bappen ift, das kommt Euch zu; aber gehen
koͤnnen nicht fünf unter Euch. Der Heidenbrud
kann gehen, und auch Brand geht vortrefflich,
fie werden fich gut auf den Baͤllen machen !«
»Ich bleibe dabei, daß Brand ed nidht an-
nimmt!« behauptete der Senior wieder.
»Man muß fatt fein, um eine volle Schüffel,
einen vollen Becher an ſich vorübergehen zu laf-
fen, ohne zuzugreifen!» entgegnete Larſſen.
»Was heißt das ?«
»Erich von Heidenbrud, der künftige Majo-
ratöherr, Fönnte die Ehre auöfchlagen, Entrepre⸗
neur der Bälle zu werden, denn er wird nod
manchen Genuß außer diefen Studentenbällen in
feinem Leben haben,« erklärte Larſſen mit einem
überlegenen Lächeln, das fpöftifcher war, als er
ſelbſt es wollte; »der Sohn des Handwerkers,
der künftige Landpfarrer, für den die magern
Sahre gleich nach der Univerfität beginnen, muß
den Becher der Freude ergreifen, der ihm gebo—
tn wird. Ich wette Zehn gegen Eins, daß
Brand ed annimmt!«
20
»Laß ed einftweilen bei Eind gegen Zwei be=
wenden, Larfien, das kommt eher zu Stande,
wenn Du verlierft!« meinte Ruthenberg lachend.
Der Senior nahm die Wette an, es blieb bei
zwei Bowlen, man fland vom Tiſche auf und
verabredete, am Abend, wenn man über Brand’s
Antwort Gewißheit haben würde, wieder im
Speifehaus zufammen zu fommen, um auf Ko:
fien des Verlierenden die beiden Bowlen zu
trinfen. |
Zweites Kapitel,
Waͤhrend deffen: hatte Brand einen Weg vor
die Thore gemacht, um mit fich felbft zu Rathe
zu gehen. Die auf ihn gefallene Wahl feiner
Commilitonen hatte ihn uͤberraſcht. Mit der 2b:
fung einer theologifchen Preisaufgabe befchäftigt,
entfchloffen im Beginne des Fruͤhjahrs fein Ganz
didaten-Eramen zu machen, hatte er fchon feit
Monaten ganz zurüdgezogen gelebt, ohne fich an
den Parteifachen und fonftigen Angelegenheiten
der Studenten zu betheiligen, und nicht daran
gedacht, ein folches Ehrenamt zu übernehmen.
. Sein erfter Gedanke war, ed abzulehnen, weil
er fich den Beitverluft und die Hinderniffe nicht
22
verbergen konnte, die ihm aus der Annahme ber
Wahl erwachſen mußten; fein zweiter Gebante
überfchaute die lange Reihe von Genüffen, Die
bevorzugte Stellung, melde ihm geboten wurbe.
Er fah ſich in der vortheilhaften Kleidung der
Entrepreneure, er fah fich ald Vertreter der Stu-
direnden, ald Ehrenmitglied zu allen Seftlichkeiten
gezogen, welche während der nädıften fechd Mo-
nate in dem Bereiche der Stadt gefeiert wurben;
er fah fi) mit Heidenbrud in einer eleganten
Equipage die erften Beamten der Stadt perfön-
lich zu den Bällen einladen, mit den fchönften
und vornehmften Mädchen und Frauen die Bälke
eröffnen, und er hätte nicht ein und zwanzig
Fahre fein müffen, wären folche Ausfichten ohne
Wirkung auf ihn geblieben. Larffen hatte Recht
gehabt: Friedrich Eonnte den verlodenden Becher
der Freude nicht von fich weifen! |
Er war noch nicht lange gegangen, ald er
mit fich darüber einig war, den Winter zu ges
nießen und durch verdoppelte Arbeit im Frühling
den Zeitverluft zu tilgen; nur der Gedanke, wie
fein Bater diefen Entfcehluß anfehen würde, beun-
23
ruhigte ihn. Er überlegte, auf welche Weife er
die Sache darzuftellen habe; ob er ihm feinen
Plan als etwas Feſtſtehendes mittheilen, ob er
feine Zuſtimmung dabei erbitten, ob er ihn durch
die Mutter darauf vorbereiten laſſen folle. Jeder
biefer Wege konnte der rechte fein, jeder mißlin-
gen und eine der Scenen herbeiführen, bie das
ſchwere eben feiner Mutter dann für lange Zeit noch
fhwerer machten. Wo ed unmöglich ift, ſich mit
Sicherheit zu ſchuͤtzen, ift ein rafcher Angriff für
kräftige Naturen ſtets der befte Ausweg, und
Friedrich wendete plößlich auf feinem Spazier⸗
gange um, bie peinliche Erörterung fo bald als
möglich abzuthun.
Es war Sonntag und zwei Uhr Nachmittag.
Die Glocken läuteten zur Kirche, ald er in einem
entlegenen Stadttheile vor der niedrigen Thür
eines Beinen Giebelhaufes ftand, die ſich nad
der Bauart unferer Vorfahren der Höhe nad)
in zwei Xheilen öffnete. Die obere Hälfte war
zurüdgefchlagen, Friedrich Elinfte die untere auf,
fhritt durch den gepflafterten Flur, aus dem eine
Treppe ohne Lehne zu dem Boden führte, und
24
trat zu ebner Erde in die Tifchlerwerfftatt ein, bie
heute, dem Sonntag zu Ehren, verlaffen war.
Ein Gefühl von Bangigkeit bemächtigte fich
des jungen Mannes, während er zwifchen den
Hobelbänken und Werktifchen fi) der Stube feis
ner Eltern näherte. Es war ihm, als müffe er
fih unbewaffnet einem mächtigen Gegner ftellen,. :
und tiefaufathmend öffnete er die Thür. Das
Zimmer war fauber gehalten, aber ärmlid. An
dem Zifche, der zwifchen den Fenſtern unter dem:
Spiegel ftand, faß der Vater. Er lad dad Wo⸗
chenblatt. Die Mutter Eniete am Ofen und
kochte Kaffee.
»Ich habe mit dem Kaffee gewartet, weil ich
dachte, Du würdeft Fommen!« fagte die große
und noch hübfche Frau, während fie dad Feuer
fchürte und ihr Geficht beim Anblic ihres einzi⸗
gen Kindes jenen verfchleierten Ausbrud Der
Freude zeigte, wie er unter den Zügen hervors
fieht, welche Sorge und Arbeit dem Kopfe eine
gegraben haben. Nur in den Gefichtern ber
Gluͤcklichen leuchtet die Freude wie heller Sons
nenfchein, bei dem Sorgenvollen gleicht fie dem
25
sebftlichen Lichte, dad nur matt die Wolken
irchdringt.
»Komme ich zu ſpaͤt?« fragte Friedrich und
ih nach der Schwarzwälder Uhr in der Nähe
es grünen Sachelofend, deren Pendel fich lang:
im über dem roth und ſchwarz gedrudten Zi-
{blatte des Kalenders hin- und herbewegte.
»Du hätteft Sonntags früher kommen koͤn⸗
en!« entgegnete der Vater. »Wo kommſt Du
er?«
»Ich war vor dem Zhore.«
- »Allein?«
»Sie gehen jadoch niemald mit mir, Vater!«
ntwortete Sriedrich, der den Zadel in feines Va—
ers Stage wohl verfland.
»Ja, das weiß Gott!« nahm die Mutter das
Bort, die den Kaffee abgeklärt, die braune
Tanne auf den Zifch geftellt hatte, und nun aus
em Schranke die Zaffen herbeiholte. »Du rührft
dich ja halbe Jahre lang nicht aus dem Haufe,
yenn’s nicht zu einem Kunden oder zum Holz-
lage ifl. Wenn der Fritz auf Dich warten follte,
me er grade fo wenig vord Thor, ald ich!«
2*
16
die im Univerfitätöhofe abgebrochene Unterhal⸗
fung wieder aufnahm.
»Du haft Recht gehabt, die Sache beizule-
gen«, fprach er; »Ruthenberg geht noch zu blind
in’d Zeug und Neinbe hätte ihn mit feiner feis .
nen Klinge fo zufammengehauen, daß er auf
dem erften Balle nicht gefehen haben würde, ob
Brand ein guter Entrepreneur ift oder nicht.
Aber es ift Fein Comment in der Jugend. Man
verträgt fich vor den Baͤllen und geht nach ben
Ballen los.« — Dabei legte er fich einen neuen
Schnitt Braten vor, ließ fich einen befondern
Teller zu den Beifäßen geben, den fonft Nie
mand erhielt, und fagte dann: »Nuthenberg, be=
lade Deinen Bart etwad weniger mit. Sauce,
Du mutheft ihm mehr zu, ald er tragen kann,
lieber Sohn!«
Ruthenberg ftrich lachend mit der Serviette
den Schnurrbart zurecht und meinte: »Du folls
teft als Univerfitätshofmeifter angeftellt werden,
Larfien !«
»Oder in Deinen Mußeftunden ein Complimen⸗
27
ten zu müflen, fiegten über den Eindrud der
Niedergefchlagenheit, und mit größerer Ruhe als er
fühlte, fagte Friedrich: »Ich und Heidenbrud
find zu Entrepreneuren der Bälle gewählt !«
»Das fehlte!« rief der Water fpottend, wäh-
vend die Mutter erflaunt die Kanne aus der
Hand fegte und Friedrich mit einer Art von
Ehrfurcht anfah. Als gehe er fchon zum Fefte,
betrachtete fie ihn von Kopf zu Fuß, und wifchte
unbeachtet mit der Schürze einen Eleinen Fled
von feinem Ermel ab.
»Ich habe die Wahl angenommen! fagte
Friedrich beftimmt.
»Der Sohn vom Zifchler Brand und der
Sohn vom Landforftmeifter von Heidenbrud, die
paflen auch gut zufammen!« höhnte der Bater,
»Du Fannft hingehen, Mutter, und zufehen auf
der Straße unter dem anderen Bolf, wenn Dein
Herr Fritz zum Balle ausſteigt vor dem Schlofie
oder vor dem Rathhaus!«
Friedrich war bleich geworden und aufgeflan-
den von dem Tiſche, an dem er mit den Eltern
gefeflen. Die Mutter fah ſcheu und aͤngſtlich zu
18
nen Stuhl zurüdgelehnt hatte, entgegnete er:
»Glaubt Ihr nicht, daß ed ohne Schaden wäre,
. wenn man bei den Univerfitäten Lehrer anftellte, .
die Euch fagten, wie Ihr efien, wie Ihr flehen,
figen und gehen folt? Seht einmal dad ganze
Beamten und Profefiorenvolf an, ob darunter
im Grunde auch nur Einer einem Menfchen ähns
lich fieht, wenn er fih vor Menfchen zu bemwe-
gen hat. Wie verfchlichterte Nachteulen und Fle⸗
dermäufe flattern fie aus ihren Bureaulöchern
und Studirneftern hervor auf die Straße und in
die Gefellfchaft, daß mir unwohl wird, wenn ich
fie ſehe. Jeder Unteroffizier, jeder Statift des
elendeften Theaters iſt ein Halbgott gegen diefe
verfommenen Herren der Intelligenz. Und Ihr
felbft? Unter den fechöhundert Studenten können
nicht fünfzig gehen oder ftehen.«
„Wir Eitthauer können Alle gehen, denn wir
wachen im $reien auf!« wendete der Senior
ein.
»Ihr koͤnnt reiten, und dad Spruͤchwort hat
Recht, wenn ed behauptet: «Jeder Litthauer
fommt mit einem Pferdezaum in der Hand auf
19
e Belt.» Das fpringened Roß, das Euer
Bappen ift, das kommt Euch zu; aber gehen
Innen nicht fünf unter Euch. Der Heidenbrud
inn gehen, und aud Brand geht vortrefflich,
e werben fich gut auf den Bällen machen !«
»Ich bleibe dabei, daß Brand ed nicht an-
immt!« behauptete der Senior wieder.
»Man muß fatt fein, um eine vole Schüffel,
inen vollen Becher an fich vorübergehen zu laf-
en, ohne zuzugreifen!» entgegnete Larffen.
»Was heißt das ?«
»Erich von Heidenbrud, der künftige Majo-
atöherr, Tönnte die Ehre auöfchlagen, Entrepre _
wur der Bälle zu werben, denn er wirb noch
nanchen Genuß außer diefen Studentenbällen in
einem Leben haben,« erklärte Larſſen mit einem
iberlegenen Lächeln, das fpüttifcher war, als er
elbft ed wollte; »der Sohn des Handwerkers,
ver kuͤnftige Landpfarrer, für den die magern
Sahre gleich nach der Univerfität beginnen, muß
ven Becher der Freude ergreifen, der ihm gebo=
en wird. Ich wette Zehn gegen Eins, daß
Brand ed annimmt!«
20
Laß es einftmeilen bei Eins gegen Zi
wenden, Larſſen, das kommt eher zu St
wenn Du verlierft!« meinte Ruthenberg lar
Der Senior nahm bie Wette an, es blie
zwei Bowlen, man fiand vom Tiſche auf
verabrebete, am Abend, wenn man über Br.
Antwort Gewißheit haben würde, wieden
Speifehaus zufammen zu fommen, um auf
ften des Werlierenden die beiden Bowle
trinken.
Zweites Kapitel.
Während deſſen hatte Brand einen Weg vor
die Shore gemacht, um mit fich felbft zu Rathe
zu gehen. Die auf ihn gefallene Wahl feiner
Commilitonen hatte ihn uͤberraſcht. Mit der 2b:
fung einer theologifchen Preisaufgabe befchäftigt,
entfchloffen im Beginne des Frühjahrs fein Can—
didaten-Eramen zu machen, hatte er ſchon feit
Monaten ganz zurüdgezogen gelebt, ohne fi an
den Parteifachen und fonftigen Angelegenheiten
ber Studenten zu betheiligen, und nicht daran
gedacht, ein folches Ehrenamt zu übernehmen.
. Sein erfter Gedanke war, ed abzulehnen, weil
er fih den Zeitverluft und die Hinderniffe nicht
32
»Er fol nicht ihr Prediger werden, fonde:
unferer fol er werden, dazu habe ich ihn erzoge
Mas kümmern fich die Prediger um unfer Eineı
Hätte ich Einen gefunden, einen Prediger, einı
Lehrer, der fih um mid) gekümmert hätte ;
meiner Zeit, der gemerkt hätte, wie ich auf
Lernen aus war, der mir geholfen hätte, ich flänl
heute nicht ald Xifchler hier und mein Sof
brauchte fich meiner nicht zu fchämen!«
Damit hatte er die Saite getroffen, weld
in Friedrich’ Herzen immer wieder für den Vat
erflang, dad Mitleid mit einem aufftrebend«
Seifte, dem die Verhältniffe jede Erhebung, jei
Entwidlung unmöglic gemacht. Friedrich ve
ftand diefe Eiferfuhht des Vaters auf die Bi
dung des Sohnes und ehrte fie, fo fehr er au
davon gelitten hatte. Sein Geficht verlor de
Ausdrud der Kälte, er trat näher zum Batı
heran und fagte mit fanfter Stimme: »Sie bi
ben mir die Bildung zukommen laflen, Vate
die Sie fich nicht verfchaffen Fonnten, und Go
weiß, ob ich Ihnen das anerkenne und danf
Sie haben manchmal gefagt, mein Wiffen fürn
33
Ihnen wie Ihr eigned vor, wie ift e8 Ihnen
alfo möglich, in den einzelnen Schritten, die ich
vorwärts thue, jedesmal eine Kränkung für fich
zu finden?«
‚Wenn Du die Reichen und Vornehmen
fennteft wie ich, wirdeft Du von Keinem Gu⸗
ed erwarten. Sie werden Did) auch dazu be-
kommen; fie werden Dich verachten ald Tifch-
leröfohn, und Du wirft bald lernen Deinen Va—
fer verachten! Ich habe Dich ehrlich erzogen, ich
gehe arm, aber rechtfchaffen aus der Welt, laß
Du Di) nur mit dem Volke ein, und fieh zu,
wohin Du Fommen wirft! Laß Dich nur mit
den Bällen, mit den Narrenspoflen ein, die
Schulden werden bald da fein und die Händel
auch; und wenn fie Dir nachher das Geficht von
einander hauen, dann fieh zu, auf welcher Kan-
zel Du predigen Fannft!«
Sobald der Bater ſich nur von dem Gefühle
feines eignen verfehlten Lebenszieles und feines
daraus entftandenen Hafles gegen glüdlichere Men
ſchen abwendete, war die Möglichkeit einer Ver:
fländigung gegeben. Friedrich erinnerte den Va—
3
— a 0
a za e—⸗—
Wandlungen 1.
34
ter, daß er niemald Schulden, felten Händel ges
habt hätte, daß er im Nothfalle ein guter Schlä-
ger, alfo nicht viel Gefahr für ihn zu fürchten
fei; »und gerade Ihnen,« fagte er, »müßte es
doch recht fein, wenn Ihr Sohn fich neben und
vor die Erften der Stadt zu ftellen vermag!«
Der Alte antwortete nicht, aber er feßte fich |
wieder, reichte der Mutter die leere Kaffeetaffe
hin, fie durch dies Zeichen zum Einfchenten aufs
fordernd. Die Frau gehorchte, fie füllte auch Die
anderen Taſſen, und obſchon dem Siege nahe,
ließ Friedrich fi verflimmt und traurig nieder, -
denn es liegt für wahre Naturen ein Schmerz
darin, dad, was fie zu erlangen fich berechtigt.
fühlen, den Ihren durch eine auf deren Schwaͤ⸗
chen berechnete Liſt abgewinnen zu müffen.
»Was wird ed denn Poften?« fragte nach
einer Weile der Alte.
»Etwas Zeitaufwand, den ich aber leicht ein=
bringen Fann und werde. Mein Eramen made
ich jedenfalld zu Pfingften!«
»Alfo nicht Oftern, wie Du erft gewollt?«
- -—_
»Dieſe ſechs Wochen Auffchub find unbedeu-
35
tend, und ich behalte dafür die Erinnerung an
einen froben Winter !«
»Das heißt alfo, Du wirft jest tagtäglich
ded Abends tanzen und ded Morgend zu Befu-
hen gehen und von früh bis fpat herum ſcherwen⸗
zeln. Thu’ was Du willft! Ich Fann Dir Nichts
dazu geben, ich verlange auch Nichts von Dir!«
»Es ift nicht feine Schuld,« fiel die Mutter
ein, »daß Du Nichtd nehmen will, er hat Dir’s
oft genug angeboten, wenn er's hatte!«
Eine neue Paufe entfland, die der Vater mit
dem Ausruf unterbrah : »Wenn nur Etwas da=
bei herausfäme !«
»Nun,« meinte die Mutter, »er kann doch
Befanntfchaften machen, die ihm rafch zur Pfarre
verhelfen !«
»Fuͤr's Tanzen?« fragte der Vater fpöttifch
und fügte dann hinzu: »Aber meinetwegen mache
es mit, ich kann's nicht hindern, ich gebe Dir ja
Nichts dazu!«
| Friedrich fühlte dem Vater auch in Diefem
| Punkte nach. Er verftand die Liebe, die in dieſem
Manne zum gefränften Stolze ward, weil fie
Yık
36
Nichts zu bieten, Nichtd zu gewähren ver-
mochte. Er gab dem Vater die Hand und fagte:
»Ich verfpreche Ihnen, dag mein Eramen nicht
darunter leiden fol Water, und danke Ihnen,
dag Sie mir meinen Willen lafjen!«
Der Alte war gerührt, ließ es aber nicht
merken; die Mutter durfte ed niemals in des
Vaters Gegenwart zeigen, wie fie den Sohn
liebte, wie fie mit Anbetung zu dem von ihr ge=
bornen Kinde emporfah, das fo viel mehr war,
als fie felbft. Diefe Verehrung vor dem eigenen
Kinde, die in der Madonna, wenn fie dad Chrift-
find anbetet, ihren reinften Ausdrud hat, findet
man oft im Herzen der Mütter, wenn ihre Kin-
der fich weit über fie hinaus emporgefchwungen
haben.
Sie ftand auf und machte fih im Zimmer
zu thun, auch der Vater erhob fih. »Ich möchte
heute einmal zu Bier gehen!« fagte er.
Das war ein feltened Ereigniß, deflen Be-
deutung Mutter und Sohn verftanden. »Bleibft
Du noch hier?« fragte er den Sohn.
»Noc eine Stunde Fann ich bleiben!«
37
»Und was thuft Du nachher?
»Ich muß zu Heidenbruck gehen!«
Während dieſer Worte hatte der Meifter vor
dem Spiegel ſich das bunte Halsſtuch umgebunden,
den langen blauen Rod und den Hut vom Na—
gel genommen, fich angePleidet, Pfeife, Zabafs-
beutel und Tabaksdoſe in die Taſche geftedt,
den Reſt feines Kaffees auögetrunfen, und fchritt
dann mit einem achtlofen »Adieu!« der Thür
zu, in der ein ganz junges Mädchen ihm entge-
gentrat. Er ließ dad Kind, denn ein Kind war
Regina, troß ihrer frühen Größe, ohne es anzu-
bliden, an fich vorübergehen. Er dachte zu leb-
haft Daran, wie er ed den anderen Meiftern er-
zählen werde, daß fein Sohn und der Sohn des
Landforftmeiftere von Heidenbrud zu Entrepre-
neuren der Studentenballe ernannt worden wären.
Drittes Kapitel.
Friedrich und die Mutter hätten Manches zu
befprechen gehabt, aber die Ankunft des Mäp-
hend machte ed unmöglich.
„rau Meifterin! wir reifen nah Berlin!«
tief dad Kind mit einer auffallend lieblichen
Stimme und mit einem Ausdruf von Freude
und Beftürzung, die dem fchönen Gefichte unges
mein wohl ftanden.
»MWarum nicht gar?« fagte die Meifterin.
»Nein gewiß!« entgegnete Regina, »wir ha=
ben einen Poften in Berlin befommen!«
Friedrich, der fletd feinen Scherz mit Regina °
trieb, fragte: »Ald was ftellen fie Dich denn an? :
als Fönigliche Plätterin oder ald Sängerin?« -
“ U — .
39
Aber Regina war zu befchäftigt durch den
Gedanken an die bevorftehende Reife, ald daß fie
feine Nederei beachtet hätte. »Der Water wird
Auffeher, wir befommen zwanzig Thaler monat:
lich und große Zrinfgelder!«
»Auffehber wovon ?« fragte Friedrich.
»Bon einem Schloß, in dem Bilder find,
ich weiß nicht, wie es heißt, ich habe den Na-
men nur einmal gehört.«
»Wann ift denn die Nachricht gefommen? «
»Jetzt eben, Frau Meifterin, ald ich herging,
und naͤchſten Fuͤnfſehnten follen wir fort, wir
haben freie Poft!«
»Alfo ſchon in vier Wochen,« fagte Friedrich,
»denn heute ift der Achtzehnte!«
Die Bemerkung machte die Kleine ernfthaft.
»Dann haben Sie wieder MWäfche!« meinte fie
und fah zur Meifterin mit den großen ſchwar—
zen Augen empor, in bie fich ploͤtzlich Thraͤnen
drängten.
»Da wirft Du mir fehlen!« antwortete die
Mutter. »Du wirft mir überhaupt fehlen !«
Regina fing bitterlich zu weinen an. »Wo
40
werde ich bleiben unter al’ den Menſchen, wenn
der Water bei den Bildern ift? Wenn nur die
Mutter nicht todt wäre!« fchluchzte fie.
Die Meifterin tröftete, daß es überall gute
Herzen gabe, und daß ſich auch in Berlin Leute
“ihrer annehmen werden; aber freilich mußte fie
ſich im Innern fagen, daß nicht leicht Jemand an
dem Mädchen fo treu handeln würde, als fie
felbft, und ed war ihr ein Schmerz, die Kleine
zu verlieren.
Regina’s Mutter war als die Frau eined Unter-
offizierd Baldig nad) Preußen gekommen, als Die
legten Beſatzungstruppen Parid verlaffen hatten.
Madmoifelle Reyne, die bübfche Näherin, hatte
in der Heimath die ehrliche Liebe und die fchöne
Geſtalt des Unteroffizierd mehr ald ausreichend
für ihr Gtüd gefunden. Sie hatte genäht und
gearbeitet nach wie vor, ihr anmuthiged Fran⸗
zöfich mit ihren Nachbarn geplaudert, fich gefreut,
wenn ihr lieber Deutfcher fie in die Guinguette
vor die Barriere führte, fi) von ihm herzen
und kuͤſſen laſſen und es dabei nicht fonderlich
gemerkt, daß er nur wenig franzöfich fprach, und
41
daß fie fih im Grunde kaum mit ihm ver-
ftändigen konnte. Indeß dies forglofe Hinleben
hatte eines Tages ein plößliches Ende genom-
men, alö die Befagungstruppen Ordre zum Mar:
ſchiren erhielten, der Unteroffizier feinen Zornifter
vaden, und die junge Franzöfin nun ihrem lie:
ben Deutſchen in feine Keimath folgen mußte,
von der ihr Nichts befannt war, als daß man
dort eine unverftändliche Sprache rede, und daß
die große Armee des Kaiferd in dem Schnee bes
Falten Zanded erfroren fei. Die Vorſtellungen ihres
Mannes, daß fie nicht nach Rußland, fondern
nach Preußen zu gehen hätten, vermochten ihre
Thraͤnen nicht zu ftillen, ihre Angft nicht zu be—
ruhigen. Sie war überzeugt, daß nur in ihrem
Baterlande Menfchen ein menſchlich Dafein füh:
ren koͤnnten; was jenfeit feiner Grenze lag, war
ihr gleichgültig oder verächtlih. Sie nahm ſich
nicht die Mühe, es Eennen, unterfcheiden zu ler-
nen, und hatte auf alle VBorftelungen ihres Man-
ned nur ein traurige: »Es ift nicht Sranfreich!«
zu entgegnen.
Und freilich war es nicht Frankreich, das Falte,
42
ernfte, arbeitövolle Land, in das fie ſich nach we—
nig Monaten verfegt ſah. Ihr Körper litt von
der ungewohnten Strenge des Klimas, die Spra=
che blieb ihr fremd, felbft ald fie fie verftehen
lernte, fremder noch die Sitten und die Men-
fchen, aber fie beklagte fich darüber nicht. Der
Unteroffizier that, was in feinen Kräften ſtand,
ihr dad Leben leichter zu machen, dennoch mußte
“er gewahren, daß die Zrifche ihrer Wangen, der
helle, lachende Glanz ihrer Augen immer mehr
erloſchen. Ihr älteftes in Frankreich gebornes
Kind erlag dem erften Falten Winter; die Fleine
Regina aber gedieh in ihrem nordifchen Vaters
lande und war die größte Freude ihrer Eltern,
als ein Unglüdsfall die Lage derfelben noch me
fentlich veränderte.
Ein Sturz mit dem Pferde machte den Un-
teroffizier untauglich für den Dienft und er ward
mit einem Wartegelde zur Ruhe gefebt, bid man
einft eine Givilbedienung für ihn gefunden ha=
ben würde. Bon dem geringen Einfommen des
Snvaliden fonnte man nicht leben, und jest war
ed, wo Liebe und Nothwendigfeit die Spann=
Ka. .
43;
fraft der Pränfelnden Frau erwedten, wo bie
praftifche Tchätigkeit der Franzöfin fich plößlich
hulfreich und wirffam zu zeigen begann. Sie.
fing an, fi) um Arbeit zu bemühen. Ihre Ge-
fchicklichkeit im Nähen und im Wafchen ver:
ſchaffte ihr bald eine größere Kundfchaft, als fie
zu bedienen vermochte. Der Mann machte fich
zum Copiſten, der Eleine Hausftand hielt fich
tapfer aufrecht. Was Frau Baldig von den
Frauen ihres Ranges entfernte, das feine Wefen
der Franzöfin, machte fie den Damen ihrer Kunbd-
fchaft nur beliebter. Das intereffante Geficht
der Eränkelnden Frau, die fremde Sprache, das
niedliche franzöfifche Geplauder ihres Kindes, das
fie faft immer mit ſich führte, wenn fie ihrem
Gefchäfte nachging, nahmen für fie ein; und wie
der Reiche Alles zu benußen weiß, was die Ver—
bältniffe deö Armen ihm zu bieten haben, fo
ließen die Kunden von Frau Baldig die Fleine
Regina zu ihren Kindern fommen, mit denen fie
fpielend franzöfifch fprechen mußte.
Dadurch verfeinerten fich die ohnehin zierli=
chen Sitten der Kleinen nur noch mehr. Man
44
beſcherte ihr zum Weihnachtsfeſte manches Nuͤtz⸗
liche und Ueberfluͤſſige, man ſchenkte ihr die ab-
gelegten Kleidungsſtuͤcke ihrer Spielgefährten, und
da die Mutter das Alles mit gefchicter Hand zu
verwenden wußte, ſah Reyne immer fo fchmud
und ſtattlich aus, daß fie eher für eine Tochter
jener reichen Familien gelten Fonnte, ald für ein
Kind der arbeitenden Stände, in deren Mitte fie
wohnte und zu denen fie gehörte.
Die Nachbaröfinder ließen dad die arme Eleine
Reyne entgelten, wenn fie fic) dann und wann
in ihre Spiele mifchte. Sie nannten fie ſpot⸗
tend »das Fräulein, die franzöfifche Prinzeß«, fie
verbarben ihr die Kleider, ahmten ihren franzöfi-
fchen Dialekt wohl oder übel nad), und hatten auf
jede Weife ihre Luft daran, fie zu plagen, bis fie
fich erfchredt und böfe wieder von ihnen ent—⸗
fernte, um immer feltner zu ihnen zurüdzufehren.
Shre Liebe für ihre vornehmen Spielgenoffen
wuchs dadurch, und die Mutter, ebenfo unbeliebt
unter ihres Gleichen, ald das Kind, hatte nur
einen Gedanken, einen Wunfc), allmählich fo viel
zu erwerben, daß fie einen kleinen Handel mit
45
feinen Näbereien eröffnen, dem Manne ein for=
genfreied Alter, und ſich und ihrer Zochter ein
Leben unter gebildeteren Menfchen fehaffen Eönnte,
als ſich in ihrer jebigen Umgebung fanden.
Nur in einem Haufe in der ganzen Nachbar:
{haft hatte man ftetd die Fleine Reyne geliebt,
fih an dem Wohlergehen der Familie erfreut und
Sorge getragen um die immer ſchwaͤcher werdende
Geſundheit der arbeitfamen Frau, denn der Tifch-
lermeifter Brand hatte das Streben derfelben wohl
begriffen. Die beiden Familien waren ſtets gute
Nachbarn und einander hülfreich gemefen. Zum
Dank für die Dienfte, welche die Meifterin ihr bei
ihrer Ankunft bereitwillig erwiefen, hatte die Fran-
zöfin mit Friebrich feine franzöfifchen Lektionen einge⸗
übt, und ihn in diefer Sprache mehr gefördert, als
feine Lehrer im Gymnaſium. Er hatte dagegen die
Pleinen Reyne gewartet, wenn die Mutter fich vom
Haufe entfernen mußte, und er hatte das Kind
geliebt denn er hatte keine Gefchmifter, aber die
Mutter deffelben war ihm noch weittheuerer gemefen.
Bon jeher hatte fie Freude gehabt an ber
Srühreife des Knaben, an feiner Klugheit,
46
feiner Sanftheit, und je. mehr die fortfchreitende
Bildung die Sitten ded Gymnaſiaſten verfeinerte,
um fo werther war er ihr geworden. Sie liebte
ihn, weil er begierig war ihre Mutterfprache zu
lernen, weil er Zuft hatte, von Franfreich, von
Paris zuhören. Ihm hatte fie unverhohlen von
der nie erlofchenen Sehnfucht nach der Heimath,
von ihrem Mipfallen. an ihrer Umgebung gefpro-
chen. Er war ihr Troft in Tagen der Entmus
thigung geweſen, er ward ihr ein jüngerer Bru⸗
der und ein Freund.
Die glüdlichften Stunden feiner Kindheit
hatte Friedrich mit dieſer Frau verlebt. Ihr
franzöfifches Gebetbuch, die fchlechten Bilderchen
von Paris, von feinen Straßen und Gebäuden,
feinen berühmten Männern und Ereigniflen, hat-
ten einen unwiberftehlichen Zauber für ihn ges
habt. Er hatte nicht müde werden Fönnen, fie zu
betrachten, die Unterfchriften zu leſen, die Erflä-
rungen feiner Freundin zu hören. Und dieſe
Luft war in ihm gewachſen, je mehr er den
Louvre, die Zuilerien, dad Palaid Royal, den
Greve-Plab ald Zeugen der größten Weltereig-
41
niffe hatte kennen lernen. Niemand in feinerganzen
Umgebung hatte ihm jene Augenblicke aufhorchen⸗
der Begeifterung zu bereiten vermocht, deren er
neben Frau Baldig genoflen, wenn fie ihm von
Paris, von Frankreich erzählt, von der großen
Nation, von den tapferen Soldaten, von Napo-
leon, und wie fie ihn gefehen im grauen Rode,
mit dem kleinen Hute, an der Spitze feiner flol-
zen Garden. Sie war ihm täglich neu, Alles,
mas zu ihr gehörte, ihr Eleines Zimmer mit den
Vorhaͤngen von buntem Kattun, ihre faubere Art
fich zu Heiden, ihre Sprache und ihr Behaben
waren ihm lieb gewefen. Es hatte ihm wohlgethan,
fich von ihr als Monsieur Frederic angerebet zu
hören, obfchon fie ihn in guten Stunden mon
enfant und Du zu nennen pflegte, mit einem
orte, fie hatte in jener Zeit das Ideal, die
Poeſie feined Lebens ausgemacht, und er hatte
an ihr mit jener fchuldlofen, hingebenden Liebe
gehangen, mit der die Seele des Knaben, des
werdenden Sünglings fi) dem Guten und dem
Schönen, dem Großen wie dem Fremdartigen
zumwendet.
48
Friedrich war eben Student geworden, als
ein Nervenfieber feine Freundin auf ein Kran-
Eenlager warf, von dem fie nicht erftehen follte.
Er und feine Mutter hatten dem niedergebeugten
Manne in ihrer Pflege beigeftanden, Meifter
Brand ihr den Sarg gemacht, fie Alle hatten fie
zu Grabe begleitet und von der Stunde ab, Frau
Brand Mutterftelle vertreten an der Fleinen, ver:
waiſten Reyne.
Eine große Veraͤnderung hatte mit dieſem
Todesfalle in dem Leben des Kindes ſtattgefun⸗
en. Der Vater, der immer mehr in ſich ver:
funfen war, und den die Nachbarn tieffinnig
fhalten, obwohl er nur fehr traurig war, hatte
es nie gebilligt, daB Reyne, wie er es nannte,
über ihren Stand erzogen, daß ihr jenes franzoͤ⸗
ſiſche Weſen angeeignet wurde, durch daS ihre
Mutter fich fremd in Preußen gefühlt. Er hatte
immer dagegen geeifert, wenn man die Kleine
nicht Regina nannte, er hatte die Spielbefuche in
den reichen Familien nie gern gejehen, und ftets
darauf gehalten, daß das Mädchen der Mutter,
49
foweit feine Eleinen Kräfte es gefiatteten, bei
ihren Arbeiten behülflich gemwefen war.
Jetzt nad) dem Tode der Frau Baldig fand
er in Meifter Brand und deſſen Frau eine zu—
flimmende Meinung, und er befchloß, das Kind
zur Deutfchen zu erziehen. Die Kleine follte
zwar dad Andenken ihrer Mutter ehren lernen
im Gebet und Leben, aber fie follte ihr befon-
deres Weſen vergefien, ein Mädchen werben, wie
alle anderen Nachbarstöchter auch.
Friedrich beklagte das. Es fchmerzte ihn,
dag man das Kind feiner Mutter unähnlich zu
machen, daß man ihre mwohlgemeinten und auch
wohlbedachten Pläne zu vereiteln ſtrebte. Er
fonnte ed fich nicht verfagen, die Kleine mit dem
Namen zu rufen, mit dem die Mutter fie ges
nannt, er konnte es nicht laſſen, dad Andenfen
an biefelbe dem Kinde wach zu erhalten, indem
er franzöfifch mit ihm ſprach. Er erbot fi, ihr
Unterricht zu geben, er verfuchte feinen eigenen
Bater fiir eine beffere Ausbildung des Mädchens
zu gewinnen, um Baldig durch ihn Dazu bewe—
gen zu laffen, aber vergeben3.
Wandlungen I. 4
50
»Was für den Sohn des Armen ein Glud
ift, das iſt ein Unglüd für ein armes Mädchen, _
hatte Meifter Brand ihm geantwortet. »Du
kannſt es zu Etwas bringen in der Welt; aber
Regina? — was foll aus der werden, wenn fie.
was gelernt hat?«
»Man brauchte fie nur nicht ihre Mutter:
Sprache abfichtlicd vergeffen zu machen,« entgeg-
nete Friedrih, »um ihr ald Bonne oder Gou⸗
vernante ein befjeres Loos und ein gutes Aus-
fommen zu bereiten!« |
»Ja, wenn fie häßlich wäre! Aber hübfch wie
fie ift und Gouvernante! — Setze ihr nur folche
Dinge in den Kopf und fieh zu, wie Du ed ver-
antworten Fannft!« hatte der Vater gewarnt, und
Friedrich, von dem eigenenZeben mehr und mehr
in Anſpruch genommen, fortgezpgen durch feine
neuen Studiengenoflen, hatte bald ſelbſt nicht
mehr daran gedacht und Regina’d Zukunft nicht
weiter beachtet.
Jetzt, als fie weinend vor ihm fand, ald er
fürchten mußte, das Kind feiner erften und lieb-
ſten Freundin nicht wieberzufehen, kam ein
51
Schmerz über ihn und er fchalt fi, Regina fo
fehr vernachläffigt zu haben. Er hatte fie wohl
lieb gehabt, mit ihr gefcherzt und gegen alle Ver:
bote franzsfifch mit ihr geplaudert, wenn er fie
bei feinen Eltern gefunden, aber wie wenig war
das gegen die Liebe und das Gute, welche Regi-
na's Mutter ihm durch fo viele Sahre bewiefen !
Er betrachtete Regina, ald hätte er fie lange
nicht gefehen, und warb faft mit Erftaunen ihre
feltene Schönheit gewahr. Die Kraft des beut-
fchen Vaters und die lebensvolle Natur der Fran-
zöfin hatten fich in ihr vereinigt. Weit über
ihre Jahre groß und Eräftig, konnte man die
Zwölfiährige Faum noch ein Kind nennen, fo
vorgefchritten war fie an Geift und Körper.
Dürftigkeit und Reichthum, Weberfluß und Man
gel üben öfters einen ähnlichen Einfluß auf die
Kindheit. aus. Sie entwideln fie zeitig; aber
wenn der Ueberfluß die Entfaltung des Geiftes
und der Phantafie befördert, fo Eräftigen Noth
und Mangel bäufig den Verſtand der Kinder
und geben ihnen eine Einficht und eine Energie,
4*
52
die ihrem Alter vorgeeilt, ihren Bebürfniffen an=
gemeſſen find.
Die zwölfjährige Regina verforgte bereits
das ganze Hausweſen des Vaters nad) den Ans
leitungen, die fie von Frau Brand erhielt; fie
verftand feinen Stimmungen zu begegnen, ihn
zu behandeln, ohne daß fie fich deffen felbft be-
wußt war; und wie Friedrich einft als Knabe
der Freund ihrer Mutter gemefen, fo befaß Re—
gina, außer dem Vertrauen ihres Vaters, das
Zutrauen von Frau Brand, die Beide mit ihr
alle Angelegenheiten befprachen und beriethen.
Haudhaltöforgen waren ed auch zunächft,
welche Regina aus ihrer Zraurigfeit emporriffen.
»Was wird nur mit unferen Sachen werden,
Frau Brand?« fragte fie und trodnete fich. die
Augen. »Es fol Alled bier bleiben, nur die
Betten nicht, und wir follen einen großen Koffer
mitnehmen, in den Alles eingepadt wird, was
mitlommen foll.«
»Wie fommt dad denn nach Berlin hin?«
fragte Frau Brand, der jeder Ort außer dem
53
nächften Umkreiſe der Stadt in unerreichbarer
Ferne zu liegen fchien.
Regina wußte ed nicht, hatte aber fo viel
Bedenken, fo viel Angft und fo viel Sorgen in
ihrem armen kleinen Kopfe, fo viel verfchiedene
Einfälle und Vorſtellungen, daß fi in ihnen
Doch deutlich wieder die Natur eined Kindes
verrieth, und endlich lief fie davon, den Vater
zu fragen, ob fie ihre beiden Kaninchen wirklich
zurüdlaffen müffe, wie Friedrich es behauptete.
Als fie zur Thuͤre hinaus war, feßte Frau
Brand fich mieder, ftüßte den Kopf auf den Arm
und feufzte: »So geht’d in der Welt, der Menfch
denkt und Gott lenkt! Daß fie mir das Kind
fortnehmen müffen!-
»Es thut mir auch leid!« fagte Friedrich.
»Gerade darum, Friß!« meinte die Mutter.
»Ich hatte mir immer ausgedacht, daß ich fie
mir fo recht nach der Hand ziehen wollte, recht
zur guten Wirthin! Und fie ift fo geſchickt! Was
ihre Augen fehen, das koͤnnen ihre Hände ma—
chen, gerade wie die Mutter. Es wäre die aller=
befte Frau für Dich geworden! —«
54
»Fuͤr mich?« fragte Friedrich im Tone des
höchften Erftaunend. »Wie kommen Sie dar-
auf?«
»Ein vornehmes Mädchen kannſt Du ja doch
nicht heirathen!«
»Aber ein gebildetes Mädchen !«
»Der würden wir zu fchlecht fein, Fritz! und
dad Fannft Du ja nicht zugeben. Wenn Du
Dir eine Frau nimmft, der wir zu fchlecht wä-
ren — der Water überlebte dad nicht, und es
wäre auch mein Ende! Mir ging's an’d Herz,
wenn Du von und abwendig wuͤrdeſt! Das
Kind haben wir lieb, ed wird ein fchönes Maͤd⸗
chen werden und ein gutes, braves oben ein.
Es wäre die befte Frau fir Dich geweſen!«
Friedrich antwortete nicht. Die Mutter ver-
fland dies Schweigen.
»Regina ift Dir jebt zu fchlecht,« fagte fie,
»und Du warft doch nicht zu tröften, wie ihre
arme Mutter begraben wurde. War die denn
gebildet?«
„Ich war ed damals felbft noch nicht,« ent⸗
gegnete Friedrich.
95
»Ich glaube, Du hatteft damals ein befferes
Herz, Fritz! ich fehe ed fchon lange und der Va-
ter kann wohl Recht haben, die Vornehmheit
macht die Menfchen nicht befler.«
»Muß mich denn heute Alles quglen! Wie
fommen Sie, grade Sie zu diefem Vorwurf,
Mutter?«
»Du bift nicht mehr Derfelbe, der Du gewe⸗
fen bift, Fritz! Wenn ich auch nicht gebildet bin,
fo merk' ich's doch, denn ich hab’ ja Deine Blide
verflanden und gewußt, was Du wollteft und
was Dir fehlte, ald Du noch Feine Sylbe fpre-
hen konnteſt. Du bift nicht mehr Derfelbe, ich
fehe es wohl!«
„Aber was bringt Sie zu diefem Vorwurf,
liebe Mutter? grade Sie?« wiederholte Friedrich
mit einem Zone, in dem feine ganze Liebe für
fie ertönte.
»Ach ja! Du liebft mich wohl,« fagte die
Mutter, »ich verdiene das auch. Aber das ift
auch Alles. Es ift Dir nicht mehr wohl zu
Haufe, Du fommft nur fo, wie Mancher in die
Kirche geht, weil man’d doch eben muß!«
96
»Liebe Mutter,« rief Friedrich und legte ſei—
nen Arm um die Schulter der fißenden Frau,
»ja ih komme, weil ich muß, weil ich wiſſen
muß, wie Sie leben. Wenn ich einen Tag nicht
bei Ihnen gvar, treibt ed mich her, nach Ihnen
zu fragen, nach Ihnen zu fehen.«
»Das iſt's grade,« fiel ihm die Mutter in’s
Wort, »Du willſt fehen, wie es und geht, Du
willft auch hören, ob der Water Arbeit hat,
ob ich Verdruß mit ihm gehabt habe — das
ift Alles wahr; aber wenn Du da bift, haft
Du mir Nichts zu fagen. Es ift nicht mehr
wie fonft!«
»Gute Mutter! Das kommt daher, dab Sie
die Dinge nicht Fennen, die Leute nicht, mit de—⸗
nen ich zu thun habe — «
»Und was wir thun und was die Leute
thun, mit denen wir zu fohaffen haben,« unter-
brach fie ihn abermald, »das kuͤmmert Dich
Nichts mehr !«
Friedrich Eonnte ihr Nichts darauf entgegnen,
er fühlte e8 nur zu tief, wie fehr fie Recht hatte.
Mußte er doch fein ganzes Weſen herabſtimmen,
57
felbft feine Austrudsweife ändern, um den El—
tern nicht in jedem Augenblide die Kluft fühlbar
zu machen, welche fic) mehr und mehr zwifchen
ihnen aufthat. Unfähig, die Mutter zu täufchen,
verfuchte er ed, fie von diefem fchmerzlichen Ge:
danken zu zerftreuen. »Sie lagen, ich hätte Ihnen
Nichts mitzutheilen, liebe Mutter! und doch hätte
ich Ihnen heute viel von der Wahl zu erzählen
gehabt, hätten Sie's nur hören wollen !«
»Ich habe wohl daran gedacht,“ entgegnete fie.
»Du wirft einen ganz neuen Anzug dazu haben
muͤſſen! Wird das nicht fchredliches Geld Eoften,
Fritz ?«
»Gewiß, aber ich haͤtte doch im Fruͤhjahr
zum Examen einen Anzug noͤthig gehabt, und
ein halb Jahr früher — «
»MRuinirt ihn doch fchneller,« unterbrach die
Mutter, »und gerade zum Tanzen, das ftaubt fo
ſchrecklich!«
Friedrich beruhigte ſie daruͤber, aber ſein
Herz ward immer mehr zuſammengepreßt. Es
war ihm, als verengten ſich die Waͤnde, als
ſinke die Balkendecke auf ihn herab, als ſchrumpfe
98
er felbft zufammen. Er Eonnte ed nicht länger
ertragen, er mußte fort.
»Ich komme bald wieder!« rief er zerfireut,
ohne gejagt zu haben, daß er gehen wolle.
Dann gab er der Mutter eilig die Hand‘ und
verließ die Stube. Frau Brand aber begleitete
ihn bi8 zur Hausthür, denn ed war ihr eine
Luft, dem ftattlichen Sohne nachzufehen, foweit
ihr Auge ihn erreichen konnte.
Als fie in der’ Thuͤre flanden, nahm fie ihn
bei der Hand und hielt ihn zurüd, als hätte fie
ihm noch Etwas mitzutheilen, und fchwieg den⸗
noch. Friedrich merkt ed. »Wollen fie mir Et-
was fagen?« fragte er freundlid. »Haben Sie
etwas auf dem Herzen, liebe Mutter?«
»Nein, Fritz! Nichts, gar nicht& habe ich.
Es fiel mir nur fo ein, wenn Du jest fo viel
Ausgaben haft, wirft Du am Ende die Sterbe: .
kaſſe nicht bezahlen Eönnen !«
»Wie Eönnen Sie das denken!« rief er, und
die Mutter entließ ihn mit freundlichen Worten,
nun fie fich über diefen Punkt beruhigt wußte;
denn nach mühevollem Leben fchidlich, ja für.
| er
59
ihre Verhaͤltniſſe prächtig beerdigt zu werden, ift
faft immer dad Verlangen der Armen, und die
wöchentliche Beifteuer zur Beerdigungskaſſe ihnen
eine Herzens- und eine Ehrenfache.
»Er fol fih doch nicht zu fehämen haben,
wenn er einmal nach dem Kirchhof hinter ung
bergehen wird!« fagte Frau Brand, ſchloß die
Hausthür und ging in die Stube zurüd.
Viertes Kapitel,
Schnellen Schrittes, als entfliehe er einem Ge⸗
fängniffe, tief aufathmend, als werfe er eine ſchwere
Bürde von fih, eilte Friedrich die Eleine enge
Straße entlang von dem Haufe feiner Eltern
fort, und doch liebte er feine Eltern.
Keine Woche war ihm feit Jahren vergangen,
in der er nicht ähnliche Scenen, ähnliches Weh
zu durchleben gehabt, aber immer wieder zerriß
eö fein. Herz, immer wieder drüdte ihn der Zwie-
fpalt diefer Verhältniffe nieder. Der Vater. be-
neidete dem Sohne feine höhere Bildung, die
Mutter fürchtete fie, und weder der harte Sinn
des Einen, noch der befchränfte Sinn der Anderen
61
Gen jemals eine dauernde Verftändigung zwi-
hen ihnen und dem Sohne voraudfehen. Die
;ebe ber Eltern hatte ihm den höheren Lebens⸗
eg eröffnet, die Selbftfucht der Elternliebe fuͤrch⸗
te ihn auf diefem Wege zu verlieren. Vorwärts
trieben von dem Drange feines Geiftes, von
len Bedürfniffen feiner Bildung; zurüdgezogen
yn denen, die ed winfchten ihn vorwärtöfchreiten
ı feben, litt Friedrich's weiche Seele doppelt
»wer Davon.
Berftiimmt war er ein paar Straßen entlang
»gangen, ohne eigentlich zu willen, wohin er
olle, ald es ihm wieder einfiel, er habe Heiden-
ud verfprochen, um fünf Uhr zu ihm zu fom-
en, um einige Verabredungen mit ihm zu tref-
n. Friedrich und Heidenbrud waren fich häufig
‚gegnet, ohne fich näher getreten zu fein. Sie
‚hörten verfchiedenen Verbindungen an, hatten
»rfchiedene Umgangskreife und Friedrich’ zurüd-
ıltendes Weſen hinderte ihn, fchnell und leicht
zekanntſchaften zu machen.
Als er fih dem Heidenbrud’fhen Haufe
iherte, fah er ein paar Equipagen vor demfel-
62
ben halten. Das erfte Stodwerf war glänzend
erleuchtet, das Licht fiel hellftrahlend durch die
gefenkten Vorhänge auf die Straße herab. Er
wollte nicht hineingehen und that ed dennoch;
Heidenbrud follte ihn nicht unpünfktlich glauben
dürfen.
Er fragte den Portier nach dem Studivſus
Heidenbrud.
»Der Herr Baron find noch bei Tafel!« ent:
gegnete dieſer abweifend.
»So fagen Sie ihm, daß ich bier gemefen
bin und ihn bitten laffe, morgen früh zu mir zu
fommen; mein Name ift Brand!«
»D verzeihen Sie!« rief der Portier plößlich
fehr höflich geworden, »ich fol Herrn Brand er-
fuchen, den Herrn Baron zu erwarten. — Wil⸗
beim, führen Sie den Herrn nad) des jungen
Herrn Stube!«
Ein Knabe, in derfelben Livree wie der Por-
tier, erfchien und bat Friedrich, ihm zu folgen.
Treppen und Flur waren erleuchtet, auf den wei-
chen Teppichen fchritt man unhörbar hinauf. Im
erften Stode vernahm man aus dem Speifefaale
63
— — — — —
das heitere Gewirr verſchiedener Stimmen, durch
die ein leiſes Klappern der Geraͤthe klang. Man
geleitete ihn zur zweiten Etage, die niedriger und
weniger hell erleuchtet war und oͤffnete ihm eine
Thuͤre zur rechten Seite des Flurs.
Er trat in ein maͤßig großes Zimmer.
Eine Lampe brannte, den Bewohner erwartend,
auf dem Tiſche. Friedrich ging auf und ab und
betrachtete den Raum. Das weich gepolſterte
Sopha, die geſtickten Kiſſen, der dicke Fußteppich
und vollends ein Schlafrock von violettem Sam⸗
met mit hochgelber Seide gefuͤttert, der nachlaͤſſig
uͤber die Sophalehne geworfen war, machten ihm
einen Eindruck weibiſcher Verweichlichung; und
doch kannte er Heidenbruck als eine tuͤchtige,
maͤnnliche Natur. An der einen Wand ſtand
eine Buͤcherſpinde, als Gegenſtuͤck an der anderen
ein Waffenſchrank. Neben den Hiebern und Fecht⸗
handſchuhen hingen Hirfchfänger, aſiatiſche Dolche
und ein Paar Piftolen von großer Schönheit.
Der Degen, die Epaulettd und der Federhut des
Landwehroffiziered lagen dazwiſchen. — Der
Schreibiif war mit jenen überflüffigen Noth—
64
wendigfeiten ausgeftattet, deren Gebrauch Friedrich
zum Theil räthfelhaft war; vor dem Spiegeltifch
ftanden ein Handſchuhkaſten und Parfüms; und
doch waren juriftifhe Bücher in folcher Weiſe
auf dem Schreibtifche ausgebreitet, daB man
jehen konnte, der Bewohner fei viel mit ihnen
befchäftigt geweſen.
Eine Weile unterhielt fich Friedrich mit dem
Befehen diefer verfchiedenen Dinge. Ihre Man
nigfaltigfeit und Schönheit reizten ihn, aber die
Zufammenhäufung fo vieler Luruögegenftände er-
regte ihm ein peinliches Gefühl, ein Mißbehagen,
Das fich auf den Befiger überzutragen und durch
das lange Warten fich mehr und mehr gegen die-
fen zu wenden begann. Friedrich fand ed ruͤck⸗
fihtölos, er nannte es eine ariftofratifche Unver⸗
fhamtheit, Iemand in einer Stunde zu fich zu
entbieten, in der man feiner Zeit nicht Herr
ſei. Er dachte an die Worte feines Vaters:
»Sie werden es Dir nicht vergeflen, daß Du des
Tifchlerd Sohn bift,« und er fagte fih, Heiden-
brud würde keinem Evelmanne eine folche Ges
duldyrobe zuzumuthen wagen. Er wollte fie auch
N
65
nicht Yänger beftehen und nahm eben feine Müße
fih zu entfernen, ald er in dem untern Zimmer
dad Rüden von Stühlen, das Hin= und Herge⸗
ben hörte, welche das Ende der Tafel bezeichneten.
Nun mußte er eilen davonzukommen, follte Hei-
denbrud ihn nicht mehr finden, wollte er ihm
feine Rüdfichtölofigkeit begreiflich machen.
Er wendete ſich zu geben, da oͤffnete fich die
Thüre und Heidenbrud trat eilig ein. Mit großer
Freundlichkeit reichte er Brand beide Hände zum
Willkommen entgegen. »Wie gut ift ed, daß Du
gewartet haft, Brand !« fagte er, »ich wußte Nichts
von dem Diner, ald ich Dich zu kommen bat,
und dachte nicht, Daß ed fo lange dauern würde.
Nun fei mir aber herzlich willfommen !«
Damit warf er den Schlafrod vom Sopha
herunter, nöthigte Brand zum Sigen, holte eine
Gigarrenkifte herbei und fuchte es feinem Gafte
auf jede Weife behaglich zu machen. Friedrich
empfand dies Wohlwollen und doch war ihm die
Art und Weiſe Erich's nicht ſtudentiſch genug.
Er hatte ihm fonft an dritten Orten befler gefal-
Wandlungen. L 5
66
len, alö bier in feinem Haufe mit den Gewohn⸗
heiten des MWeltmannes.
Die Unterhaltung wendete fich gleich den Bäl-
len zu und Erich fagte: »Ich war fehr froh,
daß fie Dich wählten, denn ich dachte, ed müffe
und zufammenbringen und ich geftehe Dir, ich
habe lange einen Zug zu Dir gehabt.«
Friedrich war von diefer Sreimüthigfeit über:
rafcht. Er hatte dafjelbe Gefühl gehegt, auch er
hatte ftetS eine gewifle Neigung, ein Intereſſe
für Heidenbrud gefühlt, aber er hatte dem rei-
chen, vornehmen jungen Manne nie den erften
Schritt entgegenthun mögen, hatte nicht gefehmei-
chelt fcheinen wollen durch Erich’ hie und da
verfuchte Annäherungen, und noch in diefer Stunde
vermochte er ed nicht, ihm auözufprechen, dag
er fein Empfinden theile.
»Warum haft Du mich niemald aufgefucht?«
fragte er Erich.
»Ich habe es gethan, aber e& ſchien mir, als
hätteft Du es nicht beachten wollen.« °
Der Zon, mit welchem er diefe Worte fprach,
hatte eine fo kindliche Gutmüthigfeit bei aller
N
67
männlichen Offenheit, daß Brand fich tief davon
ergriffen fühlte. Erich fand plöglich feinem Her-
jen nahe, feine gewohnte Zurüdhaltung ſchmolz
vor dem warmen Strom ber fiebe, die den Grund:
zug feined Wefend machte. Er mußte fich zu:
fammennehmen, daß ihm die Thränen nicht in's
Auge traten. Noch vor wenig Sekunden hatte
er Heidenbrud eines unverfchämten Duͤnkels an-
geklagt, und jebt nannte derfelbe Heidenbrud ſich
ohne Hehl verfchmäht von ihm.
Mit einer Leidenfchaftlichkeit, die Erich nicht
verftehen Eonnte, weil ihm Friedrich’d Gedanken:
gang verborgen war, ergriff diefer feine Hand.
»Vergieb mir!« rief er aus; »ja, ich habe es ge:
eben, daß Du mich fuchteft und ich habe es nicht
beachten wollen!«
Das Geficht des jungen Barons verbifterte
fi, er z0g die Hand zurüd. »O! werde nicht
ime an mir!« riefriedrich, »werde nicht irre an
mir! Du wirft es begreifen, wenn du mich Eennft.
Du denkſt nicht befier von mir, als ich von Dir!
sh würde Dich gefucht, um Deine Freundfchaft
68
allein gerungen haben unter den Hunderten,
mit denen wir leben, wärft Du —«
Er hielt inne, Erich fah ihn befremdet an,
»wäre ich?« wiederholte er — »Wärft Du arm
gewefen und kein Edelmann!« rief Friedrich mit
einer Anftrengung, die ihn erbleichen machte.
Erich's Wangen loderten in heller Röthe auf
und fanft und ftolz zugleich fagte er: »Das ift
Fleiner, ald ich von Dir dachte!«
»Ich weiß dad, Heidenbrud! aber ed giebt
Beengungen, in denen man nicht groß werden,
nicht wachfen kann. Laß uns heute nicht davon
fprechen! Heute nicht! ich habe heute feinen gu=
ten Tag gehabt, bis ich Dich fand!«
Erich fah den Schatten des Leidens, den die :
Erinnerung an die Scenen im Vaterhauſe über ’
Friedrich's Züge warf, und ehrte ihn fchweigend. !
Nach einer Paufe fagte er, indem er feinem Gaſte A
die Hand bot. »Wir haben und gefunden und -?
wollen einander nicht verloren gehen!« und ehe
er die Worte noch beendet, hatte Friedrich ſich
an feine Bruft geworfen. Erich drüdte ihn feſt
an's Herz. Dann ließ er ihn los, fah ihm heiter JE
5 Tr
69
ind Angeficht und fprach lachend: »Heute ift
mir’8 gegangen, wie bem Saul, der audzog, fei-
ned Vaters Efelin zu fuchen und dem ein König-
reich zu Theil ward. Statt Ballangelegen-
beiten zu berathen, finde und gewinne ich das
Einzige, was mir außer einer Geliebten fehlte,
einen erfehnten Freund! Aber Du bift Theolog,
Du bift gewiß verlobt?« fragte er fcherzend.
Friedrich verneinte ed. Darüber hatte der
Andere eine große Freude, denn er behauptete,
dag Liebe die rechte Sreundfchaft nicht neben ſich
gedeihen laffe, »und ich bin eiferfüchtig,« fagte er.
Die Unterhaltung nahm nun eine allgemeine
Wendung ; die bevorftehenden Bälle, die Wahl
der Chapeaur d’honneur wurden befprochen und
doch tauchte immer wieder dazwifchen die Freude
auf, welche die beiden Sunglinge an ihrer An-
näherung empfanden. Bei Friedrich verrieth es
bie und da ein leifes, faft fchüchtern zurüdgehal-
tened Wort, während Erich fich voll dem Zuge
feines Empfinden überließ und jugendlich froh
mitten in den Gefprächen ausrief: »Ich freue
mich, Daß Du viun bei mir bift!«
70
So fihwand die Beit dahin, die Uhr in Erich's
Zimmer fchlug acht, ed war dieXheeflunde feiner
Eltern. »Komm mit hinunter zu den Meinen,«
bat er, »fie werden fich freuen, Dich zu fehen,
und befuchen mußt Du fie ja doch, der Bälle
wegen!«
Sriedrich machte Einwendungen. Er meinte
nicht im Ueberrock erfcheinen zu dürfen. Sein
Freund wußte das zu widerlegen. »Der Sonntag
ift unfer Familientag, es ift Abends Feine geladene
Sefelfchaft da. Du findeft Doctor Bernhard
und andere Freunde unferes Hauſes, aud) Larſſen
pflegte ftetd zu kommen — aber freilich thut der
eö niemald ohne Frack!« fügte er lächelnd hinzu. --
»Larflen?« fragte Friedrih im Zone Des.
Zweifels.
»Er war Zehrer in unferem Haufe und er ift; '
eine treue, ehrliche Haut. Wir halten viel auf:”
ihn!« erklärte Heidenbrud, nahm Friedrich untert*
den Arm und führte ihn in den Salon hinab.
D%
a
Fünftes Kapitel,
Auf dem Sopha an der Hauptwand faß die
Baronin, eine hohe, würdige Geftalt; ihr gegen-
über machte Gornelie, die zweite Tochter, den
Thee. Sie war, obfehon nur fiebzehnjährig,
groß wie ihre Mutter, aber nicht fo ſchoͤn, als
diefe es in der Jugend gewefen fein mußte. Ihre
Gefichtöformen waren zu mächtig auögeprägt,
ihre Augenbrauen fehr ſtark für ein fo junges
Mädchen und das reiche ſchwarze Haar gab ihr,
bei ihrem ohnehin dunkeln Zeint, einen ernften,
faft finfteren Ausdruck.
Helene, die ältere Schwefter, lag auögeftredt
in einem niedrigen Seflel vor dem Kamine, def-
70
So ſchwand die Zeit dahin, die Uhr in Eı
Zimmer ſchlug acht, es war die Theeftunde fi
Eltern. „Komm mit hinunter zu ben Mein
bat er, »fie werben fich freuen, Dich zu fi
und befuchen mußt Du fie ja doch, ber Q
mwegen!«
Friedrich machte Einwendungen. Er m
nicht im Ueberrod erfcheinen zu dürfen. 1
Freund wußte das zu widerlegen. »Der Son
ift unfer Familientag, es ift Abends Feine gela
Gefelfhaft da. Du findeft Doctor Bern
und andere Freunde unferes Haufes, auch La
pflegte ftetö zu kommen — aber freilich thu
es niemals ohne Frad!« fügte er Lächelnd F
»Larfien?« fragte Friedrich im Tone
Zweifels.
»Er war Lehrer in unferem Haufe und
eine treue, ehrliche Haut, Wir halten)
ihn!« erflärte Heidenbruck,
den Arm und |
73
dem Weltgemohnten immer bei dem BBeginne
einer Unterhaltung zu Gebote ftehen und die dem
Reuling fo wohlthuend find; eine fpielende An:
gelruthe für den, der fie auögiebt, ein haltender
Hafen für den, der fie empfängt.
Auch fühlte fich Friedrich gegen fein Erwar:
ten ſchon nach wenig Xugenbliden von der Scheu
befreit, mit welcher er in dieſen Kreis getreten
war, denn er fand fich von einer Aufmerkfam-
feit umgeben, die ihn in feinen eigenen Augen
bob. Die Angelegenheit, welche ihn mit Erich
zufammenführte, die Studentenbälle, erregten ber
Familie des Lesteren um Erich's willen eine große
Theilnahme, und die Ausfichten, welche die bei:
den jungen Männer hatten, jene Fefte mehr oder
weniger glänzend zu Stande zu bringen, wur:
den von der Baronin und von Erich's Schwe:
ſtern ernfthaft in Erwägung gezogen. Dadurd)
lenkte fich die Unterhaltung dem Leben der Stu:
direnden im Allgemeinen zu, und der Baron
machte, gegen den Fremden gewendet, Die Bemer-
tung, daß die Art der deutfchen Univerfitätsbil:
dung und das Leben der deutfchen Studenten
70
So ſchwand die Zeit dahin, die Uhr in Erich’s
Zimmer fehlug acht, ed war die Theeſtunde feiner
Eltern. »Komm mit hinunter zu den Meinen,«
bat er, »fie werden fich freuen, Dich zu fehen,
und befuchen mußt Du fie ja doch, der Bälle
wegen!«
Sriedrich machte Einwendungen. Er meinte
nicht im Ueberrod erfcheinen zu dürfen. Sein
Freund wußte das zu widerlegen. »Der Sonntag
ift unfer Familientag, ed ift Abends keine geladene
Gefelfchaft da. Du findeft Doctor Bernhard .
und andere Freunde unferes Haufes, aud) Larſſen :
pflegte ftets zu kommen — aber freilich thut der .
eö niemald ohne Frack!« fügte er lächelnd hinzu. {
»Larflen?« fragte Friedrih im Tone des \
Zweifels. N
»Er war Zehrer in unferem Haufe und er PR
eine treue, ehrliche Haut. Wir halten viel auf:
ihn!« erklärte Heidenbrud, nahm Friedrich unter
den Arm und führte ihn in den Salon hinab. :
75
mit fo farkaftifchem Zone, daß Ale, mit Aus:
nahme ber beiden Stubenten, zu laden be-
gannen. |
Erich und Friedrich aber fühlten fi), Jeder
auf feine Weife, verlegt von dem Spotte des
Grafen, und Friedrich bemerkte: »Es ift wenig:
ſtens bis jebt Die einzige Inftitution in Deutfch-
land, in welcher der Grundfa& einer volllomme:
nen Gleichheit aller Stände vertreten und auf:
recht erhalten wird.« Als er aber diefe Worte
durch die Stille dieſes Saales tönen hörte, klan⸗
gen fie ihm wie ein Widerfpruch gegen die An-
wefenden und fo fremd dem Orte, daß er meinte,
ein Echo müffe fie von allen Wänden zunidtö-
nen laſſen und wiederholen.
Auch nahm der Graf, an den fie gerichtet
waren, fie mit feinem früheren Lächeln auf. »Das
Princip der Gleichheit,« wiederholte er, Die Worte
wägend, und fie fcharf ald Etwas betonend,
defien Tragweite man anzudeuten wünfcht. »Ia!
es wird aufrecht erhalten, wie man es in einem
Badeorte aufrecht erhält — — fo lange die Sai-
fon dauert!«
66
len, als hier in feinem Haufe mit den Gewohn⸗
heiten des Weltmannes.
Die Unterhaltung wendete fich gleich den Bäls
len zu und Erich fagte: »Ich war fehr froh,
daß fie Dich wählten, denn ich dachte, es müfle
und zufammenbringen und ich geftehe Dir, ich
habe lange einen Zug zu Dir gehabt.«
Friedrich war von diefer Freimuͤthigkeit über-
raſcht. Er hatte daffelbe Gefühl gehegt, auch er
hatte ftet? eine gewifle Neigung, ein Intereſſe
für Heidenbrud gefühlt, aber er hatte dem rei-
chen, vornehmen jungen Manne nie den erften
Schritt entgegenthun mögen, hatte nicht gefchmei-
chelt fcheinen wollen durch Erich's hie und da
verfuchte Annäherungen, und noch in diefer Stunde
vermochte er es nicht, ihm auszuſprechen, daß
er ſein Empfinden theile.
»Warum haſt Du mich niemals aufgeſucht?«
fragte er Erich.
»Ich habe es gethan, aber es ſchien mir, als
haͤtteſt Du es nicht beachten wollen.«
Der Ton, mit welchem er dieſe Worte ſprach,
eine ſo kindliche Gutmuͤthigkeit bei aller
67
männlichen Offenheit, daß Brand fich tief davon
ergriffen fühlte. Erich fland plößlich feinem Her⸗
zen nabe, feine gewohnte Zurückhaltung ſchmolz
vor dem warmen Strom der &iebe, die den Grund:
zug feined Weſens machte. Er mußte ſich zu:
fammennehmen, daß ihm die Thränen nicht in’
Auge traten. Noch vor wenig Sekunden hatte
er Heidenbrud eines unverfchämten Dünfeld an⸗
geklagt, und jest nannte derfelbe Heidenbrud ſich
ohne Kehl verfcehmäht von ihm.
Mit einer Leidenfchaftlichkeit, die Erich nicht
verftehen Eonnte, weil ihm Friedrich's Gedanken:
gang verborgen war, ergriff diefer feine Hand.
»Vergieb mir!« rief er aus; »ja, ich habe es ge:
fehen, daß Du mich fuchteft und ich habe es nicht
beachten mwollen!«
Das Geficht des jungen Barons verdifterte
fi), er 309 die Hand zurüd. »O! werde nicht
irre an mir!« riefriedrich, »werde nicht irre an
mir! Du wirft es begreifen, wenn du mich Eennft.
Du denkt nicht beffer von mir, als ich von Dir!
Ich würde Dich gefucht, um Deine Freundfchaft
78
Wendung brachte er das Gefpräc von den deuffchen
Studenten auf die deutfche Literatur, auf ein Feld,
in dem alle Anwefenden, felbft Erich und Friedrich,
ihm überlegen fein mußten. Er wußte, wie leicht
man Jemand gewinnen kann, der ſich und gegen-
über behaglich und ald der Gebende empfindet.
Für den Strafen befchränkte fich die deutſche Li⸗
teratur auf Klopfiod, Schiller und Goethe. Das
Klopſtockſſche Deutſch war ihm, wie er offen ge
ſtand, vollkommen unverftändlich und Klopſtock's
religioͤſe Anfchauung dem Verehrer Voltaire's
fremd. Schiller, den der Convent würdig geach⸗
tet, ein Mitglied der franzöfifchen Republid zu
“fein, hatte von jeher ſchon um dieſes Grundes
willen dad Mißtrauen des Grafen erregt, und
der rüdfichtölofe Idealismus des Dichters, der
über alle Convenienz hinaus den Gedanken freier
Menfchlichfeit geltend machen wollte, mußte ihm
als. eine unpraftifhe Schwärmerei erfcheinen,
deren Einfluß auf die Jugend er für gefährlich
hielt. Goethe allein von allen beutfchen Dichtern
war ihm ein Gegenftand der Hochachtung.
Mit einer ihm feltenen Wärme pried der
79
Graf den greifen Dichterfürften als den Dichter
der Wirklichkeit, der die Wahrheit und die Schön-
heit nicht jenfeitd der Grenzen der Vernunft er⸗
blide. »Was ihn fo erhaben macht und was
zugleich fo wohlthuend, fo beruhigend in feinen
Schriften wirkt,« fagte er, »das ift die Klarheit,
mit der er ‚die Welt wie fie ift“ betrachtet, das
richtige Licht, das er über die Gefege der Gefell-
{haft verbreitet, in der für Jeden der Platz
vorhanden iſt, den er einnehmen fan, wenn er
eben nur den begehrt, den er auszufuͤllen beftimmt ift.
Er ift der Dichter des Friedens und der Berfühnung,
und es ift zweifellos, daß Sie die Weisheit Ihres
größten Dichter den wuͤſten Erfahrungen ver:
danken, welche unfere unglüdliche Revolution
ihn machen ließ.«
Trotz der Acht franzöfifhen Schlußfolgerung
des Grafen, machte fein Lob Goethe's einen gu⸗
ten Eindrud auf den Baron, deſſen Anſchau⸗
ungsweiſe in Betreff der Goethe'ſchen Werke
nahe mit der bed Grafen zufammentraf. Er
ſtimmte ihm vollfommen bei, und erklärte, daß
der Werther, der Wilhelm Meifter und die Wahl:
80
verwandtfchaften für alle Zeiten Mufterromane
bleiben und vielleicht niemals ihres Gleichen fin⸗
den würden.
»Fuͤr alle Zeiten?« wiederholte der Doctor
im Tone des Zweifels, »es giebt Nichts in der
Welt, das für alle Zeiten daſſelbe wäre!«
Diefe Worte wurden mit jener Ruhe gefprochen,
welche einen Hauptcharafterzug des Doctors
machte, dennoch wirkten fie auf Friedrich wie ein
Signal zur Befreiung, wie ein Aufruf zu einem
Kampfe, an dem Xheil zu nehmen er tro&ß fei-
ned Verlangens fich nicht befugt geglaubt hatte.
»Alfo leugnen Sie, daß es in der Kunft ein
Abfolutes giebt?« fragte der Baron.
»Unbedenklich!« entgegnete der Doctor. »Das
wirklich Große, das, was in feiner Beit allen
Anfprüchen derfelben genügte, was ihren ganzen
geiftigen Gehalt in fi) zur Anfchauung brachte,
das wird, fei ed nun ein Werk der Malerei, ber
Bildhauerkunſt oder der Dichtung, für alle Zei⸗
ten eine Bedeutung behalten; wir werden darauf
fortbauen, e8 wird maßgebend, lehrreich, begei«
fternd für uns bleiben, aber ein unbedingtes Mu⸗
81
ſter, das ewig und allein Berechtigte kann es
nicht fein. Das hieße den Zortfchritt der Menfch-
beit leugnen !«
Der Baron, der den Doctor fehr verehrte,
ſchwieg einen Augenblid nachdenklich, dann fagte
er: »Ich wäre begierig, den Dichter zu Eennen,
der einft über Goethe hinausgehen wird. Wir
werden Muße haben, denke ich, uns an Goethe's
Werken zu erfreuen, ehe er fich findet!«
»Er kann fich aber finden,« meinte Friebrich,
»wenn ‘bie Menfchheit, im Allgemeinen freier ge⸗
worden fein wird, als fie ed war, da Goethe
feine großen Werke fchuf!«
Diefe lebhafte, jugendliche Behauptung flach fo
auffallend gegen Friedrich’ bisherige Zurüdhal-
tung ab, daß die Anderen ihn mit Erſtaunen an-
bliften, während der Doctor ihm zuftimmend
mit dem Kopfe winkte. Dadurch ermuthigt und
von feinen Empfindungen hingeriffen, fuhr" er
fort: »Bei aller Wahrheit des Wertherö, bed
Meifters, der Wahlvermandfchaften, deren ganze
Ziefe ich wohl nicht einmal ermeſſen Tann, weil
mir die Kenntniß der Geſellſchaft fehlt, in der
Wandlungen. I. 6
82
fie ſich bewegen, find fie doch eben nur das Bild
dieſes Xheild der Gefellfchaft, einer Welt der
Ausfchließlichkeit, ihrer Leiden und Freuden, und«
— — fügte er plößlich flodend, dann aber fich
mit einer ſcheuen Haft zum Sprechen zwingend
hinzu — »und es giebt noch eine andere Welt
hienieden außer diefer Einen!« —
Friedrich litt von feinen eigenen Worten,
während er fie fprach, und doch vermochte er fie
nicht zurüdzubrängen. Er empfand ed, daß er
plößlich der Gegenftand der allgemeinen: Auf:
merkſamkeit geworden fei, und biefe Beachtung
machte ihn verlegen. Die engen Verhältnifie,
in denen er erwachfen war, hatten ihn vor Zerſplit⸗
terung feiner geiftigen Kräfte bewahrt, feinen Ge⸗
danken Zeit und Ruhe gegeben, fih aus ftiller
Tiefe audzubreiten, ruhig fortzufchreiten von
Schluß zu Schluß, bis er zu jenen Bliden und
Zweifeln gefommen war, bie ihn dad Unhalt-
bare der beftehenden flaatlihen und gefelligen
Zuftände ım Gegenfage zu den natürlichen, bes
rechtigten Forderungen des Menfchen ahnen lie⸗
fen. Jetzt indeffen, da er auf dem Punkte ftand,
83
diefe Ueberzeugung in einem Kreife auszufprechen,
deſſen Vorrechte fie antaftete, erfchraf er vor dem
Unternehmen. Die anerzogene Ehrerbietung vor
den Reichen, den Vornehmen lähmte ihn. Eine
dunkle Röthe flog über fein Geficht, aber ed war
niht Scham, welche fie hervorgerufen, fondern
der Zorn gegen fich felbft, der Zorn gegen bie
Berhältniffe, welche ihm eine folche ſtlaviſche
Befangenheit eingeimpft hatten.
Der Doctor errieth den Zuftand, in welchem
fi Friedrich befand, und Fam ihm theilnehmend
zu Hülfe »Sie haben Reht, Herr Brand!«
fagte er, »die Goethe'ſchen Romane haben darin
ihre Schranfe, daß fie mehr oder weniger auf Die
Abftraction vom Leben, auf den fchönen Schein
des Lebens gearbeitet find. Sie verhalten ſich
zur Wirklichkeit, wie die griechifchen Götterbilder
zur menfchlichen Geftalt, wie Rafael’ typijche
Menfchengeftalten zum individuellen Portrait.«
»Sie werden aber zugeben, lieber Doctor,«
fiel ihm der Baron in dad Wort, »daß diefe
Behandlungsweife der WirklichFeit die edelfte und
angemeflenfte, die eigentlich Elaffifche iſt, wie ja
6*
84
auch Ihre Hindeutung auf die Antike und auf
Rafael dies fchon zugiebt.«
»Fuͤr eine beftimmte Klaffe von Romanen,«
entgegnete der Doctor, »ift, oder war vielmehr,
jene Darftelungsart nicht nur die berechtigte,
fondern die geforderte; für den Roman der Bil-
dungsleiden der bevorzugten Stände, um die fich
dad Intereffe jener Zeit faft ausfchlieglich bewegte.
Die Darftelungsweife der Goethe’fchen Romane
ift ganz und gar ariftofratifh, und fie wird uns
möglich, fobald man fich von den Leiden und
Sreuden des MWohlhabenden, bes bevorzugten
Menfhen, zur Bildungsgefhichte der Menfchen
im Allgemeinen wendet, wie fie fich in den verfchie-
denen Perfönlichkeiten der Stände darftellt, "welche
noch andere als Seelenfämpfe zu beftehen haben.«
„Aber glauben Sie, Herr Doctor!« fragte der
Graf, »daß jene Kämpfe der niederen Stände um .
ihr äußeres Dafein, daß jene alltäglichen Miferen
überhaupt eine poetifche Behandlung zulaffen,
die fi) über die Art der ffizzenhaften Beleuch⸗
tung erheben koͤnnte? Was Tönnen die Leiden
eined armen Handwerkers, einer kleinen Näherin,
85
die mit der harten Wirklichfeit um ihr täglich
Brot zu ringen haben, fur eine große, voetifche
Bedeutung bieten? Goethe bat dad wohl ge⸗
fühlt, und deshalb, duͤnkt mid), die Behandlung
von Motiven vermieden, welche einer Idealiſi⸗
rung, wie die Kunft fie erheifcht, nicht fähig
waren. Im Kampfe um dad tägliche Leben
liegt keine Schönheit, keine Poefie.«
Ein Blick des Zornes leuchtete in Friedrich’s
Augen, und mit fefler Stimme fagte er: »Die
vornehme Welt, in der die Goethe'ſchen Romane
ih bewegen, weiß freilich) von der Sorge um
das tägliche Brot noch weniger, als die leicht-
lebenden Götter Homer's, die denn doch das
mühfelige Ringen des Erdgebornen wenigftens
ihrer Theilnahme nicht für unwerth bielten.«
Und während er das ſprach, begegneten ſich
die Blide des Studenten und des Grafen mit
einem Ausdrud der Abneigung, welche diefe bei:
den durch ihr Alter und ihre Stellung fo weit
getrennten Männer, feit dem erften Augenblice
gegen einander empfunden hatten. Es mar etwas
86
Unvereinbared zwifchen Friedrich's unterbrüdtem
Selbfigefühl und dem fcharf hervortretenden Hoch-
muthe ded Grafen, und der fichtlihe Antheil,
den die Baronin und ihre Töchter, trotz ihres
Schweigend, an dem Jünglinge zu nehmen bes
gannen, trug nicht dazu bei, ben Grafen gegen
ben Sreimuth defjelben, den er al& eine unberech⸗
tigte Anmaßung tadelte, milder zu flimmen.
Und wieder war ed der Doctor, ber die Ver:
mittelung zwiſchen Friedrich's Morten und den
Anfichten des Grafen übernahm. »Ich glaube,
Ihr Irrthum, Herr Graf,« fagte er, »befteht da⸗
rin, daß Sie überfehen, wie die Stimmung und
das Intereſſe unferer Zeit fich gerade den Leiden
der Stände zuzumenden beginnt, welche Sie von
demfelben auögefchloffen glauben. Damit aber
ift die Aufgabe und die Bedeutung ded Romanes
eine wefentlich verfchiedene geworben. Sobald
der Roman fi) aus dem Bereich des befriedig-
ten Bebürfniffes in den Bereich des zu befriedi-
genden wendet, wird ber Roman des fchönen
Sceind, die typifche Behandlung deſſelben, zu
einer Unmöglicheit, ber Roman der harten
87
Wirklichkeit und der fcharfen Individualiſirung
zur Nothwendigkeit.«
»Es ift etwas Wahres darin,« pflichtete die
Baronin, welche biß dahin eine ſtumme Zuhöres
rin geblieben war, dem Doctor bei, »denn wir
fehen in ben Goethe'ſchen Gompofitionen, wie
fehr er es vermieden hat, dad Beburfnig an
feine Helden und Figuren herantreten zu laffen,
um die reine Atmofphäre vornehmer Ruhe zu
erhalten, in ber fid) Alles und Jeder bewegt.«
»Das kannft Du nicht fagen,« wendete der
Baron ein. »Du findeft den Architekten, Du
findeft Gärtner, Bauern, Schaufpieler, den Harf-
ner und viele andere Geftalten in den Dichtun:
gen, denen die Sorge um des Lebens Nothdurft
nicht fremd geblieben ſein kann!«
»Aber bei allen dieſen Menſchen iſt das Be⸗
duͤrfniß in dem Augenblicke, in dem wir ſie vor
und handelnd erblicken, befriedigt, lieber Vater!«
bemerkte Erich, der ſich zu den Anſichten des
Doctors und ſeines neuen Freundes neigte.
»Doch nicht bei den Schauſpielern und dem
Harfner,« wendete der Baron ein.
88
»Gewiß nicht!« fagte der Doctor, »aber ges
rade aus der Wahl diefer Geftalten können Sie
fehen, wie Goethe es zu vermeiden wußte, Die
Noth bitter erfcheinen zu laſſen. Jene Architel-
ten, Bauern, Gärtner, deren Sie erwähnten,
find, wie Erich richtig bemerkte, Alle wohlver-
forgt im Dienfte großer Herren; der Harfner ift
ein Geifteöfranfer, der flumpf geworden ift gegen
die äußere Noth des Lebens, und die Schaufpier
ler wiflen fih durch Schuldenmachhen und Nicht:
bezahlen vor eigentlihem Mangel zu fcehügen..
So tief Goethe ald Menſch für die Noth feiner
Mitmenfchen empfand, fo fehr er in feinem Amte
ald Minifter ihr ſtets abzuhelfen fuchte, fo ent
fhieden hat er die Welt der’ Dichtlunft in der
Melt der fatten Bildung gefucht, und darin liegt
fein Zufammenhang mit der romantifchen Schule, .
die Anfchauung, welche ihn in gewiflem Sinne
von den Beftrebungen der Nachwelt trennen
koͤnnte.«
Der Baron gab das, wenn auch mit Bedin⸗
gungen zu, und bie Baronin, welche ftetd einen
auögleichenden und verfühnenden Abfchluß der
89
Unterhaltung herbeizuführen liebte, fagte: »Was
Sie auch gegen die Goethe'ſchen Schöpfungen,
als Mufterromane, einzuwenden haben, fo werden
fie diefelben doch ald ewige Vorbilder eines Haf:
fiihen Styls ftehen laſſen müfjen.«
»Unbedenklich!« rief der Graf; und der Doc:
tor fagte: »Diefer abftracte Elaffifhe Styl wird
aber für den Roman eine Unmöglichkeit werden,
“wenn wir anfangen, das allgemeine Leben zum
Vorwurf ded Romans zu benugen. Die Har⸗
monie deö gleichmäßigen Styls, der hochgebilde-
tn Sprechweife, wie wir ihr in allen Figuren
Goethe's begegnen, hört auf, fobald der Ungebil-
bete in den Kreis der Dichtung gezogen wird.«
»Dadurh wird der Styl alfo buntfchedig
werden,« meinte der Baron, »und einen unter:
geordneten Ton annehmen müffen.«
»Ja und nein!« fagte der Doctor. »Die
Birklichkeit hat gegen das Ideal anfcheinend oft
etwas Untergeordnete, die Sprechweife des Ar:
beiterö, der Buͤrgersfrau etwas Unfchönes, wenn
wir fie mit der glatten, durch Feine perfünliche
Unart unterbrochenen "Schönheit des Goethefchen
90
Styls vergleichen, und doch wird man biefen nicht
überall anwenden, jene nicht entbehren koͤnnen;
aber ein ſtrenges Maßhalten wird die Buntfches
digkeit und Kleinlichkeit, die Sie fürchten, leicht
vermeiden laffen. Faßt der Dichter die Menfchen
mit jener großen Anfchauung auf, mit welcher
die Rafael, Tizian, Ban Dyk, Murillo ihre Por-
traitö erfchufen, fo wird das Bild jebed Men
fchen eine ewige Wahrheit und felbft dad fcheins
bar Unbedeutende, Unfchöne bedeutend und erfreus
lich; während das tägliche Leben uns überall
Karikaturen bieten würde, wenn man Beinlich
jede Art und Unart, jedes Fledchen und jebe
Warze der Originale feftzuhalten fuchte.«
»Diefe Dinge zugegeben,« meinte der Baron,
»fo wird aber Ihr humaner Roman der Zukunft
eine maßlofe Ausdehnung haben müffen, wenn
er alle Stände in feinen Bereich ziehen will, und
wir werben wieder zwölfbändige Werke wie die—
alten englifchen erleben, wenn Sie fie nicht in
zwei beftimmte Klaffen, in ariftofratifhe und
Volksromane fcheiden wollen.«
»Was ficher nothwendig fein wird, wenn ſie
91
altbar und in fich abgefchlofien, das heißt ein
dunſtwerk fein follen,« fügte der Graf hinzu.
»Keineöweged!« meinte der Doctor. »Im
toman eine Trennung der Stände aufftellen,
ie im 2eben immer mehr und mehr zu verban-
en unfer Beftreben ift, wäre fein richtiger Grund⸗
itz, und die Länge eines Romans wird durch
a3 Zufammenwirken ber Stände fo wenig bes
ingt, ald feine fünftlerifche Einheit dadurch ge:
indert. Beichäftigt fi der Roman, wie ed
ine Aufgabe ift, mit der pfychologifchen Ent:
iickelung einzelner Charaktere, fo ift dem Zufall
der Spielraum in demfelben genommen. Er ift
edingt durch den Charakter der Helden, und
noͤgen dann auch, wie im Leben felbft, Perfonen
er verfchiedenften Klaffen an den Helden heran
:eten und zu feiner Bildung mitwirken, mag er
ch in den entgegengefeßteften Sphären bewegen,
em Roman wird in dem Raume eines foldyen
zildungsproceſſes immer eine Schranke geſetzt
in, die ihn vor übermäßiger Lange bewahrt.
jefchäftigt der Roman fich aber mit Vorgängen,
acht er die Entwidelung fpannender Ereigniffe
92
zu feiner Hauptaufgabe, fo finft er zur Erzaͤh⸗
lung herab, hat Beine innere Nothwendigkeit und
ann fo unermeßbar werben, ald die Möglichkeit
der Ereigniffe felbft.«
Bei diefen Testen Worten des Doctord öffnete
fih die Thür, und ein hellblondes, etwa fünf-
zehnjähriged Mädchen trat, von einem drei Jahre
jüngern Knaben gefolgt, in das Zimmer.
„Meine Nichte!« fagte die Baronin, ald dad
Mädchen an den Theetifch gekommen war und
die ante umarmte.
»Und ich!« fiel der Knabe ein, ald ob er es
übel empfände, daß man ihn Feiner Beachmas
werth zu halten ſcheine.
Alle Anweſenden lachten über ihn, und De
lene fland auf, nahm ihn mit feherzender Feier⸗
lichkeit bei der Hand und fagte zu Friedrich:
„Mein Better Mafter Richard Windham!« In
gleicher Weiſe ftellte fie ihn dem Doctor vor,
und obfhon Richard, wie Die Anderen, darüber
zu lachen begann, fo ließ er es doch gefcheben
ohne, wie Kinder fonft pflegen, ungeduldig ober
93
verlegen dadurch zu werben. Er fchüttelte dem
Grafen, der ihn nad Deutfchland gebracht hatte,
freimüthig die Hand und bewegte fich in dem
ihm neuen Kreife feiner Familie mit einer Unbe-
fangenheit und Sicherheit, welche Friedrih an
einem fo jungen Knaben. überrafchend waren.
Helene, die fein Erftaunen bemerkte, fagte:
Nicht wahr, Ihnen kommt diefer felbftändige
Gentleman in der runden Jade auch fo komiſch
vor, wie mir?«
»„Mie kannſt Du ed Fomifch finden, fiel ihr
Sornelie ind Wort, »daß ein Knabe fich unter
günftigen Einflüffen fehneller und gefünder ents
widelt, ald unter ungünftigen? Iſt Dir die
Blume komiſch, die im Freien beffer gedeiht, als
in der engen Stube? Ich wollte, ich wäre ein
Knabe und mit zwölf Sahren fo felbftändig ges
weſen, als Richard ift!«
„Du! ja Du märft auch würdig gemefen,
die Stelle Deiner Ahnfrau einzunehmen oder die
| Mutter der Gracchen zu repräfentiren!« fcherzte
| Helene und feßte, gegen Friedrich gewendet, hinzu:
94
»Sie müffen nämlich wiffen, daß meine Schwer
fter die jebige Welt fehr erbäarmlich, die Männer
fehr ſchwach und charakterlos findet, und nur an
den Herven der Vorzeit noch eine Art von Wohl:
gefallen hat.«
Gornelie warf ihr einen ernften, faft ftrafen-
den Blick zu, und Erich fagte: »Gornelie und
Richard werden gute Freunde werden, wenn He:
lene ihn nicht verdirbt!«
Was nennft Du ihn verberben?« fragte Larſ⸗
fen. der gleich nach den Kindern erfchienen war,
dem Baron und der Baronin feine Aufwartung .
gemacht und fih nun zu ben jüngeren Haus:
genoffen gefellt hatte
»Verderben wird fie den Knaben, wenn fie
ed ihm zum Bebürfniß macht, von ihrer weichen
Liebe umgeben zu fein und ihr dafür Alles zu
Willen zu thun.«
»Diefem Verderben wird der Knabe nicht
entgehen, da Männer ihm erliegen!« fagte ber
Graf, und fo alltäglich Friedrich dieſe Schmeiche⸗
lei fand, nahm Helene fie doch mit einem freund
lichen Lächeln, ald etwas ihr Mohlgefälliges auf.
95
Friedrich verargte ihr das. Die fchöne Helene
fhien ihm einer anderen Huldigung werth, fehien
ihm zu gut für dad Wortfpiel gefelliger Galan-
terie, indeß es blieb ihm nicht lange Zeit, darüber
nachzudenken, da der Doctor die Frage aufwarf,
ob man ‚Helene heute nicht fingen hören werde?
Sie erklärte fich bereit dazu, und Larffen,
der mit Selbftgenügen vor Friedrich die Rechte
eined alten Bekannten der Familie geltend machte,
öffnete den Flügel, holte aus dem Nebenzimmer
vom Schreibtifch der Baronin die Leuchter her:
bei und richtete Alles für den Gefang ein, wor:
auf er fih, mit mehr Nachläffigkeit, als er fich
fonft zu geftatten pflegte, in einen der Seffel am
Kamine warf, und Friedrid nöthigte, ſich neben
ihm niederzulaffen, was diefer ablehnte, weil er
Helenens Geficht von diefem Plage nicht vor fich
gefehen haben würbe.
Scherzend feßte fie fih zum Flügel nieder,
griff präludirend ein paar Akkorde und ging dann
zur Melodie eines damals noch neuen Liedes von
Fanny Henfel über, dad mit begeifterter Sehn-
fucht die Reize Italiens feierte. Es lautete:
96
»Schöner und fchöner fhmüdt fi der Plan,
Schmeidhelnde Lüfte wehen mich an u. f. w.
und wie ed in feiner Schilderung des Suͤdens
immer jubelnder wurde, fo durchleuchtete eine
wahrhaft füdliche Gluth, ein hinfchmelzendes Feuer
die Züge und die Stimme Helenend, bis aus
dem Entzüden über die Schönheit der Natur
plöglich ein unterbrüdtes Weh in dem Schmer-
zensrufe verzagender Sehnfucht emportönte:
»O fo verſuch' es Ehen der Luft,
Ehne die Wogen, die Wogen auch diefer Bruft! «
Ein lauter Beifal ſcholl ihr von den Zuhoͤ⸗
rern entgegen, fie beachtete ihn nicht. Ihr Ge-
fiht war fehwermüthig geworden, ihr Auge ſah
ernfthaft umher, bis ed auf Friedrich fiel, der in
ihre Anfchauen verfunfen war. Ihre Blide tra=
fen fich ſchnell und flüchtig, um ſich ebenfo ſchnell
von einander abzuwenden, und Helene begann
eines jener traurigen Lieder von Berger, in des .
nen er Meifter ift, das Lied vom blauen Veilchen,
Das der Liebende der geftorbenen Geliebten in
97
das Grab fentt, zur Erinnerung an ihren Beil:
chenkranz beim erflen gemeinfamen Tanze im
Grünen.
Zriedrich kannte die Compofition, er hatte fie
oft fingen hören, aber niemald mit der Gefühle:
innigkeit, die Helene hineinzulegen wußte. Seine
Augen fchwammen in Thränen. Er dachte an
dad Begräbniß feiner Iugendfreundin, an das
tiefe Weh feined armen Knabenherzend, und die
unbeftimmte geftaltlofe Ahnung einer viel größeren
Liebe, eined viel tieferen Verluſtes zitterte in fei-
nem Herzen. Er mußte fich von feinen Phan=
tafteen gemwaltfam logreißen, als er gewahr wurde,
daß die Gruppe am Flügel fich aufgelöft, die Ge—
fellfchaft fi) wieder um den Theetiſch verfammelt,
und das Gefpräc fich auf Gegenftände der pla=
ſtiſchen Kunft in Italien, Frankreich und Spa—
nien gewendet hatte. Dabei kamen Keifeerinne=
tungen und dad Andenken an befreundete Perfonen
jwifchen dem Grafen und der Heidenbrud’fchen
Samilie zur Sprache, denn auch Erich und feine
Schweftern hatten fchon bedeutende Heilen ge=
Wandlungen 1.
98
macht und waren in fremden Ländern durch
eigene Anfchauungen wohl zu Haufe.
So ſchwand nody eine Stunde hin, bi8 bie
Säfte aufbrachen. Was man bei'm Abfchiede ge=
forochen, welche Verabredung Erich mit ihm ge=
nommen, hätte Friedrich in dem Augenblide nicht
zu fagen vermodht. Er erinnerte fich erft am
folgenden Tage, da er die Erfchütterung über
wunden, in welche Helenend Gefang feine mufila-
lifche Natur verfentt, dag man ihn zu baldiger
Wiederkehr gar freundlich eingeladen hatte.
Wie bezaubert fam er aus dem Haufe auf die
Straße. Larfjen nahm feinen Arm und ging ein paar
Minuten fhweigend neben ihm her, bis Friedrich,
von der Nachtkühle erfrifcht, tief aufathmete und
fih hoch emporrichtete, als ob er wieder Herr
über fich felbft zu werben wünfchte.
»Nun,« rief Larffen, den Moment benugend,
»wie haben fie Dir gefallen?«
»Mer?« fragte Friedrich, immer noch zerftreut.
»Die Mäpchen!« entgegnete Larſſen mit jener
felbfigefälligen Vertraulichkeit, welche Friedrich
ihon im Saale fo mißfällig gewelen war. »Ich
99
denke, man kann zufrieden fein mit der Erzie-
bung! Aber fie und die Alten erkennen ed mir
auch an. Du hafl’s ja gefehen, ich bin noch heute
wie zu Haufe unter ihnen! Ich kann mich ges
ben laflen, wie ich eben will.« Es lag etwas
Wahres in diefer Behauptung Larſſen's, und doch
beneidete ihm Friedrich fein Verhältniß zu der
Heidenbrud’fchen Familie keinesweges. So wenig
Welt: und Menfchenkenntniß er befaß, fühlte er
dennoch, daß die Freiheit, welche Iener ſich neh-
men durfte, die Zutraulichfeit, welche man ihm
bewies, nicht auf das Gefühl der Gleichberechti-
gung begründet, fondern ein Zugeſtaͤndniß für
einen Menfchen wären, für den man ed unmög-
lich hielt, jemals eine volle Gleichberechtigung
zu beanfpruchen. Larſſen war Friedrich begnadigt,
nicht berechtigt erfchienen neben feinen ehemaligen
Schülerinnen, und er beklagte ihn deshalb in
feinem Inneren, während Sener, volltommen mit
ſich zufrieden, alfo fortfuhr:
»&8 find fonderbar geartete Naturen, dieſe
Mädchen. Beide idealiftifh, Beide dem Ge:
wöhnlichen feind, Helene aus Liebebedürfnig, Cor:
mu
m)
100
nelie aus Verſtand und Herzenögüte. Helenens
Phantafie trägt fie weit hinaus über die Been⸗
gung des conventionellen Zebens, in dem fie er-
wacfen if. Sie glaubt an ein Ideal von Liebes-
glüd und möchte dies erreichen, während Corne-
lie von Kindheit an fich fEeptifch verhalten hat
gegen Alles, was fie umgab, und von geläutet-
ten Weltzuftänden phantafirte, in denen es Feine
Noth und Fein Elend geben follte. Helene mollte
immer einen Feenprinzen heirathen und überirs
difch glüdlich werden, Cornelie eine Fee fein und
alle Armen glüdlich machen. Ich habe viel Noth
mit ihnen gehabt, bis ich fie zur Wirklichkeit ge=
wöhnte.«
»Und ift Dir das gelungen?« fragte Friedrich
mit reger Sheilnahme.
„Allerdings! Es ſteckt zwar in Beiden noch
die eigene Richtung, die ja dem Menfchen ange-
boren ift wie fein Blut und feine Haut, aber
fie haben gelernt fi in die Welt zu fügen und
vom 2eben Feine Ideale zu verlangen. Es find
eben vernünftige Frauenzimmer geworden, und
101
die Enge Mutter wird für fie auch bie richtigen
Lebenöwege bahnen. Ach fehe das im Werben!«
Friedrich hätte fragen mögen, was Larffen
werben fähe, da hatten fie aber die Wohnung
des Lebteren erreicht und trennten ſich für ven
Abend.
Sehstes Kapitel.
— — — —
Erſt tief in der Nacht hatte Friedrich den
Schlaf gefunden. Als er am Morgen erwachte
und die matte Herbſtſonne auf die grauen Waͤnde
feiner Stube fiel, das Buͤcherbrett, den Arbeits:
tifch und fein Lager zu beleuchten, Fam eine tiefe
Niedergefchlagenheit über ihn. Entbehrung und
Sorge waren ihm vertraut gewefen von feiner
Kindheit an, er hatte jeßt weniger davon zu lei-
den, als in manch früheren Tagen, die Ausficht
auf reichlicheren Lebenserwerb trat ihm immer
näher, und doch kam er fich heute armer vor ale
fonft, hoffnungslofer, als er es noch je gewefen.
Mas konnte aus einem Leben werben, welche
103
Blüthen konnte ed treiben, das eines reichlich
nährenden Bodens, einer fehnell und warm rei-
fenden Sonne entbehrte, das, durch Nichts be-
günftigt, Alles aus fich felbft erzeugen mußte?
Sein Fleiß, feine Luft an willenfchaftlichem
Beftreben däuchten ihm thöricht,, feine Kenntniffe
nichtig. Die erftrebte Gelehrfamkeit erfchien ihm
todt und reizlos neben der Fülle von Leben, welche
die glüdlichen Ariſtokraten genoffen hatten. Er
hatte Reichthbum und Bildung, bevorzugte Ver-
hältniffe und die aus ihnen hervorgehende edle
Einfachheit des Benehmend nie in folcher Weife
vereint gefehen, als in der Familie feined neuen
Freundes. Was ihn tm Einzelnen angezogen
und abgeftoßen, ihm bald beneidendwerth, bald
geringfügig gebäucht hatte, Rang, Beſitz, Bil
dung der äußeren Form, Kunft und Luxus, das
Alled war ihm geftern in einem Bilde allgemei-
ner Schönheit, harmonifcher Entwidlung erfchie-
nen, von dem er fich unfähig fühlte, das Auge
abzuwenden, obfchon das Anfchauen ihm zum
Schmerze wurde, wenn er auf fi und fein Ge-
ſchick zurüdblidte.
104
»Leben! Leben!« rief er. »Sich zur Schön:
S heit entfalten in gleichmäßiger Ausbildung aller
Kräftel«e — Uber hatte das nicht auch Larſſen
gewollt? Und wohin hatte. es ihn gebraht? Wo—
bin konnte es Friedrich führen, dem nicht die
Mittel zu Gebote ftanden, über welche Sener einft
hatte verfügen koͤnnen? Ein flummer Schmerz,
der fih nicht zur Entfagung zu geflalten ver-
mochte, bemächtigte fich feiner. Er zürnte der
Vorſehung, die ihn mit hochftrebender Seele. in
Niedrigkeit geboren werden ließ, und der Tag,
der vor ihm lag, flößte ihm in feiner Entmuthi⸗
gung ein Grauen ein. Er war niedergefchlagen
bis zum Lebensüberdruffe, weil er ein paar Stun-
den Glüdes genoffen hatte.
Da kam die treue, fo oft verfpottete Gefähr-
tin unfereö Lebens, die Gewohnheit, ihm zu Hülfe.
Der Schlag der Thurmuhr fehredite ihn .erlöfend
aus feiner Berzagtheit empor. Ed war halb
neun Uhr, um neun begann dad Collegium,
und fo gering er noch vor wenig Minuten bie
Wiffenfchaft im Wergleih zum Leben geachtet
hatte, würde er es fich nicht verziehen haben, das
105
Collegium zu verfäumen; aber diefer Tag und
viele andere Tage fchwanden dahin, ehe er das
Gleichgewicht feiner Seele wieberzufinden, und
fih zu einem Kampfe mit den Berhältniffen zu
rüften vermochte, aus dem er fich gelobte, als
Sieger hervorzugehen. Die Jugend hat dad Vor-
recht, an die Erfüllung ihrer idealen Wünfche zu
glauben, darin liegt ihre Kraft und ihr Süd,
und wer ein Ideal im Herzen trägt, nach deffen
Erlangung er trachtet, hat an demielben einen
mächtigen Bundeögenofjen gewonnen. -
Was Friedrich bisher ald Ziel angefehen, die
Erwerbung von Kenntniffen, die Erlangung eines
Amtes, das duͤnkten ihm plößli nur Mittel für
feine Zwecke zu fein. Er blidte weit über das
friedliche Afyl eines Pfarrhaufes in die Welt hin-
aus, die fich vor ihm erfchloffen hatte. Die ge-
felligen Genüffe, welche ihm als Unternehmer ver
Bälle zu Theil werden mußten, und die er noch
vor wenig Sagen fo hoch angefchlagen hatte, daß
er fie al eine dauernde Erinnerung zu ermer-
ben gewünfcht, ſchienen ihm jest fo gleichgültig,
daß er von der ganzen Ballunternehmung zurüd-
106
getreten fein würde, hätte nicht die Luft an dem
Zufammenwirfen mit dem Freunde ihn daran
feftgehalten.
Auch machte der Umgang deſſelben fich bald
wohlthuend auf Friedrich geltend. Um zwei Jahre
älter alö Diefer, durch frühe Reifen, weiten Men-
fchenverfehr und einen gewählten Umgang in feis
nem Baterhaufe vielfeitig gebildet, mit dem wirf-
lichen eben vertraut und durch feine glüdlichen
Verhältniffe vor den harten Berührungen deſſel⸗
ben bewahrt, hatte er fich zu einem über feine
Jahre weltgewandten Menfchen entwidelt, ohne daß
er die Gefühldwärme und Begeifterung der Ju⸗
gend darüber eingebüßt. Er war fich deutlich
der Vorzüge bewußt, welche Rang und Reich:
thum feines Water ihm verliehen, er verftand
fie für fih zu nußen, aber er brauchte fie faft
ebenfo gern, Anderen Damit förderlich zu fein, ald -
fich ſelbſt. Sein weiches Herz machte ihn theil-
nehmend für fremdes Leid, eine Luft zu eingrei-
fendem Handeln, ihn geneigt, dad Schickſal ber-
jenigen lenken und beffern zu wollen, bie feine
&heilnahme gewonnen, und er fcheute nicht leicht
107
ein perfönliches Opfer für folche Zwede. Aber
dieſelbe Herzensweiche, welche ihn für Andere thä-
tig fein ließ, machte ihn auch empfindlic und
fheu vor unangenehmen Berührungen, fo daß
Zurüdhaltung und Wohlwollen, abweifende Kälte
und großmüthiges Entgegentommen, verftändige
Ueberlegung und Handeln nach augenblidlichen
Empfindungen in ihm wechfelten, und feine näch-
ften Bekannten ihn fchäßten und liebten, wäh-
rend Fremde ihn oft für hochmüthig und launen-
haft zu halten berechtigt waren.
Zu feinem Freunde hatten ihn die beften Sei:
ten feines Wefens hingezogen. Friedrich's geift-
volles Geſicht war ihm in einem Collegium über
neuere Literatur aufgefallen, ein Ausdrud von
Schwermuth oder Leiden ihm anziehend gewor-
den, und Alles, was er durch Dritte von ihm
erfahren, hatte Dazu gedient, diefe Zheilnahme zu
erhöhen, welche er auch feinen Eltern für ihn ein-
zuflößen wußte, fo daß der junge Theologe bald
ein gern gefehener Saft des Heidenbrud’fchen
Hauſes wurde. |
Drei Wochen mochten vorüber fein, der Win-
108
ter war im Anzuge und die Zeit gekommen, in
welcher Regina Königöberg verlaffen follte. Frie-
drich hatte ihrer wohl gedacht, aber fie nur
felten wieder gefehen, als er von feiner Mutter
erfuhr, daß am folgenden Tage der Hausrath
des Unterofficierd verfteigert werden würde. Er
erfchraE vor diefem Gedanken, obfchon er feit
Wochen davon fprechen hören und viele Berathun-
gen über die Auction in feiner Gegenwart ver-
handelt worden waren. Es fehmerzte ihn, als
fole ihm ein Stüd feines Lebens, ein Theil fei-
ner Erinnerungen entriffen werden.
Im Dämmerlichte ging er in die Fleine Woh-
nung hinüber, Die er lange nicht betreten hatte.
Der Unterofficier war zu dem Fuhrherrn gegangen,
der die Beforgung der wenigen Sachen übernom-
men hatte, welche den Scheidenden in die neue
Heimath folgen follten. Regina war allein zu
Haufe. Ein Kaften und ein Bettſack landen
gepadt im Flur, im Zimmer brannte die kleine
Dellampe, bei deren Schein Friedrich fo oft ne=
ben feiner Freundin gefeffen. An dem Nähpulte,
an dem er die Mutter fonft täglich arbeiten ge=
109
eben, faß jest Regina. Als er eintrat und fie
u ihm emporblidte, trafen ihre Augen ihn tief
is in's Herz. Sie hatten denfelben Ausdrud von
grauer, der ihn fo feft an die Mutter gekettet
atte.e Wie mit einem Bauberfchlage erwachte
ie geliebte Vergangenheit in feinem Geifte, ihm
iefen Augenblid noch fehmerzlicher zu machen.
Bon den Fenftern waren die Vorhänge, von den
Banden die Bilder abgenommen, die er fo oft
etrachtet, die ihm in dieſer Stunde höheren
Berth zu haben ſchienen, als alle Kunſtwerke ver
Belt. Das Bett, in dem Frau Baltig geftor-
ven, war leer, der Hausrath aus dem Glasſchrank
verfcehwunden, es fah fo Eahl, fo dürftig aus, und
nitten in dem kahlen Raume faß das ftille, ein-
ame Kind.
»Du arme Regina!« rief er aus.
»Ach ja!« entgegnete die Kleine feufzend, und
Beide fchwiegen dann wieder. Friedrich ging im
Zimmer umber, dann feßte er fih zu dem
Mädchen.
»Was nähft Du?« fragte er, wie man ges
vöhnlich die gleichgültigften Fragen thut, wenn
110
man recht viel und recht Schweres auf dem Her:
zen hat.
„Einen Pompadour zur Reiſe!« antwortete
Regina. |
Er blickte auf ihre Arbeit. »War das nicht
ein Kleid von der Mutter?« fragte er; die Kleine
nickte bejahend , und wieder entfland eine Stille,
bis er zu wiſſen begehrte, wann fie abreifen
würden.
»Weber übermorgen!«
»Und wo werdet Ihr bleiben, wenn morgen
Eure Sachen verkauft find?«
»Bei Deiner Mutter! Wir fchlafen heute zum
lebten Male hier.«
Der Ton, mit dem fie fprach, war voll tie=
fem Leiden, aber fie weinte nicht mehr und nähte -
während des Sprechens ruhig fort. Des Juͤng⸗
linge Auge folgte jeder ihrer Mienen, während
er nach dem Ausdruck für fein Empfinden fuchte.
Endlich legte er feinen Arm um ihren Hald und
fagte: »Wir fißen hier auch zum legten Male
zufammen, und ich werde Dich vielleicht nicht
mehr allein wiederfehen, Regina! Du weißt, wie
111
eb ich die Mutter gehabt habe und wie gut fie
ı mir gewefen ift, bleibe Du mir alfo auch gut
nd wenn — —«
Da warf fich Regina laut weinend an feine
Zruft, umflammerte ihn angſtvoll und brach
Hiuchzend in die Worte aus: »Sag’ Deiner
Nutter, ich will bei ihr bleiben!«
Es war ein bitterer Schmerz für Friebrich,
yr diefen Wunſch nicht gewähren zu Tonnen;
{bft kaum fähig, ſeine Thraͤnen zu unterdrüden,
ıchte er das Mädchen zu tröften. »Es wird
ine Zeit fommen,« fagte er, »in der ich Dir. ver-
elten fann, was Deine Mutter mir geweſen ift.
sch werde Dich nicht vergeffen, vergiß Du mic
uch nit, und wenn Du Dir einmal nicht zu
‚elfen weißt im Leben, fo fag es mir!«
»Und dann wirft Du fommen?« fragte die
tleine.
»Ja! gemwiß!«
»Und Du wirft mir auch helfen?
»So gut ich irgend kann!« Da fah fie ihn
eft an, gab ihm die Hand, fiel ihm nochmalö
ım den Hals und fehien des Weinens und der
112
Traurigkeit, wie Kinder pflegen, müde zu fein.
Ihr Geficht erhellte ſich, fie zeigte Friedrich ein
Paar warme Schuhe, die der Vater ihr gekauft,
und hatte Fragen und Erzählungen aller Art zu
machen, fo daß fie ganz heiter geworden war, als
er fie verließ, während er felbft der Traurigkeit
nicht Herr zu werden vermochte.
Spät am Abend ging er zu Erih. Da er
ihn nicht zu Haufe traf, wollte er fich entfernen,
aber die Baronin, welche von einem Befuche
heimfehrend in den Flur trat, forderte ihn auf,
den Sohn bei ihren Töchtern zu erwarten. Er
fand diefelben allein in dem Arbeitszimmer ihrer
Mutter, und ſchon nad) den erften Minuten einer
gleichgültigen Unterhaltung fragte ihn Cornelie
plöglich, indem fie ihre dunklen Augen forfchend
auf ihn richtete: »Warum find Sie fo traurig,
Herr Brand?« Friedrich erſchrak vor der uner-
warteten Zrage; er mußte vorausfegen, daß fie
wobhlgemeint fei, aber ed wurde ihm fchwer, dar⸗
auf zu antworten.
»Ich habe einen Abfchied beflanden!« fagte
|
i
er ablehnend. Dennoch Flang feine Bewegung :
113
in den Worten durch, und Helene, ihn mitleidig
anblidend, rief mit jener füßklagenden Stimme,
die ihn am erften Abende in ihrem Gefange fo
mächtig erfchüttert hatte: »Wenn ich Ihnen doch
helfen koͤnnte!«
»Sie wollen mir helfen?« wiederholte er er-
röthend und fügte dann fehnell gefaßt hinzu: »Es
fehlt mir Nichts!«
»Aber Sie haben gewiß fchon viel gelitten!«
fuhr Helene fort.
»Moher glauben Sie das?« fragte er, indem
feine Scheu, fich beobachtet, verrathen zu fehen,
mit feiner Freude über Helenend Xheilnahme
kämpfte. | |
»Weil Sie eigentlich niemald ganz heiter find,
und es ift doch fo fehön, fröhlich zu fein!«
Da er fchwieg, entitand eine Eleine Paufe.
Gornelie arbeitete ohne aufzublicken an ihrer fei-
nen Stiderei. Ihr Geficht fah noch ernfter aus
als gewöhnlich, und Helene, welche es empfand,
daß Friedrich’ Auge in ihrer Seele zu lefen trach⸗
tete, fühlte fi) davon verwirrt. Von der Stille
beängftigt, fchien es ihr eine Erleichterung zu
Wandlungen T.
114
fprechen, aber ihre Gedanken waren fo ſchnell
vorwärts und rüdmärts gegangen, daß fie den
Faden der Unterhaltung nicht zu finden vermochte,
bis Cornelie durch einige hingeworfene Fragen
über Friedrich's Verhältniffe ein Gefpräch einlei-
tete, in welchem der Zebtere bald die Rolle des
Erzählerd übernahm; und wie ed in aufgeregten
Zuftänden, die und unvorbereitet überrafchen, : zu
gefchehen pflegt, hatte er gar bald zu feinem ei-
genen Erftaunen ihnen fein ganzes Leben mitge-
theilt. Was er Allen verborgen, was er felbft
vor Erich zu enthillen Scheu getragen, die Ent⸗
behrungen und Schmerzen feiner Kindheit, feine
Liebe für die verftorbene Freundin, die Sorge um
ihr armes Kind, dad Alles theilte .er in flüchti-
gen Worten den beiden Schmeftern mit. Er
nannte feine Namen, er gab ihnen Feine beflimm-
ten Thatfachen, er Plagte weder Menfchen noch Ä
Schickſal an, denn er fühlte fich plöglich mit ih⸗
nen verföhnt. Er fah ruhig und liebevoll in die
Vergangenheit zurüd, denn es fchien ihm, als
fei er fortan allem Leid entronnen. Ploͤtzlich aber
überfiel ihn ein Gefühl der Angft und der Be⸗ N
|
115
ſchaͤmung. Es peinigte ihn, fo lange von fid
geiprochen zu haben, er fland auf und empfah
fih, weil er den Freund nicht länger mehr er
warten Tönne.
Die Schweftern waren betroffen, fie bater
ihn zu bleiben, er lehnte ed mit einer gewiffer
Heftigleit ab, vor der fie verftummten, und nach
dem dieſe drei jungen Herzen fich in freudige:
Erfchloffenheit gefunden hatten, trennten fie fich ir
einer Weile, welche Keiner von ihnen fich zu er:
klaͤren vermochte, welche Allen quälend war.
Weder Helene noch Gornelie fprachen vor
Sriebrich, fo lange fie den Abend im Kreife dei
Familie verweilten. Erſt ald fie fich in ihrem
Zimmer befanden, drüdte Cornelie den Wunfd
aus, dem abreifenden Mädchen zu helfen, abeı
Sriebrich hatte ihren Namen nicht genannt.
»Ich habe den ganzen Abend nur an fie ge:
dacht,« fagte Helene, »und möchte fie gern ſehen!
Sch ftelle fie mir anders vor, als Kinder fonft
zu fein pflegen«.
»Meshalb das?«
»Weil Friedrich anders ift, als andere Men-
116
fchen!« rief Helene. »Sieh!« fuhr fie dann fort,
»ald er am erften Abende bei und davon ſprach,
‘daß der Roman der Armen, der Nothleidenden
noch nicht gefchrieben fei, und der Graf behaup-
tete, in folchen Berhältniffen fei Feine Poeſie,
feine Schönheit zu finden, da flimmte ich ihm
aus voller Ueberzeugung bei, und jeßt — —«
»Und jeßt?« fragte Gornelie.
Helene antwortete nicht gleih. Erſt nad) ei-
ner langen Paufe fagte fie: »Er felbft, Friebrich,
muß der Dichter werden, der das Wolf fchildert
in feiner Schönheit! Wer hat je mit diefer Ein-
fachheit von feinem Leben, mit folcher Liebe von
feinen Entbehrungen, mit folcher Schönheit von
Schmerz und Leid zu uns gefprocdhen, als er?
Es ift mir überhaupt, als hätte ich heute zum
erften Mal erfahren, wie Menfchen zu einander
reden follten, und was ed heißt mit einem Men-
fchen fprechen !«
»Helene!« rief Cornelie im Zone der höchften
Beftürzung. | |
»Was verwunderfi Du Dich?« entgegnete
Helene. »Hat er Dich nicht ergriffen wie mich,
117
der Hinblick auf das Leben biefes reinen Her:
zend, das tauſendfach mehr Glüd verdient ale
wir, und Nichts erhalten hat als Leid und Sorge?
Aber wie fchön, wie poetifch ift fein Leiden gegen
das trodene Glüd, von dem die Andern wiſſen!
In feiner Armuth ift er reicher ald wir Alle!« —
Gornelie hatte mit flarrem Ernfte zu ihr hin⸗
übergeblidt, jetzt warf fie fich der Schwefter an
den Hals und mweinte.
»Woruͤber weinft Du?« fragte diefe. »Liebft
Du ihn?«
»Ich? Helene! ich?«
»Nun warum weinſt Du denn?«
»Ueber Dich!« — — entgegnete Comelie,
»denn Du liebſt ihn!«
Helene antwortete nicht, ſie ließ ſich in dem
Seſſel am Kamine nieder und huͤllte ihr Geſicht
in ihre Haͤnde. Cornelie ſtand ihr eine Weile
gegenuͤber, als erwarte ſie, daß Jene ſprechen
wuͤrde; da ſie aber ſchwieg und in ein ſtilles
Sinnen verſank, ſagte Cornelie: »Laß uns die
Kleine nicht vergeſſen uͤber ihn! Friedrich hat uns
geſagt, die Fortreiſenden wohnten ſeinen Eltern
118
gegenüber, ed werde morgen dort eine Auction
abgehalten, das Haus muß alfo mohl zu finden
fein!«
»Ja! wir mollen hin!« rief Helene, aber Cor⸗
nelie verneinte dad. »Wir nicht! Larffen wird
hingehen, wenn mir ihn darum bitten, er hat und
fonft ja fchon in folchen Dingen beigeftanden, ich
will gleich an ihn fehreiben!« fagte fi...
Helene konnte des Dankes Fein Ende finden.
Sie kuͤßte Cornelie während dieſe fchrieb, man
fchellte einem Diener, übergab ihm den Brief zu
früher Beforgung am nächften Tage, und Cor:
nelie fing zu überlegen an, was dem Kinbe
dienlihb und für alle Fälle brauchbar fein
koͤnnte.
Ruhiger, als die nur mit dem Herzen lebende
Helene, ſah Cornelie, mit Angſt der Schweſter
ploͤtzlich auflodernde Liebe fuͤr Friedrich, und ſuchte
ſie durch den Hinweis auf das arme Maͤdchen
zu zerſtreuen. Als aber Helene ihr Lager geſucht
hatte, da kniete Cornelie neben demſelben nieder,
faßte die Haͤnde der Schweſter und ſagte, das
Geſicht an ihre Wange geſchmiegt: »Sprich vor
Bull -
119
iemand, vor Niemand, Helene! wie Du vor-
n zu mir gefprochen haft, und bete um Selbft-
erwindung, benn es wäre ein Unglüd, hättefl
u fie nicht!«
Siebentes Kapitel.
Am andern Nachmittage ftand Larfjen in der
Thür eines Shawlmagazins und betrachtete mit
der ihm eigenthümlichen Genauigkeit ein großes,
warmed Tuch, als Erich vorüberging und ihn
erblickte. Lachend trat er hinzu, ihn mit biefem
Einkaufe zu neden. |
»Iſt's wieder einmal fo weit, Vater Larffen!«
fragte er, »daß Du fentimental und fpenbabel
wirft?«
Larſſen mit komiſcher Würde, und erregte damit
Erich's Heiterkeit in noch höherem Grabe.
»Reine Sache der Wohlthaͤtigkeit,« entgegnete
»Glaube Dir das nicht!« rief dieſer, »denn
121
es glaubt3 Dir Niemand! Du wirft ja auf Deine
alten Zage nicht von Dir felbft abfallen!«
»Auf mein Wort, Erich!« wiederholte Sener,
„reine Sache der Wohlthätigkeit! Denkſt Du,
ich fei der Sündhaften Einer und hätte noch
Wohlgefallen am Weibe? Das ift fern von mir!
Aber wie gefällt Dir das Zuch?«
»&8 fommt darauf an, für wen es fein foll!«
„Fuͤr eines der fehönften Gefchöpfe, die mir
jemald vorgefommen find.«
»Und an diefem fchönen Gefchöpfe haft Du
fein Wohlgefallen mehr?«
»Ich habe ed nur einen Augenblid gefehen und
werde ed außer heute auch nicht wieberfehen!«
entgegnete Larſſen, der ſich vor Erich in der Rolle
des Wohlthaͤters gefiel.
„Das klingt ja ſehr romantiſch!« rief Erich
aus, »auf dieſem Felde hätte ich Dich am we⸗
nigften vermuthet!« |
Larfien bezahlte während deſſen den befpro=
chenen Einkauf und verließ mit Eric) das Ma-
gazin, feinerfeitö ebenfo entfchloffen, den Anſtrich
eined geheimnißvollen Abenteuerd aufrecht zu er-
8*
122
halten, ald Erich den Schleier deffelben zu lüf-
ten, um Larſſen mit feiner Heuchelet zu neden.
Als fie die nächfte Straßenede erreicht hatten,
wollte Larſſen fi) von Erich trennen, befann ſich
dann aber plößlich eines Andern, um feine Role
defto ficherer durchzuführen, und forderte ihn auf,
ihn zu begleiten, »jeboch nur unter Einer Bebin-
gung« wie er fagte.
. „Und die wäre?« .
»Daß Du mir dad unbedingtefle Schweigen
gegen Sedermann verfprichft!« antwortete Larfien.
»Die Sache ift dad Geheinmiß von Perfonen,
deren Zutrauen ich beſitze. Es handelt fih um
eine Familie, die man auskundfchaften, um ein
Mädchen, das man unferftügen und für dad man
Reiſeeffecten kaufen wollte, da es den Ort ver:
laſſen muß. Ich habe das Alles beforgt und es
auch übernommen, die Sachen heimlich abzulie⸗
fern. Verſprichſt Du mir, mich nichts Näheres
zu fragen, Nichts weiter darüber zu reden, fo
will ih Dir dad Mädchen zeigen.«
Erich ließ fich das nicht zweimal fagen, und
bald befanden die Beiden fih vor dem Haufe
h
}
123
des Unterofficiereö, in welchem bie Verſteigerung
ded Hausrathes fich ihrem Ende naͤhte. Männer
mit Zragen brachten einzelne verkaufte Stüde
die Zreppe herab, ein paar Nachbarinnen befa-
ben vor der Thür die erflandenen Toͤpfe und
Eiſenwaaren. Larffen und Erich gingen hinauf,
als ob fie einen Einkauf zu machen münfchten.
Es waren noch ein paar Zrödlerinnen in dem
Zimmer, mit denen der Unterofficier feine Ab:
rechnung zu halten fehlen, der Schreiber des Auc-
tionators faß, die Liften orbnend, an einem Ti⸗
fe mitten in dem Raume, und aus allen Eden
trug man die gekauften Gegenftände davon, daß
die Stube mit jedem Augenblicke leerer und trau:
riger anzufehen wurde. Erich, ſolcher Eindrüde
ungewohnt, konnte fich einer höchft wehmüthigen
Empfindung nicht erwehren. »Und bier lebt Dein
Schönes Wunder?« fragte er.
Larfien antwortete nicht, fondern brüdte nur
die Brille feft an die Augen, um in der begin-
nenden Dunkelheit Regina zu fuchen, die er nicht
entdeden Fonnte. Da er fie am Morgen in ber
Küche gefunden hatte, wendete er fich dorthin
124
Erich folgte ihm, und als fie die Thuͤre berfelben
öffneten, erblilten fie Regina, befchäftigt die Taſ⸗
fen und Töpfe zu reinigen, aus denen man bie
Trödlerinnen nach altem Brauche mit Kaffee be-
wirthet hatte, ihnen guten Muth und Luft zum
Kaufen einzuflößen.
Das fpärliche Licht einer Lampe und verglü-
bender Kohlen fiel auf Regina's Züge. Sie fah
empor, ald die Beiden eintraten, und Eric er-
ftaunte vor dem mächtigen Augenaufichlag dieſes
Kinded. Regina erkannte Larfien von feinem
Befuhe am Morgen wieder, und da er ſich als
einen Käufer dargeftellt, fragte fie ihn, ob er den
Schrank erftanden, den er in der Fruͤhe befehen
habe?
»Ich bin zu fpät gefommen!« fagte er. »Er
war fchon verfauft; hat man hohe Preife ge-
zahlt?« |
»Ich weiß ed nicht, der Water fhidte mid)
hinaus !«
»Weshalb that er das?« fragte Erich, deſſen
Augen unverwandt auf ihren Zügen ruhten.
Regina ftodte und fagte bann mit großer
125
Berlegenheit: »Weil ich weinte! — Es war fo
fchredlih, wie fie‘ Alles wegtrugen, der Mutter
Zifh und Bett — und Alles!« —
Sie hatte die Worte leife gefprochen, dann
wendete fie fich ab, ihre wieder hervorbrechenden
Thraͤnen zu verbergen. Erich hätte mit ihr wei-
nen Fünnen. »Wann fährft Du fort?« fragte er
fie und faßte mitleidig ihre Eleine naſſe Hand,
die fie an der Schürze trocknete.
»Morgen Abend!«
»Dazu fol ic Dir die Sachen geben!« fagte
Larfien, legte den Shawl und noch ein anderes
Paͤckchen mit warmen Kleidungsftüden auf den
Heerd, winkte Erich, ihm zu folgen, und verließ
die Küche.
Erich aber blieb zurüd. Er mollte den Na-
men des Mädchens wiffen, das ihm in feiner
Aufgeregtheit wie eine verzauberte Prinzeffin vor-
kam, und als die Kleine fich Regina nannte, war
es ihm, als leuchte ein Kronenfchimmer um ihr
dunkles Kinderhaupt. Er hatte die größte Luft,
dem Mädchen Etwas zu fchenken, aber ihr Geld
zu geben, war ihm unmöglich; Larffen rief ihm
126
zu fommen, er wollte dem Rufe folgen und wollte
doch nicht gehen ohne Gabe. Plöglich griff er nach
feiner Kravatte, zog eine Nabel mit reichgefaßter
Perle daraus hervor, reichte fie dem Mäbchen
bin, kuͤßte es auf die Stirne und eilte die Treppe
hinunter.
Regina blieb beſtuͤrzt am Herde ſtehen. Sie
betrachtete, ohne es anzuruͤhren, das Packet, auf
dem mit deutlicher Handſchrift die Worte: »Zur
Reiſe!« ſtanden, ſie ſah den Shawl auf dem
Heerde liegen, ſie hielt die Nadel in der Hand
und wußte das Alles nicht zuſammen zu reimen,
ſich nicht von der Ueberraſchung zu erholen, bis
die Meiſterin hereintrat, Regina bei dem Reini-
gen der Seräthichaften zu helfen. Ohne zu wif-
fen, was fie that, ſteckte das Mädchen die Nadel
in ihre Taſche. Selbſt als die Meifterin die un⸗
erwarteten Gaben gewahr wurde, als fie um den
Geber, um den ganzen Hergang fragte, ald ber
Vater hinzugerufen, ein förmliches Verhoͤr mit Regi-
na angeftellt wurde, und fie, fo gut fie e8 im Stande
war, von ben Ereigniffen erzählen mußte, von dem
Herrn, der am Morgen den Schrank befehen,
127
von dem andern, der am Abende mit ihm
nmen war, konnte fie fich Doch nicht überwinden,
Rabel zu erwähnen. Es wurde ihr heiß, fo
e es verfuchte. Einmal griff fie danach, fie
igen, um fih Muth zu machen, aber bie
d zitterte ihr. Sie konnte es nicht fagerg
ern fie wollte, und ed kam ihr doch wie
Sünde vor, daß fie dies Wichtigfle ver-
eg.
Achtes Kapitel,
Regina hatte die -Waterftabt verlaffen, der
alte Unteroffizier von der in Berlin neu errichte-
ten Häuslichkeit gefchrieben und die Meifterin
fich ſchnell gewöhnt, ihr Pflegefind ſelbſt an den
Wafchtagen zu entbehren. Sie dachte der eben
erft gefchiedenen Nachbarn, wie man an Dinge
denkt, melche eine lange Vergangenheit von und
trennt, mit Theilnahme zwar, aber ohne fie we⸗
fentlih zu vermiffen. Zägliche, angeftrengte Ar-
beit ift ein Wunderbalfam gegen jene Zeiden der
Sehnfucht, welche der Unbefchäftigte mit kraͤnkeln⸗
der Woluft in fih naͤhrt. Wie follte auch der
FT Dt En DD ED ne an
Arme leben koͤnnen, Fame die nothmwendige Arbeit
Me
WR
129
ihm nicht zu Hülfe, brächte fie nicht feinen Näch-
ten Schlaf, feinen Tagen Vergefienheit, und mit
der Vergeflenheit die Gefundheit der Seele wies
der, denn unfruchtbare Sehnfucht ift eine Krank⸗
heit der menfchlichen Natur. Der gefunde Menſch
firebt Eräftig zu erreichen, was er bedarf, und
verzichtet ebenfo feft auf das Unerreichbare. Er
will vor allen Dingen fich felbft ganz und unge-
theilt befiten — und der Arbeiter muß das wol-
len, bewußt oder unbewußt, weil er feiner felbft
bedarf.
Drüben in dem Haufe, das der Unteroffizier
fo viele. Jahre inne gehabt, lebten neue Nachbarn
und gaben Frau Brand Anlaß zu villfachem Be-
trachten ihres &huns und Treibens. Der Mei:
fter kümmerte ſich nicht darum, er war zufrieden,
daß er Arbeit hatte, und noch zufriedener mit
Friedrich; denn hatte der Water gefürchtet, daß
er den Büchern untreu werden, daß er in ein
wüftes Vergnügungsleben fich verfenten, daß er
Zeit, Geld und Gefundheit daran feben werde,
fo gewahrte er von alle dem das Gegentheil.
Der junge Entrepreneur befchäftigte fich mit den
"Bandlungen. I. _ 9
130
—
Bällen nur fo viel, als feine Pflicht ed forderte,
309 fich aber mehr und mehr von dem Umgange
mit feinen Commilitonen zurüd und verlebte faft _
alle feine Mußeftunden mit Erich und dem Doctor,
zu dem er feit jenem erflen Abende im Heiden⸗
brud’fchen Haufe in ein näheres Verhaͤltniß ge-
treten war. |
Beide Verbindungen gewannen bald einen
entfchiedenen Einfluß auf ihn und feine Beſtre—
bungen. Erfchloß ihm der Umgang mit Eridy
und deſſen Familie den Blick für allgemeine Bil-
dung, machte er ihn gerecht gegen dad Gute,
welches die bevorzugten Stände in ihrer glüd-
lichen Rube in fich zu entwideln vermocdhten, fo -
erhielt der Doctor in ihm das Gefühl rege, daß
die Möglichkeit ähnlicher Bildung für Alle zu er- '
leichtern, gerade die Aufgabe Derjenigen fei, weldhe
aus dem Volke hervorgegangen wären, und wie
Friedrich’5 war das des Doctord Fall.
|
As Jude geboren, hatte der Doctor aus ſei⸗
nen erften Lebensjahren die Erinnerung an eine \
druͤckende Armuth in feinem Gedächtniffe bewahrt, \
obfchon der Fleiß feiner Eltern es fpäter zu Ver» |
L
131
mögen gebracht hatte, und dem Sohne alle Mittel
zur Ausbildung feines Geiftes gegeben worden
waren. Selbft mit jener eifernen Ausdauer, mit
jener unermüdlich thätigen Geduld begabt, bie
einen Dauptzug in dem Wefen de3 jüdifchen
Volksſtammes bilden, hatteBernhard, der Sorge
um das tägliche Brod enthoben, fih früh dem
Leiden der Menfchen zugewendet, und leiblicher
und geiftiger Noth zu feuern geftrebt, wo jie
ibm begegnet waren. Er kannte die Erfte aus den
Zagen feiner Kindheit, er Fannte die Andere durch
die Unterbrüdung feines Volkes, durch die Krän-
tungen und Behinderungen, welche er als
Sohn diefes Volkes auf feinem Lebenswege erfab-
von hatte. Kaum in das Mannesalter getreten,
war er der unermüdlichfte Arzt der Armen, der
taftlofe Arbeiter für die Emancipation der Juden,
und durch Ueberzeugung und Erfahrung ein
Menfchenfreund, ein freier Menſch gemorden.
Ohne an fich und feinen perfünlichen Vortheil
iu denken, gemeinnügig thätig, errang er Dadurch
die größten Vortheile für fich ſelbſt. Er war
gefucht als Arzt, geachtet als Menfch, und hatte
y.
— — —— — — —
fuͤr ſeine Perſon von der Geſellſchaft die Eman⸗
cipation erlangt, welche der Staat damals den
Juden noch verſagte. Vor Allem ſchaͤtzte man
ihn im Heidenbruck'ſchen Hauſe, deſſen Arzt er
war, und ſein Urtheil uͤbte einen weſentlichen
Einfluß auf die Anſichten faſt aller Familienglie⸗
der aus.
Es war ein paar Tage vor dem Weihnachts⸗
fefte, ald Erich und Friedrich eines Abends an
die Thuͤre des Doctors Elopften, den fie, wie faft
immer, einfam und mit feinen Arbeiten befchäf: .
tigt fanden. Dennoch nöthigte er. fie angelegent⸗
lich zum Bleiben. Er fchien ungewöhnlich zur
Mittheilung geneigt und fchloß feine Aufforderung,
ihren Befuch zu verlängern, mit den Worten:
»Drei machen ein Collegium, und Ihr Heiland
bat ja auch erflärt, daß, wo Drei beifammen
wären, er unter ihnen fei! So laffen Sie uns
denn beifammen fein und plaudern, dad wird ein
gottgefällig Unternehmen werden !«
»Ich bewundere ed an Ihnen, Herr Doctor!«
Außerte Sriedrih, während Bernhard feinen
Gäften Cigarren anbot und Wein bringen ließ,
133
»daß Sie in jedem Augenblicke fo bereit find,
Ihre Arbeit aufzugeben, wenn ein gefelliger An-
ſpruch an Sie gemacht wird.«
»Und iſt denn für Andere leben, ift denn über-
haupt ald Menfc mit dem Menfchen fprechen,
nicht auch eine fürderfame, mitliche Arbeit?«
fragte Bernhard.
»Fuͤr uns in dieſem Falle gewiß!« bemerkte
Erich, dem folche Höflichkeit der Form durch feine
Erziehung zur Natur geworden war.
Der Doctor lächelte. »Eure Höflichkeit er-
freut mich fehr, ich bin ein Menfch wie And’re
mehr!« rief er, den Wein einfchenkend, und ber
junge Edelmann felbft fühlte, daß die allgemeinen
Redeformen, wie alles Allgemeine, im befonderen
Falle Eomifch fein Eönnen. Auch fprach der Doc-
tor diefe Bemerkung offen gegen ihn mit dem
Zuſatze aus: er möge aus diefem kleinen Bei⸗
fpiele einen Schluß ziehen für die Unterredung,
welche Bernhard neulich mit dem Baron über
allgemeine Regeln, fefte Srundfäge und beftehende
Ordnungen gehabt habe, und in welcher der
134
Baron dem Doctor den Vorwurf gemacht, ein
Feind alles Beftehenden zu fein.
»Das find Sie auch wirklich,«“ rief Erich,
»aber die Aerzte find von jeher die fchlimmften
Revolutionäre gewefen!«
»Was nennen Sie revolutionär, lieber Erich?
Das ift ein vieldeutiger Begriff!«
»Ich nenne das Prinzip und den Menfchen
revolutiondr, die fich dem Beftehenden feindlich
entgegenftellen, wie Sie.«
»Laflen wir das gelten, obfchon die Erklärung
nicht die richtige ift, nur laſſen Sie mich diefelbe
aus den Bereichen vervollftändigen, in denen ich
mich am meiften heimifch weiß. Wir ziehen ja
doch unfere Erkenntniß, unfere Bilder für diefel-
ben am ficherften aus den Sphären, die und zu-
nächft umgeben: der Landmann aus der allgemei-
nen Natur, der Gelehrte aus dem fpeciellen Fache
feines Wiſſens. Meine Erkenntniß, meine An-
fhauungen der Weit und der Menfchen, der Ze-
benöprinzipien und der aus ihnen folgenden Ge⸗
feße des Menfchenverbandes zur Herftellung eines
135
vernünftigen Staates, danke ich zumeift der
Beobachtung des menfchlichen Organismus.«
»Und hat diefe Sie revolutiondr gemacht,
wie mein Freund ed nennt?« fragte Friedrich.
»Ja!« entgegnete der Doctor. »Ich habe ein-
fehben lernen, daß der menfchliche Organismus
fein’ felbftändiges, um feiner felbft willen aus-
Schließlich gefchaffenes Wefen, fondern ein heil
des Weltalls ift, mit dem er in dem engften,
fortdauernden und unauflöslichften Zufammenhange
fteht. In der Natur ift Nichts beftehend und
dauernd, als ihre nie endende Thaͤtigkeit in Auf-
löfung und Neugeftaltung der vorhandenen Ele:
mente. Ebenfo ift es im -menfchlichen Organis-
mus und ed muß fo in ihm fein, denn etwas
Unbewegliches koͤnnte ſich in der allgemeinen Be-
wegung nicht felbftändig erhalten. Iſt das aber
mit dem einzelnen Menfchen der Fall, fo muß es
auch daflelbe fein mit der Gefammtheit der Men:
(hen. Sie erzeugt ſich neu in fich felbft, fie er-
zeugt neue Gedanken und Beduͤrfniſſe mit ihrer
fi) umflimmenden Organifation, fie bedarf alfo
neuer Befriedigungen für ihre neuen Bebürfniffe.
136
Da haben Sie den Weg, auf dem die Mediziner
Männer der Bewegung und Ungläubige gegen
das Beſtehende werbden.«
»Damit erklären Sie,« fagte Friedrich, »die
Revolutionen ald den nothwendigen und eigentlich
natürlichen Zuftand der menfchlichen Gefellfchaft,
und ftoßen alles Recht ded Beſtehenden um, das
die Vorſehung unter und hat werden und ge⸗
deihen laflen!«
»Die Borfehung?« fragte der Doctor, und
Erih rief: »Sie freilich find ein Atheift und
glauben nicht daran !«
»„Nein!« antwortete der Doctor beftimmt,
»aber lafien wir auch dad, da Sie Beide daran |
glauben, und bleiben wir bei dem Kapitel von
der Revolution.«
“ Friedrich erfchrat, als er die Gleichgültigkeit
gewahrte, mit welcher Bernhard über den Glau⸗
ben an eine Vorfehung, an einen perfönlichen
Gott hinwegging, den er als eine Bedingniß ſei⸗
nes Lebens und Strebend empfand. Der Doctor
ſchien ihm plöglich fremd, der Freund räthfelhaft,
daß er jene Behauptung mit einem Lächeln hin-
»
nehmen konnte, und ganz verwundert rief er:
„Wie ift Ihnen, Ihnen gerade die Art Ihres felbft-
loſen Wirkens möglich, ohne den Glauben an Gott
und feinen Beiftand? Wie können Sie Fuß
faflen in der Welt, wenn Ihnen das Fundament
des Glaubens an einen Allmächtigen entzogen ift,
der fie erhält und leitet?«
Der Doctor ſah ihm Mar und groß in’s
Auge und fagte mit ruhiger Würde: »Und wenn
ich ein fefteres Fundament ennte, einen flärferen
Glauben befäße?« — Dann aber brach er plößlich
ab, ließ auch Friedrich, mit der Derrfchaft, welche
er über die jüngeren Männer ausübte, zu Feiner
Entgegnung kommen, fondern nahm die frühere
Unterhaltung wieder auf.
»Sie meinten,« fprach er, »ich erkläre bie
Revolution für den gefunden Zuftand des Staa-
tes, darin irren Sie. So wenig ich den Blut-
furz ald den gefunden Zuftand des Körpers an-
fehe, der zuweilen eine heilfame, immer aber eine
bedenkliche und gefährliche Krifis der fich felbft
helfenden Natur ift, fo wenig halte ich die Re=
volution für etwas Gefundes. Sie ift die Krifis
138
einer Krankheit, und muß natürlich entftehen oder
auch Fünftlich herbeigeführt werden, wo bie feh-
lende Chätigfeit des Organismus, wo Uebermaß
oder Mangel, Stodung oder Erfchlaffung und
Veberreizung verurfacht haben, und die fortfchrei-
tende Zerſtoͤrung und Neubildung ded Organis⸗
mus hemmen. Unnatürliches Fefthalten des Be—
ftehenden erzeugt Stockungen, bildet Krankheiten
und Krifen, und weil ich diefe dem einzelnen
Menfchen fo bedenklich halte, ald die Revolutio-
nen der Menfchheit, kin ich ein Feind alles deffen
geworden, wad die Bewegung, das Fortentwideln
hindert. Um Revolutionen zu vermeiden, wünfche
ich die Berflörung deffen, was fie erzeugen muß.«
— Er zog einen langen Zug aus der Gigarre,
füllte auf's Neue die Gläfer der beiden Freunde
und fagte, nachdem er felbft getrunfen hatte:
»Da haben Sie die Geftändniffe eines Arztes!
machen Sie daraus, wad Sie künnen!«
»Fideicommiſſe laſſen fich darauf freilich nicht
gründen!« meinte Erich.
»Wer fagt Ihnen denn, daß man fie grün=
den foll?«
x
— — — — — —
»Sie laſſen ſich auch nicht einmal erhalten!«
»Nun wenn fie fi) vor ben Lehren der ge-
funden Bernunft nicht erhalten laflen, fo geben
Sie fie auf!« lachte der Doctor. »Der Vorfchlag
mag aber freilih für den Erben von Wogau
anderd klingen, ald für unfer Einen, Die wir
ohne das beglüdende Schnedenhaus eines präch-
tigen Majorated mit nadter, Fahler Haut auf
die Welt gekommen find!«
»Was bringt Sie darauf, Doctor?« fragte
Erich, »mich heute fo plöglich ald Majoratöherrn
zu behandeln?«
»Weil mehr davon in Ihnen ftedt, als Sie
glauben; Sie find durch und durch confervativ!«
„Ich wünfche allerdings,«a entgegnete der junge
Baron, »den Beſitz und die Vorzüge, welche mir
als rechtliches Erbe zugefommen find, zu erhalten:
aber ich wurde mich freuen, wenn alle Anderen
gleiche Güter erreichen Fünnten. Sie wiffen, daß
mir das deutſche Kaftenwefen als eine Thorheit
und ein Unglüd erfcheint.«
»Das heißt,« fagte der Doctor, »Sie würden
Nichts dagegen haben, wenn Ihr Freund oder
140
ich, gelegentlich Majoratöherren werden Fönnten,
wie Sie; aber Sie flanden doch Ihrem Bruder
Georg nicht bei, als er das Cadettencorps zu
verlafien und allenfalld lieber Zimmermann als
Offizier zu werden forderte.«
»Weil er mit den Begriffen feiner Erziehung
ſich als Gewerbtreibender unglüdlich fühlen mußte,
und weil er dadurd dem Kreife entzogen worden
wäre, in: dem wir leben! Es wäre Wahnſinn
gewefen, freiwillig fich feiner Rechte zu entäußern,
alle Welt hätte ed getabelt!«
»Ich und viele Andere nicht!« meinte der !
Doctor, »aber Sie fehen das allgemeine Urtheil
nur in dem Kreife Ihrer Umgangsgenoſſen, darin
befteht Ihre Unfreiheit, und doch haben Ste in
Ihrer Familie auch ganz oppofitionelle Naturen,
die innerhalb der ihnen vorgefchriebenen Bahn
zu Feiner ihnen angemefjenen Entwidlung kom⸗ J—
men werden.«
»Deine jüngere Schweſter macht mir aller⸗
dings den Eindrud, als ob fie nicht ganz gti.
lich wäre,« bemerkte $riedrich, der dem Geſoraͤche „I
mit Spannung zugehört hatte.
%
“
141
»Mein Gott!« meinte Erich, mit fichtlicher Un⸗
gebuld, »Gornelie ift zu ug, um nicht einzufehen,
daß fie reizlos ift, und darüber fühlt jeves Maͤd⸗
hen fih unglüdlih. Das ift nicht die Schuld
unferer Samilienverhältniffe oder unferer arifto-
fratifchen Unfreibeit« · °
»Doch, Erich!« fagte der Doctor. »Fände
Cornelie Gelegenheit ſich nüßlich zu machen, fo
würbe fie ſich glüdlic, fühlen. Daß fie Nichts
zu thum bat, Nichts thun fol, als liebenswuͤrdig
fcheinen und ſich an gefelligen Genüffen betheili-
gen, bie fie nicht als folche empfindet, das ift ihr
Unglüd. Ihre Unzufriedenheit ift ihre befte Eigen-
Ihaft.«
»Aber Sie haben Unrecht, fie in den Anſich⸗
ten zu beftärfen, mit denen fie in unferer Familie
nicht durchdringen kann. Sie foll und kann
weder Gouvernante, noch soeur grise, noch eine
bürgerliche Hausfrau werden.« —
»Weshalb nicht?« fragte der Doctor. »Hat
Ihre Tante Windham nicht daffelbe gefonnt?«
»D! die Zeit der romantifchen Liebe und der
Entführungen ift vorüber,« fagte Erich empfind-
142
=
lich, »und meine Schweftern, welche Mängel fie
fonft auch haben mögen, befiben das ftrenge fitt-
liche Gefühl ihrer Mutter. Selbft Corneliens
von Shnen fogenannte Oppofition ift fern von
Möglichkeiten jener Art!«
Damit ftand er auf und der Doctor wechfelte _
den Gegenftand der Unterhaltung. Nur als die.
beiden jungen Männer ihn verließen, fagte er zu
Erih, indem er ihm auf die Schultern Elopfte:
»Machen Sie es fih Hear, Erih, daß Sie ein
eingefleifchter Ariftofrat find, denn es ift weniger
fchädlich für Sie und Andere, wenn Sie wiflen,
daß Sie ed find!« Da man aber heiter mit ein-
ander verkehrt hatte, nahm Erich die Bemerkung
ruhig bin und man fchied freundlich und in befter
Stimmung.
Neuntes Kapitel.
— — —
Die Baronin hatte Friedrich eingeladen, den
Shriftabend in ihrer Familie zuzubringen, wie
Larffen und der Doctor ed feit Sahren thaten, und
Friedrich fand diefe Beiden fehon mit Erich und
den Kindern im Wohnzimmer verfammelt, ald er
um die fiebente Stunde eintrat, während die bei:
den Zochter des Haufes noch fehlten. Mit ge:
wohnter Freimüthigkeit ging Richard ihm entge-
gen, und nahm ihn, als fühle er, daß an die—
km Abende den Kindern die Herrfchaft gehöre,
für fich in Anſpruch.
»Sind Sie neugierig auf Ihre Befcheerung?-
Haste er.
144
»Ja, gewiß, aber ficher nicht fo fehr, als Du
auf die Deine!«
»Ich weiß Nichts von Allem, was ich bekom⸗
men werde,« fuhr Richard fort, »aber was Sie
nicht befommen, weiß ich!«
»Und was ift das?«
»Das Gefchent, um welches die Coufinen
fih heute Morgen geftritten haben!«
»Sie haben fich gar nicht geftritten,« unter-
brach ihn Augufte, die mit dem frühreifen Takte
junger Mädchen eine Ungefchidtheit ihred Betterd
zu ahnen und vermeiden zu wollen fchien. »Es
ift nicht wahr, daß fie fich geftritten haben!« |
Das konnte der Beine Engländer nicht auf
fih figen laflen, daß man ihn einer Unmwahrheit
zieh. Er wurde roth vor Zorn und fagte: »Du
wirft doch nicht fagen, daß ich luͤge! Freilich ha⸗
ben fie fich geftritten um das Geſchenk, dad He⸗
lene ihm geben wollte, und ald Cormelie dage⸗
gen fprach, wurde Helene böfe, wollte dad ganze
Etui vernichten und bat geweint, als Gornelie
das nicht litt, und darauf — —«
Ein Bli auf die fo eben eintretenden Schwer
145
ftern machte den Knaben verftummen, aber $rie:
drich vermochte fie kaum zu begrüßen. Seine Ge:
danken bewegten fich mie fchnelle, leuchtende und
blendende Funken in feinem Inneren. Seit dem
Abende, an dem Helene, ergriffen turd die Er:
zählungen aus Friedrich's Leben, fich ihm zuge:
wendet hatte, war e& ihm gewefen, als fei ein
wunderbares Geftim aufgegangen über feinem
Haupte, und wie der Erwahende am Morgen
mit Entzüden durch den gefenkten Vorhang der
gefchloffenen Augen die Sonne empfindet, wäh:
rend er nicht wagt, fie ihrem vollen Strahl zu
öffnen, fondern fie in wollüftigem Hintraͤumen
auf fi wirken läßt, fo hatte Friedrich hingelebt
feit Wochen, fo empfand er auch in diefer Stunde.
Er fah Helene nicht an, er hätte fortgehen, den
Abend in tiefer Einfamkeit zubringen, fich durch
innere Erhebung heiligen mögen, denn es war
feinem jungen Herzen, als werde fich ihm ein
göttliched Wunder enthullen, als werbe ihm ein
eigener, neuer Heiland geboren werden in diefer
Weihnacht, und er fuhr erfchredt zufammen, als
eine Glocke das Zeichen der Beſcheerung gab, die
Wandlunaen 1. 10
146
Flügelthüren des großen Saales fich öffneten und
der Lichtglanz der Kronen und des Weihnachts⸗
baumes ihm entgegenfunfelte.
Für die Eltern und die Kinder, für die Freunde
der Familie und für die Dienerfchaft des Haus
ſes war mit großem Vorbedachte geforgt, und bie
Befcheerung noch auf eine Anzahl huͤlfsbeduͤrfti⸗
ger Perfonen ausgedehnt, welche man feit Jah⸗
ren befchäftigte und unterflüßte und feit lange
ald zu dem Haufe gehörend betrachtete. Mit der
Genugthuung gütiger Herzen gingen der Baron
und feine Frau von dem Einen zum Anderen,
ihn zu feinem Aufbau hinzuführen, und nachdem
die erſten Minuten des Anmeifend und Empfan-
gend vorüber waren, Fam eine freie, heitere Be⸗
wegung in die Gefellfchafl. Die Eltern erwie⸗
derten bier die Umarmung ihrer Kinder, dort
den Händedrud eined Freundes und nahmen
freundlich den noch wärmeren Dank Derjenigen
bin, denen ein wirkliches Lebensbedürfnig durch
die erhaltenen Gaben befriedigt worden war.
Der Reichthum erfchien hier in einem fchönen
Bilde, da er der Liebe ald Mittel zu ihren Wer:
a er — ——
147
ten diente, und der Weihnachtdabend als ein
wahres Feft zur Erinnerung an ihren Verkuͤndi⸗
ger auf Erden.
Jeder, der ed vermochte, hatte für den Ande⸗
ren geforgt. Die Gefchwifter hatten fich befchentt,
der Doctor hatte ed an Pleinen, anmuthigen Ga:
ben für die Damen nicht fehlen laffen, Larſſen un⸗
bemerkt Sträuße mit artigen Werfen für fie auf
den Weihnachtötifch zu legen gewußt, der Gärt-
ner Eunftreich gezogene Blumenarten und Früh:
gemüfe geliefert, und auch die übrige Diener-
fhaft und die Hausarmen, fo weit fie ed konn⸗
ten, durch eine Handarbeit ihre Anhänglichkeit zu
bethätigen geftrebt. Die Baronin felbft hatte
diefe Gegenfeitigkeit in ihrem Haufe eingeführt,
um Allen neben den empfangenen Gaben die be—
freiende Gemugthuung der Dankbarkeit zu gewah-
ren. Alle Anwefenden waren heiter gehoben,
heimifch in dieſem Kreife, nur Friedrich fühlte fich
[0 gedemüthigt ‚und verlaffen, daß es ihm das
Herz zufammenpreßte in bitterem Weh.
Erich hatte ſich für ihn zeichnen laffen, die
Eltern ihm ein Schreibzeug und eine illuftrirte
10 *
148
Prachtausgabe der Bibel gefchenft, aber weder
Erich's Herzlichkeit, noch die Güte feiner Eltern
konnten die Zraurigfeit aus feiner Seele ban=
nen. Er kam fich armer vor als jemals, weil
er für Niemand eine Gabe hatte: »und fo fern
ftebft du dieſen Menfchen und diefen Verhältnif-
fen,« fagte er fih, »daß dir nicht einmal der
Gedanke gekommen ift, ihnen eine Freude berei-
ten zu koͤnnen, dich ihnen in diefem Punkte
gleichberechtigt zu fühlen!« Er ſchalt fich felbft
eine durch fein Leben erbrüdte Sklavennatur, die
Dienerfchaft duͤnkte ihn freier und ihrer Herrfchaft
ebenbürtiger ald er felbft, und für die geringfte Gabe,
die er in dieſem Augenblide zu verfchenfen gehabt
hätte, würde er Jahre feiner Zukunft geboten haben.
Der Boden, auf dem er ftand, fehien ihm
brennend unter feinen Füßen zu wanken, er nannte
fib mit mwollüftiger Graufamkeit einen Eins
dringling in dieſen Kreis, weil ed ihn fo fehr
fhmerzte, Feine gemeinfame Vergangenheit mit
Erich und den Seinen zu haben, ein Glüd, das
alle hier Verfammelten befaßen, außer ihm. Wie
der Wind eine von ihrem Stengel geriffene
149
Blüthe in die Luft trägt, hatte der Zufall ihn
hierher gefchleudert, konnte der nächfte Zufall ihn
vertreiben, und doch liebte er diefe Menfchen, die
in der Bergeffenheit, welche der Freude eigen ift,
nur mit fich felbft und ihrer Luſt befchaftigt waren.
Mechanifch drehte er die Kupferftiche der Bi⸗
bel um, feine Berlaffenheit zu verbergen, aber er
fahb die Bilder nicht. Wie der Verirrte ber
fiheren Heimath gedenkt, fo dachte er an feine
Eltern, an Regina, die jet nicht in folchen
Prachtgemächern weilten, und die doch nicht fo
ungluͤcklich waren, als er felbft, denn fie hatten
feine verlorene Hoffnung zu beklagen.
»Aber was habe ich denn gehofft?« fragte er
fih und fuhr erfchredt zufammen, als Erich ſich
wieder zu ihm wendete.
»Der näcfte Weihnachtsabend wird uns
faum beifammen treffen,« fagte der junge Ba—
von, »und wer weiß, wann wir einen zmeis
ten gemeinfchaftlich erleben! Es liegt etwas Dä-
monifches darin, daß faft niemals diefelben Men-
hen fich auf diefelbe Art und Weife, die ihnen
äinft lieb geworden ift, wiederfinden koͤnnen. Es
150
ift unberechenbar, welche Wege mein Leben mid)
nach dem Eramen führen wird, und kehre ich
einft zuruͤck, fo fißeft Du hoffentlich auf Deiner
Pfarre und ich komme zur Weihnachtögand zu
Dir heraus !«
Aber felbft diefe gutgemeinten Worte machten
einen unangenehmen &indruf auf Friedrich.
Diefe Landpfarre, auf die Sedermann ald auf
feinen höchften Zweck hindeutete, erfchien ihm plöß-
lich laͤhmend und verhaßt, wie die Ausficht auf
ein unvermeidliches, fchweres Gefchid. Der ganze
Abend verging ihm in Qual und Mißempfin-
dungen, ed fam ihm vor, ald ob alle Anderen,
fih alt und theilnahmlos gegen ihn bezeigten.
Hellene hatte fich mit Ridyard in ein Eünftliches
Zufammenfebfpiel vertieft, von dem fie kaum zu
Friedrich auffah, als er fich ihr ein paar Mal
zu nähern verfuchte, Corneliens Aufmerkfamteit
war durch des Doctord Erzählungen gefeffelt,
der, angeregt durch ein englifched Kupferwerk Ä
mit Anfichten von Amerika, das ihm der Baron
verehrt, ſich in Schilderung amerikanifcher Zus
fände und Sitten erging, während Larſſen, von
151
den aufgeftellten Süßigkeiten nafchenb, ſich bald
wm biefer bald zu jener Unterhaltung wendete,
und nach Friedrich's Anfichten ihm überall ſtoͤ—
rend in ben Weg trat.
Wenig gewohnt, feine Gefühle und Eintrüde zu
verbergenfonnte, feine Mißſtimmung Niemand ent-
gehen. Sie übte auf den Freund und deſſen Eltern eine
unangenehme Rüdwirkung, die fid bewußt waren,
dem jungen Manne mit Theilnahme und Freundſchaft
die Befcheerungen des Abends vorbereitet zu ha=
ben, und feine Niebergefchlagenheit ald eine Art
von Undank empfanben. Die Frage feines Freun-
des, was ihm fehle, machte den Zuftand nur
noch fchlimmer, fo daß er ed wie eine Befreiung
anſah, ald mit dem eilften Glodenfchlage der
Doctor ſich erhob und man ſich trennte. Schon
fie derfelbe von Friebe;
152
ten Süßigkeiten. Man fchludt es mit fanft-
müthigen, wohlgefälligen Erinnerungen an feine
eigene Kinderzeit, an fein Vaterhaus in fich
hinein, und findet fchlieglih, daß man ſich mit
Ruͤhrung und Eonfect ven Magen verdorben hat.«
Friedrich antwortete nicht. Er hatte Beine .
Erinnerungen mit dem heutigen Abende zu vers
gleichen gehabt, er hatte auf ihn gehofft, wie
auf ein unbekanntes Phänomen der Freude, und
ein ungefannter Schmerz, für den er felbft den
Namen nicht gefunden, war mit erbrüdender
Schwere auf ihn herabgefunfen.
Larſſen, der die Gewohnheit hatte, im Allein-
fein mit fich felbft zu fprechen, vermißte ed aus
diefem Grunde nicht leicht, wenn ihm in der Une
terredung mit Anderen Feine Entgegnung wurde,
fondern ergänzte fich diefelbe nach feiner eigenen
Anficht, und fuhr dann nach einer Weile zu re
den fort: »Der Wein war heute au für bie
Frauen und Kinder berechnet, fhwädlic füßes
Zeug, wobei man fih nad einem Glafe Bier
nder nach einer Bowle fehnt. Komm! laß und
in den Loͤwen gehen, wo die Commune ihren
153
— — — —
Weihnachten hat, damit man nicht vor Faſten
zu einem Kaßenjammer kommt !«
„Es ift zu fpät!« antwortete Friedrich ableh—
nend.
„Mein, alter Zunge! es ift zu früh fo fpieß-
bürgerlich fchlafen zu’ gehen, wenn man ver-
fimmt ift, wie Du. Ueberlaß das den Leuten,
denen Morgend immer eine angenehme Nachricht
fiher ift. .Unfer Eins muß fehen, wie er jeden
Abend den Mißmuth und Xerger des Tages los
wird, denn der nächfte Tag bringt neuen, ver:
laß Dich darauf! Sei Bein Thor und gehe fo
miferabel zu Bett; komm mit herein!«
Friedrich fühlte fi) fo dumpf und ſchwung⸗
los, daß er fich überreden ließ. Er hoffte, die
Luft der Andern folle ihn zerftreuen. Und luſtig
genug ging ed in dem Saale her, in den fie
traten und in dem diejenigen Mitglieder Der
Commune ſich den Weihnachtsbaum bereitet hat
ten, welche, ohne Kamilienverbindung in der Stadt,
den Abend doch nicht einfam verleben wollten.
Unter einem großen Zannenbaum, an dem
noch bie und da ein Lichtftümpfchen brannte, hier
154
eine zurüdgelaffene Citrone, dort eine Traubro:
fine hing, flanden in wuͤſtem Durcheinander leere
Bouteillen und Gläfer umber, während auf
dem Tiſche in einem großen Keffel über einer
Spirituöflamme neue Punfchvorräthe gebraut
wurden, bie ein langer, bartiger Student, als
Weihnachtsmann phantaftifch herausgepußt, in
die großen Gläfer füllte, welche mit bewunderns⸗
werther Schnelligkeit geleert wurden. Ein ges
mifchter Geruch von Arrak, Eitronen und Wein
machte fich felbft durch die Tabakswolken und
den Dampf der Spiritusflamme bemerflih, und
lautes Lachen empfing die Kommenden, ald Larfe
fen mit einem:
»Du beiliger Chrift, ich bin Dein Gaft,
Kredenz mir, wad Du gebrauet haft!«
k
in dad Zimmer trat und dem Weihnachtömanne \
das erfte befte Glas zu füllen reichte, das ihm ‘
in die Hände gefommen war. Er fchlürfte den '
heißen Trank fo fchnell als möglich hinunter, *
ließ fein Glas gleich ein paar Mal hintereinans ’
der wieder voll gießen und rief, nachdem er das 3
dritte geleert: »Gottlob! nun wird mir wieder;
155
wohl, nun find alle gebildeten Erinnerungen,
aller Familienfegen mweggefpült und man ift wie:
der ein Menſch geworden! Seht nur zu, daß
Ihr dem Brand auf die Beine helft, denn der
ift auch hoͤlliſch herunter!«
Ganz gegen feine fonftige Art hatte Friedrich
mit der bewußten Abficht, fich zu übertäuben und
fi in die Stimmung feiner Umgebung zu ver:
ſetzen, Larſſens Beifpiel nachgeahmt und fühlte
mit Luft, wie dad heiße Getränk fein Blut er-
regte, feine Pulfe fchneller Plopfen machte.
Larſſen fah es mit Freude. »Heute fange ich
an zu glauben, daß aus Dir doch noch ein or:
dentlicher Paftor werden wird,« rief er, »und es
thut uͤberhaupt meinem Herzen wohl, daß bie
Mehrzahl der hier verfammelten lieben Jugend
aus Zheologen befteht. Da hat man doch Hoff:
nung, daß Gottes Wort mit Verſtand gepredigt,
und den armen Bauern, die fich die Woche über
die Knochen lahm gearbeitet, nicht am Sonntag
Buße und Kafteiung des Fleifches gepredigt
werden wird. Auf luftige Sonntage, auf menfc-
lihes Gepredige!«
156
Die Theologen fließen an, und Einer von
ihnen, der für den wildeften Gefellen der Univer-
fität gehalten wurde, erhob fich zu einer Probe:
predigt, in der tolle Blasphemieen und wuͤſte
Einfälle einander jagten und ein unmäßiges La—
chen der Uebrigen erregten. Auch Friedrich, ob-
ſchon folcher Parodie deflen, was er heilig hielt,
im Inneren gänzlich abgeneigt, hatte fich des La⸗
hend nicht erwehren koͤnnen; nur als Iener geen⸗
det hatte, fagte er ihm: »Nimm Dich in Acht!
Du wirft ein Pietift werden!«
Ein neuer Ausbruch von Lachen erfolgte die⸗
fer Behauptung. »Eher ein Scharfrichter!« ſchrie
der Redner, und Larſſen fagte: »Was ift ein
Scharfrichter anderes, als ei Mann, der fcharf
richtet? Scharfrichterei in weltlichen Dingen ift
Pietismus, lieber Junge! Aber Brand ift bes
trunfen, endlich einmal betrunfen, denn er redet
in Zungen, in ven Zungen des heiligen Wein⸗
geiftes — er prophezeit!« j
»Nein!« rief Friedrich, »ich bin nicht betruns
fen! Muß man betrunfen fein, um zu wiſſen,“
daß Spott über folche Dinge fich in fein Gegens
157
l verwandeln muß? Seht und hört Ihr denn
t das fireng Dogmatifche in diefem Spöt-
der dad Dogma verhöhnt, weil feine
schtfchaft unter daffelbe ihn beängftigt? Ihr
det es erleben, daß er und verfegert, wenn
nicht an die Mirakel glauben, — Sr wer:
ed erleben! — «
»Ein Mirakel! ein Mirakfel!« rief es von
er anderen Seite, »Brand redet in Zungen.
» prophezeit! Wir wollen ihn unter die Bei-
ı Propheten aufnehmen!«
»Und Larffen unter die Großen!«
»Ja, unter die großen!« rief Larfien. »Mehr
nf ber, damit ich voll werde des Geiftes
d Raͤthſel loͤſe und Wunder wirke wie ein
ophet, wie ein olympiſcher Gott, wie ein
hrſagender Apollo!«
»Ein Apollo!« wiederholte der Chorus, und
rien, der bereits weit über fein ohnehin reich:
es Maaß getrunken hatte, fprang auf, riß den
yerrod® vom Leibe, die Cravatte vom Halle,
ıch zwei Zannenzmweige vom Weihnachtöbaume
d bog fie zum Kranze zufammen, den er fich
158
auf dad Haar drüdte Dann flieg er auf.
den Tiſch, feßte fi) auf den Stuhl, den früs
ber der Weihnachtsmann vingenommen, fo
dag er den rauchenden Keffel vor fich hatte,
und rief: »Kommet zu mir Shr Alle, Denen
der Genuß der Gegenwart ein unverflandenes
Problem und die Zukunft ein dunkles Geheim:
niß ift, daß ih Euch die Gegenwart erheitere
‚und die Zukunft verfünde, denn ich fage Euch, |
wenn Ihr die Gegenwart nicht zu genießen vers Ä
fteht, fo ift Eure Zukunft für Euch verloren! Und | |
ed find Viele unter Euch, deren urgermanifche.
Beſtialitaͤt nicht Stand halten wird vor der Ver⸗
fuͤhrung ehrbarer Philiſterei und vielverſprechen⸗
der Transſcendenz! Ich aber werde ſtehen, wenn
Ihr Alle gefallen ſeid, mein Haupt bekraͤnzt wie
in dieſer Stunde, und ein Apollo werde ich vow
der Vergangenheit erzählen, von allen entſchwun⸗
denen Semeftern, von allen braven Burſchen—
die ein Paftor als Charon über den Acheron bei
Brautftandes in den Styr. der Polizeiche führte.
in dem fie untergingen in Chrbarkeit und Ver
gefienheit. Und ich werde emiges Leben un—
u
159
Sugend dem verfünden, der mit mir blei-
ewiger Student, nie endende Sympofien
nach Art der göttlichen Hellenen !«
ne Spradye wurde undeutlich, er wieder:
rwirrt das Wort Hellenen mebrmalß, aber
ochte Feine Fortfeßung zu finden. »Die
n Hellenen!« rief er immer und immer
bis fein Auge auf Friedrich fiel und er,
tex.Kraft zufammenraffend, in die Worte
h: »Da fist der Paris, der um die fchöne
freit!« |
? von einem Dolchſtoße getroffen, zudte
h zufammen, fprang empor und verließ
‚mach.
Zehntes Kapitel.
Als verfolge ihn ein böfer Geift, fo raftlos
eilte Friedrich durch die Straßen. Ein dichter
Schnee, vom feuchten Winde getrieben, wirbelte
in der Luft und flog kalt gegen dad Geficht des
Sünglings, er bemerkte es nicht. Athemlos er:
reichte er feine Wohnung, und erft ald ihn die
Einfamteit feined Pleinen Stuͤbchens umfing, rief
er fo gepreßt, al ringe fich der Ton gewaltfam aus
den innerften Tiefen feiner Bruft hervor, den
Namen, der feit Wochen allein in ihm gelebt,
den er nicht auszufprechen gewagt hatte vor fih
felbft, den Namen der Geliebten: »Helene!«
Und immer leifer, immer inniger wieberhalte |
161
re den theuren Namen, bis heiße Thränen aus
inen Augen flürzten, denn das Bewußtwerden
er Liebe. war dem Juͤnglinge ein Schmerz, er
tzitterte unter biefer gewaltfamen Umgeftaltung
eines Weſens. Dann fehlug aber eine helle
freude in feinem Herzen empor. Ja! das war
ie Weihnacht, die er erwartet! Ihr Wunder hatte
ih an ihm erfüllt, in niebriger Umgebung, die
Richtö ahnte von der Herrlichkeit, war ihm der
Stern erfchienen, dem er fortan folgen mußte
ur und für.
Legt plöglich wußte er Alles, was ihn be=
vegt, erfreut, gepeinigt, jetzt verfiand er fich
elbft.
Als der Tag anbrach, wurde er ruhiger. Er
rat an's Fenſter und lehnte die brennende Stirne
mn die Scheiben. Der Plargewordene Himmel
eganın fich röthlich golden zu färben. Durch⸗
euchteter Rauch wirbelte aus den Eſſen Eerzen-
rade in die Winterluft empor, der Schnee auf
en Dächern funkelte in der auffteigenden Sonne.
sm Nachbaröhaufe öffnete man die Laden, e&
yohnte ein Gerber darin, ein Freund feines Va—
WBandlungen 1. 11
162
terö, der den Kopf herauöftedte, dad Wetter zu
prüfen, und Friedrich freundlich zunidte, da er
ihn gewahrte. Das gefchah an jedem Tage, heute
aber wunderte der Süngling fich darüber, eben
weil ed das Alltägliche war, und das Alltägliche rief
ihn in die Wirklichkeit zurüd. Er fah die Kluft,
die ihn von Helene trennte, er mußte fich ihrem
Bruder, dem Freunde anvertrauen und willen,
was Diefer Davon denfe?
Es war noch früh, ald er das Heidenbrud’-
fche Haus erreihte. Die Dienerfchaft ging in
leifer Gefchäftigkeit umher, die Vorkehrungen für
die Bedürfniffe ded Tages zu treffen; Erich felbft
faß behaglich bei feinem Frühftüd.
»Du kommſt mir fehr erwünfcht,« fagte er;
»ich wollte eben dem Diener ein Billet für Dich
zur Beforgung geben, denn wir fahren Mittags
Ale zu meinem Onkel. Der Graf ift zurüd,
wird ein paar Tage in Steinfelde bleiben, und
da gehen wir Alle auch hinaud.«
»Melcher Graf?« fragte Friedrich.
»Der Graf St. Brezan!«
»Und feinetwegen brecht Ihr Alle auf?«
163
»Es ward verabredet fchon ald er Damals hier
war!« fagte Erich gleihmüthig, während er fich
erhoben hatte und vor dem Spiegel mit der fei-
nen Parifer Bürfte feinem blonden Haare den
legten Strid) gab. »Meine Eltern halten ihn
fehr hoch, und ſolch' junge Excellenz, an allen
europäifchen Höfen heimifch, gefällt ja den Frauen
ein für allemal. Dazu macht er Helenen aud)
den Hof!«
Friedrich antwortete Nichte. Er preßte Die
Hand krampfhaft um die Lehne feines Stuhles.
Er hatte dem Freunde jebt Nichts mehr zu
ſagen. Er verftand nicht, was jener mit ihm
wegen bed erften Balles fprach, der am Sylve⸗
ſterabende ftattfinden follte, und brach plöglich,
trotz Erich's Bitte zu verweilen, mitten in der
Unterredbung auf, von marternder Eiferfucht ge:
trieben.
Unthätig aus Hoffnungslofigkeit, von der
Macht feiner Liebe zu neuem Hoffen und verdop-
pelter Arbeit angefpornt, voll Sehnfucht nad)
dem Anblid der Geliebten und doc bange vor
dem Begegnen mit ihr, befand er ſich in einem
164
fieberhaften Zuftande, ald der Sylveſterabend an=
brach und die Stunde herantam, in der er fidh
für den Ball zu Eleiden hatte.
Seine Eltern waren gefommen, ihn in feiner
Herrlichkeit zu fehen. Während der Vater auf
einem Stuble in der Dfenede Pla genommen,
betrachtete die Mutter mit Wohlgefallen die ein-
zelnen Gegenftände des Galla-Anzuged, und wurde
es nicht muͤde, das feine Zuch des blauen Frads,
ber weißen Gafimir- Escarpins, die Enifternde
Seide der Strümpfe mit taftender Hand zu be-
rühren und fich über die gute Wäfche der Cra⸗
vatte und: der Wefte auszulaſſen. Liebevoll fah
fie zu, wie der Sohn das dunkle, glänzende
Haar über die Stirn ordnete, wie er bie einzels
nen Kleidungsftüde anlegte, überall wollte fie
ibm helfen. Die Liebe des Weibes hat folchen
Genuß an ihrer Dienftbarkeit und die Mutterliebe
vor Allem fühlte ſich beglüdt, dem erwachfenen
Kinde einmal nicht entbehrlich zu fein.
Obſchon ganz erfüllt von dem nahen Wieder:
fehen der Geliebten, das er, nach einem Briefe
Erich's, auf dem Balle zu erwarten hatte, und
165
beunruhigt durch den Gedanken, ob der Graf
noch anweſend fei und die Familie begleiten
werde, ließ der Juͤngling doch die Mutter mit
Hingebung gewähren, wenn fie bald dieſes, bald
jenes an feiner Kleidung zu verbeflern wuͤnſchte
Als er fertig war, den Degen angeftedt hatte
und nun die breite, weißfeidene Schärpe mit den
fchweren Silberfranzen, welche die Entrepreneure
trugen, über die Schultern hing, daß die Enden
lang an ber linfen Hüfte herunterfloffen, da flog
ein Lächeln über feine Züge. Er freute fich fei-
ner eigenen Wohlgeftalt, und fich diefes Gefühles
als einer Eitelkeit fehämend, umarmte er bie
Mutter.
»Sieht er nicht wie ein Prinz aus, Vater ?«
fragte fie den Meifter und reichte Friedrich den
Slaquehut hin.
„Wir hätten auch anders auögefehen, hätten
wir’ gehabt wie er,« entgegnete der Meifter,
»aber wer Tag aus Tag ein an der Hobelbant
fieht oder am Wafchtrog, der behält einen glat-
ten Rüden und Eriegt Schwielen an den Han:
den. Gut für ihn, daß der Junge gefunde Glie-
166
der hat!« Mit diefen Falten Worten gab er dem
Sohne ald Zeichen der Zärtlichkeit einen derben
Schlag auf die Schulter und fagte, fich neben
ihn vor den Spiegel ftellend: »Ich bin doch
noch größer ald er, und fo breitfchultrig wie ich
wird er auch nicht, er bleibt fchmächtig!«
»Er ſchlaͤgt in unfere Familie, die find Alle
mager, aber ed fehlt doc, Keinem was, mir hat
auch Nichts gefehlt all mein Lebetag!« meinte
die Mutter, glüdlich, fi) den Sohn, wenn auch |
durch eine Unvollflommenheit noch mehr angeeig-
net zu finden, »und,« fügte fie hinzu, »ich möchte
ihn wohl im Saale fehen und wiffen, mit wen |
er zuerſt tanzt!«
»Er Fann ſich's ja nicht ausfuchen,« fagte Der
Meifter, ver muß mit der Vornehmſten tanzen.«
»Mer wird das fein?« fragte die Mutter.
»Die Baronin von Heidenbrud,« entgegnete
Friedrich.
»Die alte Frau kann .doch nicht tanzen ?«
»Nur eine Polonaife zur Eröffnung des Balles,
dann kommt der Walzer!«
»Mit wen tanzeft Du den?«
.
u
167°
»Mit Heidenbruf’d Schwefter!«
»Alſo wieder mit der Vornehmſten,« rief der
Bater, »und dann mit der Reichften, und wenn
fie alt und fchief und krumm wären, fo geht's in
der Welt! Ich hab’ Dir's ja gefagt! Und das
rechnen fie fih zur Ehre an!«“
»Iſt Die Schwefter des jungen Barons fo
haͤßlich?« fragte die Mutter.
„Helene häßlich?« rief Friedrich mit einem
folhen Zone des Entzüdens, daß der Vater ihn
fcharf mit feinen grauen Augen anfah und eine
Trage auf den Lippen hatte, ald ein Wagen vor
die Thür rollte und Friedrich fich abmwendete, um
dem Blid des Vaterd auszumweichen. Gleich dar
auf trat Erich's Diener in großer Livree herein,
zu melden, daß der Baron Herrn Brand er:
warte. Die Mutter blidte wohlgefällig zum
Vater herüber, Frierrih gab den Eltern die
Hand und eilte hinaus. Die Mutter wollte ihn
begleiten, der Alte hielt fie zurüd.
»Er hat jaeinen Diener !« fagte er fo laut, daß fein
Sohn ed noch hören konnte, und unter dem Eindrud
168
diefer fpottenden Worte erreichte Friedrich das
Rathhaus, in dem der Ball gefeiert wurbe.
Der Lichtglanz des Saales, die gefchmiüdten
Frauen, die eigene Feſtkleidung hoben feine Stim—
mung, ed war ihm froh und feierlich zu Muthe,
er fühlte die Luft deö Gebietens, Alles was ihn
gehemmt, gebrüdt in diefer Zeit, war von ihm
genommen und mit freudiger: Spannung hingen
feine Blide an der Eingangöthüre, jeder Bewer
gung in den Vorzimmern folgend, die ihm das
Kommen der Geliebten zu verkünden fchien.
Mehrmals hatte er fie zu erfpahen geglaubt, und
immer war fie es noch nicht gewefen. Jetzt plöß-
lich fah er den Kopf des Barons die Umftehen-
den überragen, fein Herz wallte auf, feine Augen
leuchteten, im naͤchſten Augenblide war: er an
Helenens Seite, ihr den Arm zum Eintritt in
den Saal zu bieten.
Schöner war fie nie gewefen, ald in dem
weißen Seidenfleide, deſſen matter Glanz die
Srifche ihrer Farben hervorhob, ald mit der voll:
erblühten Rofe in den Loden, liebreizender war
fie ihm nie erfchienen, als jest, da fie mit den
169
Worten: »Wie lange habe ich Sie nicht gefehen!«
die fchönen Augen zu ihm aufhob.
»Ja lange, lange nicht!« rief Friedrich —
»aber Sie find ja wieder hier!«
»Ich bleibe auch hier!« bekräftigte Helene.
Friedrich athmete auf. Welche Seeligkeit lag für
ihn in diefen Worten! Und wie nun die Trompeten
fchmetterten durch den Saal, wie er die Geliebte
in feinen Armen hielt, abgetrennt von der Menge
um fie ber, fein ganz allein in dieſem Augen-
blide, da war er vor überfluthender Wonne fei-
nes Wortes mächtig. Sie Fannte und fie theilte
feine Liebe, denn fie hatte feine Eiferfucht befänf:
tigt. »Gut wie der Allgütige!« rief er entzüudt,
und ald Helene bei den Worten verwundert zu
ihm emporſah, da traf fie aus feinen Augen ein
jo voller Strahl der Liebe, daß fie zitternd Die
Augen fenfte, und fih Schuß fuchend feſter an
den Arm des Sünglings hing, vor deffen Macht
über fie ihr Herz erbebte.
Sn immer fteigender Freude fehwand den
Liebenden der Abend dahin, auch Eornelie fchien
eine Andere und heiterer zu fein, als fonft. Sie
11 *
170
trug ihr Haupt frei empor und Friedrich fiel es
auf, mit welcher Luft fie tanzte. Sie hatte mehr-
mald gegen ihn auögefprochen, daß der Tanz
ihr keine Freude made und daß fie ihn vermei-
den würde, hätte man ihr nicht verboten, fich
davon auszufchließen. Er erinnerte fie an ihre
frühere Behauptung und fragte, wodurch dieſe
Veränderung in ihr bewirkt worden fei.
»Nun,« entgegnete fie ihm, »da Ste mid) fo
ehrlich fragen, will ich Ihnen ebenfo ehrlich ant⸗
worten. Sch habe in Steinfelde die Bekannt⸗
fchaft eines Mannes gemacht, der mir eine an-
dere Anficht über die meiften Dinge beigebracht
hat, die mir zuwider waren, weil fie mir fo leer
und oberflächlich fehienen !«
»Und wie ift ihm das gelungen?«
»&r hat mir bewiefen, man thue Xeußer-
lichkeiten zu viel Ehre an, wenn man fie mit
Abneigung betrachte, und es fei ebenfo thöricht,
ſich gegen fie zu fträuben, als fie mit Vorliebe
zu fuhen. Man müffe ſich gewöhnen, fie mit
Sleichgültigkeit zu behandeln und feine Seele ge-
gen ihren Einfluß ftählen, wie man feinen Kör-
171
per abhärte gegen die Einwirkungen eines Wit-
trungäwechfeldö, denen man fich nicht entziehen
fönne.«
»Und darum gewährt Ihnen der Tanz mehr
Sreude ald biöher?«
»Ich habe nicht mehr das Mißgefühl, wel:
hes ich fonft dabei empfand. Ihnen darf ich
a8 fagen, denke ich, da ich ed Ihnen gegenüber
yeniger hegte, ald im XAllgemeinen.«
„Aber worin beftand denn dieſes Mißgefühl?«
richte Friedrich weiter.
»In dem Bemwußtfein meiner Häßlichkeit!
(ber auch diefe habe ich als etwas zu Wichti-
ed angefehen!« antwortete Gornelie Mt einer
eftigen Selbftüberwindung, die ihr Geficht mit
unfler Röthe überzog.
Friedrich betrachtete fie mit Verwunderung,
er gewaltfame Freimuth Eleidete fie vortrefflich,
3 war ald hätte man einen Bann von ihr
enommen, fo ſtolz und ficher blidte fie um⸗
er.
»Und wer ift der Mann, der diefe Aenderung
hrer Anfichten bewirfte?« fragte Friedrich.
172
»Es ift ein Herr von Pleffen, Sie werben
ihn kennen lernen, da er uns befuchen wird, fo-
bald er in die Stadt zurüdkehrt.«
»Wer wird und befuchen?« fragte ihr Bru—
der, der diefe lebten Worte gehört hatte, da bie
Paare nach beendetem Tanze nahe aneinander
vorübergingen.
»Herr von Hleſſen!« antwortete fie mit einem.
Zone der Vertheidigung, ald wolle fie einen An-
gegriffenen aufrecht erhalten. Indeß Zriedrich
achtete nicht weiter darauf, denn er wurde mit
Schreden gewahr, daß die Baronin fich erhob,
daß die Töchter nach ihren Mantillen griffen,
lange ehe der Gotillon begann.
»Die Deinen gehen fort,“ rief er beftürzt
feinem Freunde entgegen, »und Deine ältefte
Schmefter hat mir den Cotillon verfprochen !«
»Sie ift immer diefelbe!« lachte Erich, waͤh⸗
rend fie fich zu den Damen verfügten, und ge—
gen Helene gewendet fragte er: »Haft Du vergef-
fen, daß die Eltern niemald bis zum Cotillon auf
dem Balle bleiben, Helene? Wie Fonnteft Du
Dich dazu verfagen?«
173
»Ich hoffte, die Mutter würde eine Aus-
nahme machen !«
»Und weshalb das?«
»Weil ich es wünfchtel« antwortete fie mit
einer folchen Anmuth, daß Erich, beftochen von
ihrem Liebreiz, felbft einen Verſuch machte, Die
Eltern zu längerem Verweilen zu beftimmen.
Da es ihm nicht gelang, fagte er fcherzend: »Du
fiehft nun, Friedrich, was man von den Verfpre:
hungen diefes leichtfinnigen Mädchens zu erwar:
ten hat!« aber diefe arglofen Worte machten
einen peinigenden Eindrud auf den Freund und
auf die Schwefter. Er begehrte einen Wider:
ſpruch von ihr zu hören, Helene ihm feinen
Zweifel gegen fich zu laffen, und alö er ihr in
den Wagen half, ald ihre Hand in der feinen
ruhte, fagte fie leife, kaum hörbar felbft für das
Ohr des Liebenden: »Ich bin nicht leichtiinnig !«
Dann entfhwand fie feinem Auge, der Wa—
gen rollte davon und der Süngling blickte ihr
nach, eine ungeahnte Seeligkeit im Herzen.
Elftes Kapitel.
Während dies neue, flille Liebesleben das Das
fein des Juͤnglings verfchönte und Helene fich
ohne vorwärts zu bliden in dem Zauber der Ges
genwart wiegte, fah Friedrich fich zu einer erhoͤh⸗
ten Schätigkeit gezwungen, da fein Vater ſchwer
erkrankt war und jest die Sorge für den Unter-
halt der Eltern ihm allein oblag. Aber die Ju⸗
gend beſitzt eine Schnellfraft, welche alle Ans
ſtrengungen fpäterer Jahre übertrifft. Obſchon
des Erwerbes wegen genoͤthigt, die Zahl der Un⸗
terrichtsſtunden, welche er ertheilte, faſt zu ver⸗
doppeln, ſetzte er die Vorbereitungen fuͤr ſein
Examen fort und arbeitete mit hoͤchſtem Eifer an
175
der Loͤſung einer Preisaufgabe, die begonnen zu
haben, er felbft dem Freunde verheimlichte.
Von Jugend auf gewöhnt, den Unterfchied
der Stände und der. Lebendverhältniffe ehrend
anzuerkennen, war er ſich der. Kluft bewußt,
welche ihn von der Geliebten trennte, er fagte
fih, daß e8 Thorheit fei an ihren Beſitz zu den⸗
fen, Thorheit ihr von einer hoffnungslofen Liebe
zu fprechen, ein Unrecht fie in ein Verhältniß zu
verloden, das ihre Eltern niemals billigen, das
felbft Erich, trog feiner Treue für den Freund,
zum Gegner haben würde, und doch blidte er
firebend und hoffend in die Zukunft, doch trach-
tete er ſich auszuzeichnen, feine Laufbahn fo fchnell
ald möglich zu vollenden, um Helenens willen.
Die Abende, welche er meift im Kreife ihrer
Eltern zubrachte, waren fein Lohn für die Mühe
des Tages und gewannen an Bedeutung und
Anregung, feit Herr von Pleflen ein Gaft des
Haufed geworden war. Ohne Vermögen, hatte
feine Familie ihn für das Militair beflimmt, aber
er hatte diefen Beruf verlaffen und fich dem Stu:
dium der Theologie zugemendet, da feine fhwache
176
Gefundheit ihm zeitig den Glauben an einen
frühen Zod, und damit die Neigung zu ernften
Betrachtungen über dad Wefen und die Zukunft
des Menfchen gegeben hatte.
Es war noch im Laufe des Winters, als
Friedrich ihn zum erſten Male fah, da er an einem
Sonntage früher ald gewöhnlich dad Heidenbrud-
fhe Haus beſuchte. Er fand ihn mit Gornelie
allein, in einem nachdenklichen Schweigen, das
nur die Folge eined tiefgehenden Gefpräches fein
konnte. Als die Männer einander vorgeftellt
wurden, bot Pleflen dem Ankommenden die Hand
und fagte: »Mich duͤnkt, wir find uns Feine Frem⸗
den mehr, und wären wir ed, fo müßte der ge-
meinfame Beruf und dad uns ebenfo gemeinfame
Streben nach Selbflveredlung uns doch bald vers
binden !«
Es lagen ein milder Ernft und eine gewin-
nende Freundlichkeit in den Worten, die einen
fehr angenehmen Eindrud auf Friedrich machten,
und ſchon nad wenig Augenbliden fand er fich
in eine Unterhaltung verwidelt, die ihn ſpan⸗
nend feffelte,
177
1 »Ich habe einige Jahre von unſerer Vaterſtadt
sp entfernt gelebt,« ſagte Herr von Pleſſen, »und
bin uͤberraſcht geweſen, unter unſeren Mitbuͤrgern
bei meiner Ruͤckkehr einen Luxus und eine Ver⸗
gnügungsfucht herrfchend zu finden, melde ich
in derfelben fonft nicht beobachtet. E8 ift jekt
bier, wie in fo vielen großen Städten, man
lebt in oberflächigen Genuͤſſen das Dafein hin,
als ob es allein darauf ankaͤme, fih am Tage
zu übertäuben, um die Nacht ermüdet zu ver-
Schlafen. Sened Ringen nad) fittlicher Entwick⸗
lung, nach einem höheren, geiftigen Ziele, von
dem man im Baterlande zu Anfang dieſes und
zu Ende des vorigen Jahrhunderts fo tief erfüllt
war, daß es fich noch heute in der Literatur je=
ner Epoche deutlich ausfpricht, davon ift Feine
Mede mehr, Der Sinn für ein höheres Leben
ift in Deutfchland faft nirgend mehr vorhanden.«
»Und ift er Ihnen im Auslande lebhafter er:
fchienen ?« fragte Zriebrich.
»Sa! viel lebhafter. England ift entfchieden
idealiſtiſch, d. h.religiös, man forgt für feine Seele,
man iſt fich ihres Zuſammenhanges mit ihrem
Wandlungen. I. 12
170
trug ihr Haupt frei empor und Friedrich fiel es
auf, mit welcher Luft fie tanzte. Sie hatte mehr-
mald gegen ihn auögefprochen, daß der Tanz
ihr Feine Freude mache und daß fie ihn vermei-
den würde, hätte man ihr nicht verboten, fich
davon auszufchließen. Er erinnerte fie an ihre
frühere Behauptung und fragte, wodurch diefe
Beränderung in ihr bewirkt worden fei.
»Nun,« entgegnete fie ihm, »da Sie mich fo
ehrlich fragen, will ich Ihnen ebenfo ehrlich ant-=
worten. Ich habe in Steinfelde die Bekannt-
fhaft eines Mannes gemacht, der mir eine an⸗
dere Anficht über die meiften Dinge beigebracht
bat, die mir zuwider waren, weil fie mir fo leer
und oberflächlich fchienen !«
»Und wie ift ihm das gelungen?«
»Er hat mir bewiefen, man thue Aeußer⸗
lichkeiten zu viel Ehre an, wenn man fie mit
Abneigung betrachte, und es fei ebenfo thöricht,
fich gegen fie zu flräuben, ald fie mit Vorliebe
zu ſuchen. Man müffe fi) gewöhnen, fie mit
Sleichgültigkeit zu behandeln und feine Seele ge-
gen ihren Einfluß ftählen, wie man feinen Kör-
179
nachft im Auge hat, aber ift dies errungen, fo
wird man, wenn ich mich nicht ganz in dem
Charakter jenes Volkes täufche, fich von der frei-
gewordenen Erde zum Himmel wenden, und aus
der göttlichen Gnade die Kraft gewinnen, bie
irdifhen Dinge durch Liebe und Frieden zur Hei⸗
ligung zu bringen.«
»Und. erwarten Sie diefen religiöfen Auf:
ſchwung von den Proteflanten oder von den Ka⸗
tholiten ?« fragte Friedrich.
Pleſſen blidte ihn eine Weile prüfend an und
entgegnete dann nach einem Eurzen Nachdenken:
»Ich weiß nicht, in wie fern ich Damit gegen Shre
Ueberzeugungen verftoße, wenn ich Ihnen be=
Eenne, daß ich die religiöfe Erhebung der Zukunft
zunächft von dem Katholiciömus erwarte.«
»Bom Katholicismus?« rief Gornelie betroffen,
»und Sie find ein flrenger Proteflant !«
Ohne darauf beflimmt zu antworten, fagte
Pleſſen: »Der Proteftantismus, aus dem unfere
neue Philofophie hervorgegangen ift, hat gerade
durch dieſe lebtere die Menfchen flumpf und
einfeitig gemacht, und da die Deutichen fich vor:
12*
172
»&8 ift ein Herr von Plefien, Sie werden
ihn Eennen lernen, da er uns befuchen wird, fo-
bald er in die Stadt zurüdkehrt.«
»Wer wird und befuchen?« fragte ihr Bru-
der, der diefe letzten Worte gehört hatte, da Die
Paare nach beendetem Tanze nahe aneinander
vorübergingen.
»Herr von Hleſſen!« antwortete fie mit einem.
Zone der Vertheidigung, ald wolle fie einen An-
gegriffenen aufrecht erhalten. Indeß Friedrich
achtete nicht weiter darauf, denn er wurde mit
Schrecken gewahr, daß die Baronin fich erhob,
daß die Töchter nach ihren Mantillen griffen,
lange ® der Gotillon begann.
»Die Deinen gehen fort,« rief er beſtuͤrzt
feinem Freunde entgegen, »und Deine ältefte
Schweſter hat mir den Eotillon verfprochen !«
»Sie ift immer diefelbe!« lachte Erich, wäh:
rend fie fich zu den Damen verfügten, und ge-
gen Helene gewendet fragte er: »Haſt Du vergef-
fen, daß die Eltern niemald bis zum Cotillon auf
dem Balle bleiben, Helene? Wie konnteſt Du
Dich dazu verſagen?«
181
nflitutionen und Schranken, deren der Menfch
icht wohl entrathen kann.«
»Und welche find da8?« forfchte Cornelie.
»Bor allen Dingen die tägliche Andacht und
er Befuch der Kirche. Es ift unfchägbar, daß
er Menfch in den geheiligten, edel fchönen Raͤu⸗
ıen einer Kirche täglich, und wäre ed auch nur
ir wenige Minuten, abgetrennt wird von dem
rftreuenden Tagewerk, von dem Drängen und
Yaften des Alltagslebens, daß feine Seele durch
Bere Nöthigung gewöhnt wird, ihrer felbft all-
‚glich zu gedenken und fich ihres erhabenen Urs
rungs zu erinnern. Bweitend aber halte ich
ich eine Autorität in Glaubendfachen für ein
luͤck, weil fie, dem Menfchengeifte und feinem
uchtlofen Forſchen Schranken feßt.«
Friedrich, obfchon felbft von Herzen gläubig,
flritt diefe Anficht. Er meinte, dem Gläubigen
nne die Forſchung nur Beftärkung feined Glau⸗
nd gewähren; jedoch Herr von Pleffen ließ fich
durch nicht irren, und fo ernfthaft Iener auch
8 Recht der unbefchränkten Forſchung zu ver⸗
ten wußte, blieb fein Gegner dabei, jedes For⸗
182
hen fruchtlos und gefährlich zu nennen, das fich
auf dad eigentliche Weſen des Menfchen richte,
weil die Grenzen deflelben, Anfang und Ende,
eben undurchdringliche Geheimniffe bleiben wuͤr⸗
den, und man leicht auf Irrwege gerathe, wenn
man fich von der einzig ficheren Straße ded Glau⸗
bens und der Offenbarung entferne.
»MWirthun befler,« meinte er, »wenn wir unfer
Merden und Dafein als eine Gnade annehmen,
unfer Ende vertrauend in die Hand bed Allgütis
gen legen, und und innerhalb der geſteckten Schran⸗
fen erziehen für ein höheres Schauen, dad und
einft ficher vergönnt fein wird, wenn wir bie
Zeit unferd Erdenwallend benußten, fo weit es
in unferen Kräften fteht, der ‚niederbrüdenden
Noth des außeren Lebens zu wehren, damit geis
flige ‚Erhebung und dadurch wahre Heiligung
möglich werde für alle unfere Mitmenfchen.«
Der Eintritt des Barond unterbrady die Un:
terredung und ſtets fein Ziel im Auge, wendete
Herr von Pleſſen fie geichicdt auf die Lage der
ländlichen Zagelöhner, über die der Baron bie
befte Auskunft zu geben wußte, und die kennen
183
zu lernen für die beiden jungen Theologen gleich
bedeutend war.
Herr von Pleffen hatte fich über diefe Ver:
hältniffe in England und Amerifa genau zu un-
terrichten geftrebt, und bald hatte dad Gefpräch,
nachdem der Doctor und Erich dazu gekommen
waren, eine ganz praftifche Richtung genommen,
bei welcher der Doctor feine Erfahrungen unter
den niederen Ständen, Erich feine fameraliftifchen
Studien, die Baronin ihre Bemerkungen über
das Familienleben der Gutsinſaſſen und die Zu:
ftände der dienenden Klaffe gleichmäßig zu ver:
wehrten und fürderlih zu machen im Stande
waren, während alle Anwefenden mit der Auf:
klaͤrung neuen Anreiz zum Helfen und neuen
Muth für günftige Erfolge gewinnen mußten.
Mochten nun dabei auch die Anfichten des
Barond, der fich es nicht nehmen laffen wollte,
dad Gute, welches er zu fürdern bereit war, als
einen Act der freien Gnade anzufehen, weit ab-
liegen von des Doctord Ueberzeugung, daß der
Arme Hülfe zu fordern berechtigt, und daß fie zu
gewähren nicht Gnade fondern Pflicht fei, fo wußte
184
— — — —
Pleſſen durch geſchickte Uebergaͤnge ausgleichend
und vermittelnd zu wirken; und als man ſich
ſpaͤt am Abende trennte, ſchied Friedrich mit einem
Gefühle der Theilnahme und Verehrung. von dem
neuen Bekannten, obfchon Vieles in feinen An-
fihten ihm fremd und und unannehmbar bünfte,
und er fih zu feiner eigenen Verwunderung
des Gedankens nicht enthalten konnte, daß es
Noth fei, fih gegen deſſen Einfluß zu ver⸗
wahren.
Herr von Pleffen mochte dreißig Sahre alt
fein. Klein von Geftalt, mit unbedeutenden Ge⸗
fichtözügen, forderte nur fein Auge Aufmerkſam⸗
feit durch den Blick, der die Menfchen feſt hal⸗
ten zu wollen fchien mit feinem fanften Ausdrud.
Eben fo eigenthuͤmlich war feine Stimme, die
ſchwach und Planglos, ſich durch eine gewiſſe In⸗
nigfeit Eingang in die Herzen zu bereiten wußte.
Man konnte ihm begegnen ohne ihn zu beachten,
aber einmal aufmerkffam auf ihn geworden, ge-
wöhnte man fich an ihn wie an ein mildes Licht,
wie an eine weiche Luft, die und gefangen neh—
men, weil fie und zum Bedürfniß werden.
185
Auch waͤhrte es nicht lange, bis er den Frauen des
Hauſes ein unentbehrlicher Berather wurde, denn
es war mit ihm eine neue Richtung in ihre Be—⸗
firebungen gefommen, ein gewiffer Ernft, der fich
nach allen Seiten hin bemerklich machte. Was
Mutter und Züchter biöher ald Sache der bloßen
Unterhaltung behandelt: Literatur, Mufit und
Malerei, wurden mit größerer Gruͤndlichkeit be-
trieben, ald Künfte, deren Ausübung die Seele
vor dem Verſinken in dad Alltägliche bewahrt;
die Fürforge für Nothleidende, der man fich im
Herzensdrange unbefangen hingegeben, wurde zu
einem wirklichen Gefchäfte gemacht, und die ganze
Gefelligkeit nicht.mehr ald Mittel zur Zerftreuung,
fondern mit dem Gedanken angefehen, daß durch
diefelbe ein geifliger Fortſchritt gefördert und.
Theilnahme an den "Heberzeugungen erregt mer:
den müffe, von deren Wahrheit man fich mehr
und mehr durchdrungen fühlte.
Eornelie fand auf diefe Weife die Thätigkeit,
nach der fie fich gefehnt hatte, und auch Helene
gewann täglich neue Theilnahme für Pleffen, feit
er einft in ihrer Gegenwart mit Erhebung über
186
den Beruf des Geifllichen auf dem Lande und
über die Nothwendigkeit gefprochen hatte, daß ein
folcher fich durch die Wahl einer gleichdenfenden
und gleichgebildeten Gattin zum Vorbilde und
zum Berather der Gemeinde mache in leiblichen
und geiftigen Dingen. Da er nun obenein die
höchfte Achtung vor dem Familienleben hegte, da
er firenge Unterwerfung des Einzelnen unter die
gemeinfamen Intereffen als eines feiner Grund:
gefeße hinftellte, und allem Gemaltfamen ſich
entfchieden abgeneigt erwies, fo hatte er aud
den Baron und Erich für fich gewonnen, die fich,
Seder auf feine Weife, die Theorien Plefjen’s
nüglich glauben Eonnten. Nur der Doctor ver⸗
bielt fich gleichgültig, ja faft nichtachtend gegen
ihn, obfchon er die durch jenen angeregten Ver:
änderungen in dem Treiben der Frauen billigte,
und ald Friedrich ihn einft befragte, was er von
Pleſſen denke, hatte er lächelnd erwiedert: »Wenn
ich die Möglichkeit fehe, auf einem guten Boden
ein folides Haus zu bauen, fo kann es mir gleich
gelten, wenn die Ziegel zu demfelben von einem
Menfchen herbeigetragen werden, der auf ſchwa⸗
187
hen Züffen ftehbt. Der Bau fommt vorwärts,
und fällt der Ziegelträger vom Gerüfte, fo mag
er felbft zufehen, was aus ihm wird! Die Frauen,
namentlich Cornelie, entwideln fi durch Pleſſen.
Was fie aus ihm, was er dabei felbft aus fich
machen wirb, dad muß man abmwarten.«
So war eine längere Zeit entfchwunden,
Friedrich hatte feine Preisarbeit eingereicht und
der Zag der Entfcheidung war gekommen. Die
große alatemifche Aula war mehr als fonft bei
ähnlichen Feften von einer zahlreichen Zuhörer:
haft erfüllt. Im großen Halbfreife, dem hohen
Katheber zunächft, von welchem herab der Pro:
feffor der Beredſamkeit die Namen der Sieger
verkünden folte, faßen die würdigen Lehrer aller
vier Sacultäten, zugleich mit den höchften Behoͤr⸗
den der Provinz und der Stadt. Hinter ihnen,
deren Sitze durch Schranken von dem übrigen
Raume getrennt wurden, flanden und faßen in
buntem Gemifche die Studenten, fo wie eine Ans
zahl von Einwohnern, welche neben der Luft an
all dergleihen Schauftellungen auch die Nevgier
oder die Theilnahme herbeigezogen hatte.
188
Unter den Studenten befand fich auch Fried⸗
rich. Unfern des Kinganges, hinter eine der
großen Säulen verftedt, die die Woͤlbung des
Saaled trugen, ſchien er gefliffentlich die Nähe
feiner Befannten zu meiden, welche an dem ents
gegengefeßten Theile des Saales zufammenges
drüdt fanden. Sein Herz klopfte hörbar, als
jebt der Prorector in feterlicher Amtötracht den
Katheder beftieg, um zunächft in wohlgeſetzter latei⸗
nifcher Rede die Wichtigkeit und den Nußen dieſer
von der Munificenz des Herrfcherd begründeten
Preisbewerbungen darzuftelen, und fodann den
herfömmlichen Ausdruck tieffter Verehrung und
Dankbarkeit für fo große Wohlthat in Phrafen
auszufprechen, welche freilich mehr an das kaiſer⸗
liche als an das freie republifanifche Rom erin⸗
nerten.
Allein Friedrich hörte nichts von all den ſuper⸗
lativifchen Erhabenheiten, in welchen ber gelehrte
Redner ebenfowohl feine gebiegene Kenntniß Cice⸗
ronifcher Katinität, al8 feine unbegrenzte Ergeben=
heit und Liebe für das angeſtammte Fürften-
haus darzuthun firebte. Es braufte ihm vor den
189
Ohren und flimmerte ihm vor den Augen, ald
jeßt der Sprechende, auf die Preisbewerbung dies
fe8 Jahres überlenkend, den Eifer lobte, mit wel:
chem ſich die »Sommilitonen« an derſelben bethei=
ligt; und fein Herz bebte, ald zum Beweiſe die-
ſes Eifers die Anzahl der für jede Preisaufgabe
eingereichten Bewerbungen aufgezählt wurde, —
eine Anzahl, welche die früherer Jahre bei wei⸗
tem übertraf. Für die Preiöfrage, welche Fried-
rich zu beantworten verfucht hatte, waren noch
fünf andere Arbeiten eingereicht worden! Dem
Sunglinge ſank der Muth. Fühlte er fich gleich
manchem Tüchtigen feiner Genofjen nicht uneben-
bürtig, fo gab ed doch wieder Stunden, und die,
welche er jet erlebte, war eine der härteften, in
denen er an feinem ganzen Wiffen und Kön-
nen nicht nur zweifelte, fondern auch verzweifelte.
Jetzt erfchien ed ihm gewiß, daß alle feine Arbeit,
daß die Anflrengungen und Nachtwachen eines
Jahres vergeblich gemwefen fein würden, und er
fegnete die Feſtigkeit, mit welcher er feinen Ent-
ihluß,fih an die Bearbeitung jener Preidaufgabe
zu machen, allen feinen Freunden verheimlicht
190
"hatte. Schon fand er im Begriffe fich zu 'entfers
nen, bevor die verhängnißvolle Entfcheidung aus⸗
gefprochen würde, um nicht in Gefahr zu kom⸗
men, fich unabfichtlich durch feine Bewegung zu
verratben. Da plöglich trafen fein Ohr die Worte
des Redners: »Von allen eingereichten Arbeiten find
indeffen nur zwei, wenn auch im verfchiedenen
Grade, ded Gegenflandes würdig befunden, aber
durch einen höchft wunderbaren Zufall führen die
verfiegelten Zettel, welche die Namen der Verfaſ⸗
fer enthalten, ein und daffelbe Motto!« Der Rede
ner recitirte ed. Es war ein Vers ded Dichters
Sophokles in der Urfprache, deflen Sinn lautete:
»Ginfach ift von Natur ber Wahrheit Spruch!«
Wie von einem eleftrifchen Schlage durch:
zuct, fuhr Sriedrich zufammen. Died war fein
Motto, dad er aus feinem Lieblingsdichter ge-
wählt hatte. Aber war er jet wirklich der Sie⸗
ger? Um keinen Preis mochte er die fo wunders
bar verzögerte Entfcheidung abwarten. Ein Tuch
vor das Geficht haltend, drängte er fich durch die
ihn umgebende Menge der Thür zu, indeß noch
191
hatte er fie nicht erreicht, als der Klang feines
Namend aus dem Munde des Redners fein Ohr
traf, der ihn unter den fchmetternd einfallenden
Fanfaren ald den Sieger im Preiskampfe auörief.
Er fah ed nicht mehr, wie alle Blide fich
nach ihm wendeten, er achtete nicht auf den Zus
ruf feiner Bekannten, und hatte bereitö fchnellen
Schrittes den Univerfitatshof durchmeffen, ehe
Erich durch die Menge den Weg zur Ausgangs⸗
thüre finden konnte. —
Sreudeberaufcht eilte er durch die Straßen,
ohne fich zu fragen, wohin er gehe? Erft vor
dem Haufe des Barons fand er plöglich- ftil,
als fei er betroffen, fich bier zu finden. Er
wollte ummwenden , aber er vermochte es nicht, er
mußte Helene fehen.
Zum erften Male fand er fie allein. Sie faß
arbeitend an ihrer Staffelei, ald er das Zimmer
betrat, und ihr erſter Blick verrieth ihr feine Er⸗
regung, theilte fie ihr mit.
„Was ift Ihnen begegnet? Was iſt gefches
hen?« fragte fie.
Da brach ed wie ein lang verborgened Feuer
192
in ihm hervor, und fih ihr mit beiden Armen
um den Naden werfend, rief er faft athemlos:
»Ich liebe Dich fo fehr!«
Helene war feines Wortes, Feines Gedan⸗
kens maͤchtig, ſie hatte ſich an ſeine Bruſt ge⸗
lehnt und die Augen geſchloſſen. So: hielten ſie
fich ſprachlos umfangen, dann drüdte er fie noch
einmal feft an fein Herz und trat zurüd, wäh
rend Helene fich wie betäubt auf den Sefjel an
ihrer Staffelei niederließg und die Hand des Ge⸗
liebten in der ihren hielt, als bedürfe fie diefer
Stüte. In ihr Anfchauen verfunfen ftand der
Süngling neben ihr. Ä
»Wann haben wir uns denn zuleßt gefehen ?«
fragte fie endlich, weil ihr neues Empfinden fie
ihrer ganzen Vergangenheit entrückte.
Ohne ihre Frage zu beantworten, fagte Fried⸗
rih: »Sie follten eö nie. erfahren, niemald8 —
aber —« Er hielt inne, denn er hatte vorgehabt,
ihr von feinem Siege zu erzählen, nun da er ed
auöfprechen wollte, kam ihm das Errungene fo
nichtig vor gegen die Gunft ihrer Liebe, daß es
ihn befchämte, und fich zu ihr nieverbeugend fagte
193
er mit bebender Stimme: »ich verdiene Sie nicht,
ih bin fo wenig !«
Seine Augen füllten fih mit Thränen, die
Geliebte fah ed und ihr Haupt an feinen Arm
lehnend, hauchte fie leife: »mein Alles!« drüdte
feine Hände und verließ fchnell, wie über fich
felbft erfchroden, dad Gemach.
Wonnefchauernd in dem Bemußtfein von He⸗
lenens Liebe eilte der Gluͤckliche in die Wohnung
feiner Eltern, um ihnen Sreude zu bringen, die
fie fehr beburften.
Wandlungen I. 13
Zwölftes Kapitel.
In der Werkftatt war Alles Ieer, Hobel und
Sägen hingen an der Wand, die Werkzeuge ruh⸗
ten ungebraucht im Kaften. Die Thuͤre nach der
Stube war geöffnet, um mehr Luft darin zu has
ben, denn der Meifter lag noch immer an der
Gicht darnieder, die eine Erkältung beim Abladen
von Brettern ihm zugezogen. Sie hatte fein
Leben in Gefahr gebracht, weil fie fih auf den.
Kopf geworfen. Jetzt war er lange ſchon wieder
bei Bewußtfein, aber der Krankheitsftoff gährte
noch im Körper und hatte die Hände zufammen-
gezogen, daß der raftlos thätige, ganz auf fich
195
und feine Kraft geftellte Mann, nicht fähig war
fich felbft zu helfen, nicht Speife, nicht Trank al:
lein an feine Lippen führen konnte.
Der Doctor hatte ihn mit treuer Sorgfalt
gepflegt, hatte unentgeltlich Arzenei für ihn ges
fhafft und wuͤrde mehr Hülfe zu bieten verfucht
haben, hätte er nicht gefehen, wie ängftlich der
Sohn die obwaltende Noth zu lindern, die Un-
‚ulänglichfeit feiner Mittel zu verbergen ftrebte
Als Friedrich in die Stube trat, war es ſtill
darin. Die Mutter faß, Kartoffeln zur Abend:
fuppe fchälend, an dem großen XZifche zwifchen
den Fenftern, der Bater ſchlief. Die Gardine
von weiß und blauer Leinwand war über das
Bett zufammengefchlagen, daß man den Kranken
nicht fehen konnte, aber man hörte feine Athem⸗
züge durch die Stille, neben dem gleichmäßigen
Ziden der Uhr, die hier feit langen Wochen nur
Schmerzensftunden abzuzählen gedient hatte. Die
Mutter winkte ihm leife aufzutreten, und reichte
ihm Die von der Arbeit gefchwärzte, an ber
Schürze gereinigte Hand entgegen.
„Wie geht e6?« fragte Friedrich.
13 *
196
Die Mutter zudte mit den Schultern und
feufzte: »Wie fol ed gehen? er hat feine Ruhe,
nicht Tag nicht Nacht, grade Nacht's ift es am
fchlimmften, und ich kann auch bald nicht wei⸗
ter!«
»Warum laſſen Sie mich denn Nachts nicht
biöweilen bei ihm? Ich habe Sie fo oft darum
gebeten !«
»Sollſt Du auch Frank werben und das Elend
erfi ganz vollkommen?« wendete die Mutter ein.
»Ich habe manche Nacht durcharbeitet und
ed hat mir nicht gefchadet, dad Eönnte ich hier
ebenfalls !«
“Arbeiten? wenn ein Menfch fi) vor Schmer»
zen windet wie ein Wurm! Das Stöhnen reißt
Einem ja durch's ganze Herz!«
»Und habe ich denn nicht manche Nacht tan⸗
zend und in Gefellfchaft verlebt, Mutter, die Sie
mir flatt Ihrer zu wachen nicht erlaubten ?«
»Das war auch gut, das wollte ich grade, .
Fritz! Es arbeitet ſich fchleht, wenn man an
Nichts zu denken hat, als an Elend und an
Sorgen. Unfer Herrgott fohidt dem Menfchen
: 197
auch im Winter zuweilen Sonnenfchein, weil er
am beften weiß, daß man’d in ewigem Regen
und Schnee nicht lange aushält. Ich fchlafe doch
nicht, wenn Du hier fißeft bei dem Alten und id)
mir denfe, morgen muß der Fritz früh an bie
Arbeit und darf nicht einniden wie du, wenn
ı bu einmal nicht weiter kannſt. Es ift genug,
daß Du und Brot ſchaffſt!«
Mährend dieſes Gefpräches hatte fie ihre Ar«
beit beendet, padte die Kartoffelfhaanlen in die
Schürze zufammen und fland auf, um nad) der
Küche zu gehen. Da bielt der Sohn fie feft und
fagte: "Heute bringe ich etwas Neues und etwas
fehr Gutes, Mutter !«
»Etwas fehr Gutes!« wiederholten fie und
der Vater zu gleicher Zeit, der erwacht war und
die lebten Worte vernommen hatte.
Friedrich war an’d Bett getreten und hatte
die Vorhänge zurüdgefchlagen. Der Alte lag
bleih und abgemattet da, feine dunkelgrauen
Augen fahen unheimlich groß aus den eingefalle-
nen Höhlen unter den bufchigen Brauen her-
Ä vor, und der lange nicht gefchorene, ſchwarz⸗
198
graue Bart machte das Geſi cht noch blaͤſer und
magerer erſcheinen.
»Mach’ mich geſund, das iſt das Allerbeſte I«
fagte er.
»Es wird Ihnen Geſundheit fchaffen, Bater!«
antwortete der junge Mann, »ich habe eine Preid-
aufgabe gelöft und befomme morgen hundert
zwanzig Thaler dafür. Damit koͤnnen Sie ſich
ruhig pflegen, bis Sie gefund find, Vater !«
»Hundert zwanzig Thaler!« rief die Mutter,
„hundert zwanzig Thaler!« — und brach dann in
Thränen aus, während fie die Schüffel aus der
Hand ftellte und fich niederfeßte, als Eönne fie
fih nicht aufrecht halten; der Vater aber lag ftill Ä
und regungslos, fo daß Friedrich darüber erfchrat
und fi) mit der Frage zu ihm niederbengte: |
»Fehlt Ihnen Etwas, Vater daß Sie gar Nichts Ä
fagen ?«
»Ich glaub's noch nicht !« murmelte der Alte, und
fchwere Zropfen begannen aus feinen Augen nies : i
der zu fallen. Dann ſchwieg er eine kleine Weile, |,
bis er mit Heftigkeit die Worte herausftieß : »Nun
brauche ich nicht in's Hofpital, nun brauchft Du \
199
nicht. zu betteln für Deinen alten, kranken Ba-
ter!« — Er hob die gelähmten Hände zum Ge-
fiht empor und weinte bitterlich. Friedrich hatte
fih zu ihm gefeßt, und auch feine Thränen floſ⸗
fen, während er des Vaters Haupt unterflügte
und ihm die Augen trodnete.
»Laß nur, Fritz! laß's gut fein!« fagte der Va⸗
ter, »es iſt mir wohl, daß mir's vom Herzen kommt,
ich habe nicht geweint mein Lebetag, daß ich es
denken kann. Aber es hat mir das Herz abge⸗
freſſen Tag und Nacht, wenn ich mir ſagte, wie
lange wird er es noch machen, er iſt auch nicht
der Staͤrkſte. Und im Schlafe habe ich Dich ſchon
geſehen leibhaftig vor dem Bezirksvorſteher um
Armengeld betteln, und bitten um einen Platz im
Krankenhauſe, und ich wußte, das war mein Tod,
wenn mein eigen Fleiſch und Blut ſollt', betteln
gehen fuͤr mich. Schon die freie Medizin war mir
wie Gift und jeder Tropfen davon bittere
Galle !«
Er fprach dad Alles gegen feine Gewohnheit
mit großer Leidenfchaftlichkeit, und meinte dann
wieder, aber leifer und ruhiger ald zuvor. Der
200
tief erfchütterte Sohn hatte feinen Arm fanft um
des Vaters Hals gelegt.
»Sie ſollen Niemand brauchen als mich, kei⸗
nen Menfchen auf der Welt, Vater!« beruhigte er,
»fo lange ich leben und arbeiten fann! Niemand
als mich!«
»Ja! Niemand ald Dich !« wiederholte der Alte,
„Niemand ald Di! — Laß mic, elend liegen
bei Wafler und Brod, aber gieb Du mir’, von
Dir ſoll's mich nicht drüden, von Dir hab’ ich's
verdient mit meinem Schweiß und Blut —
und Du giebft mir’d ja auch gern!«
»Das weiß Gott im Himmel!« rief Friedrich
mit folcher Liebe, daß der Vater feinen Kopf an
die Bruft des Sohnes lehnte, wie dad Kind ſich
vertrauendvol an den Mutterbufen birgt, feine
Zuflucht in aller Lebensnoth.
Das ganze fchweigende Leiden ded Mannes
hatte fi in dieſen Ausbruͤchen lang verhaltener
Sorge Luft gemacht. Nun fanker erleichtert, aber
auch erfchöpft zurüd in feine Kiffen, und e& vers
ging eine Weile, ehe er die Kraft zum Sprechen |
wieder gewann.
201
Friedrich verehrte den Vater in diefer Stunde
mehr als je, deutlicher als je trat ihm die Wuͤr⸗
digkeit diefer Natur entgegen, die dad Leben fo
belaftet hatte, daß die Beweiſe der Liebe fich
nur felten fichtbar aus ihr hervor zu ringen ver-
mochten, und in dem Bemwußtfein, wie nahe er
dem Vaterherzen ſtehe, fand er reichen Lohn für
feine Anflrengung und feine Opfer.
Als die erfte Aufregung vorüber mar, fagte
die Mutter: »damit haben wir Jahr und Tag zu
leben !«
»Momit?« fragte der Kranke.
„Mit dem Gelde, das der Fritz bekommt!«
»Das iſt ſein Geld und ſoll's auch bleiben!«
ſagte der Meiſter beſtimmt.
»Gott weiß, wie gern ich ed ihm ließe, daß
er fih auch ruhen und was zu Gute thun fünnte,
denn er hat's auch nöthig,« meinte die Mutter,
»aber jeßt, wo Du fo frank bift — — «
„Denkſt Du,« fiel ihr Sener in's Wort, »daß
ich hier ewig feft liegen werte? daß ich einen
Menihen um fein fauer Ermorbened bringen
fol! Mir wird befier werden, nun ich weiß, daß
202
der Frig von Niemand was für mich zu fordern
braucht. Er fol mir helfen bis ich auf den Bei-
nen bin, und fol behalten, was ihm übrig bleibt.
Das hätt’ ich ihm gethan, das fol er mir thun,
und nicht mehr nicht minder !«
Mit tiefem Dante gegen Gott verließ Friedrich
am Abende dad Baterhaus. Er mußte die Sei-
nen vor Noth gefichert, und er war ed, der den
Eltern den Schlaf der Nächte wiedergab. »Gott
wird Dir's lohnen!« hatte die Mutter gefagt, als
er fie beim Fortgehen im Flur gebeten, nicht auf
des Vaters Worte zu achten, fondern die ganze
Summe als ihr Eigenthum anzufehen, da es ihm
nach dem Eramen noch leichter fein werde, für
fich zu forgen.
Sein Glaube an feine Kraft und feine Zu⸗
kunft waren mächtig gewachſen an dem Tage,
und bie günftigen Folgen feined Sieged in der
Preisbewerbung ließen nicht lange auf fi) wars
ten. Schon am Abende des Concurrenztages .
hatte Herr von Pleffen im Haufe des Barond
berichtet, ‘daß, wie er gehört, Friedrich's Ars :
beit Auffehen gemacht habe unter den Profefe !
203
foren, und daß man ihm eine Bedeutung in ber
gelehrten Weltvoraus verfünde, wenn er fich ent:
fließen follte, die Univerfitätscarriere einzufchla=
gen. Diefer Gedanke fand in Erich lebhafte Zus
fimmung. Er war zweiMal in feined Freundes
Wohnung vorgefprochen, ohne ihn zu finden, und
hatte mit feiner gewohnten werfthätigen $reund-
haft auf Mittel und Wege gefonnen, wie er ed
ihm möglich machen könne, fich der afademifchen
Laufbahn zu widmen, die fpater ald ein Pfarr-
amt Ausficht auf Erwerb verfprach.
Ald Friedrich am folgenden Morgen feinen
Freund beſuchte, rief ihm diefer feinen Gluͤck⸗
wunfch entgegen, und fagte dann im Zone liebe=
vollen Vorwurfs: »Du bift ein fonderbarer Menfch
und haft fonderbare Begriffe von der Freundfchaft.
Deine eigentlihe Befchäftigung hältft Du vor
mir geheim, Deine folgereichften Vorſaͤtze fafleft
Du für Dich felbft, als ob es eine Freundſchaft
geben Eönnte ohne Vertrauen. Warum haft Du
mir ein Geheimniß gemacht aud Deiner Preiöbe:
werbung ?«
„Ich wollte Dir's nicht auferlegen, mich über
204
dad mögliche Mißlingen zu tröften, und mir die
Demüthigung erfparen, Dir einzugeflehen, daß _
ich nach einem mir unerreichbaren Biele geftrebt
hätte.«
»Und diefe fogenannte Demüthigung hätteft
Du mir wirklich nicht vertraut!«
»„Gewiß nicht! es wäre mir leichter gemorden,
fie ftil zu tragen, ald mid) vor Dir, gerade vor
Dir, befhämt zu zeigen !« fagte Friedrich.
Erich blickte ihn liebevoll an und ſprach nach
einer Paufe mit freundlicher Befangenheit: »Du
haft mir aber noch mehr verfchwiegen und Etwas,
worauf ich noch ein größeres Anrecht hätte !«
Friedrich's ganzes Blut frömte nach feinem
Herzen und mit unficherer Stimme fragte er: \
„Woher weißt Du das ?«
»Bom Doctor und von Pleflen!« -
»Vom Doctor? von. Pleffen ?« wiederholte |
\
der Beftürzte, ald ob. er den Sinn der Worte -
nicht verftehe.
»Du haft Noth gelitten mit den Deinen und
haft e8 mir verborgen !« beklagte fich der Freund.
Friedrich war unfähig zu antworten, der Um⸗ *
205
ſchwung feiner Empfindungen war zu plößlich,
er hatte an ein andered Geheimniß gedacht.
»Warum nahmft Du mir das Recht, Dir zu
helfen, warum. gönnteft Du den Meinen nicht,
Dir für Deinen Vater die ihm nö:hige Erqui⸗
dung anzubieten ?«
„Du kennſt meinen Baternicht!« rief Kriedrich,
nachdem er fich gefaßt hatte. »Was ich von Dir
mit Freude angenommen hätte, würde ihm Bit:
terniß gewefen fein. Ich hatte kein echt, mir
eine Erleichterung zu ſchaffen, die fein fchweres
Leid noch ſchwerer gemacht hätte.«
„Wie viel einfacher empfinden wir doch, als
Du und als die Deinen !« wendete Heidenbrud ein.
Hätten wir einem unter und Leidenden Huülfe
zu fchaffen gewußt durch Dich oder dur die
Deinen, mit welch offenem Vertrauen hätten wir
fie begehrt, auch wenn ed Euch fchwerer gewors
dm wäre ald uns, Deinem Vater größere Pflege
m bereiten. Wir haben doch mehr Glauben an
die Menfchen.«
»Meiler Euch durch feine Härte zerftört ward!«
Wndete Sener ein. »Glaubſt Du, dag mir das
206
Zutrauen zu Dir und zu der Deinen Güte man⸗
gelt? Ich wäre nicht würdig Dein Freund zu
fein und unter den Deinen zu leben, fühlte ich
nicht, was ich Euch ſchon jegt verdanke, dad
Zutrauen zu der höheren Menfchenliebe, die alle
Lebens- und Standedunterfchiede audgleicht, Die
mir den Muth giebt, das höchfte Gut für mid
erreichbar zu glauben, und —« Er hielt inne
und fügte dann bittend hinzu: »Tadle meinen Va⸗
ter nicht, weil ihm die Gelegenheit fehlte, dies
Bertrauen zu den Menfchen zu gewinnen !«
Der junge Baron fah ihn verwundert an.
Er begriff weder die plößliche Erregtheit, noch
das ebenfo plögliche Abbrechen feines Freundes, der
nach einer Kleinen Paufe die Frage hinwarf:
»Was wußte Herr von Pleffen von meined Va⸗
ters Krankheit?«
»Du kennſt die Art feiner Armenpflege, die
er immer weiter ausdehnt, beſonders wo es gilt,
ſchweigender Noth zu helfen. Er ſucht von den
Armenvorſtehern, den Apothekern die Namen der⸗
jenigen zu erfahren, die freie Medizin erhalten
und dorthin Huͤlfe und Rath zu bringen. So
207
hörte er von der Bedraͤngniß Deines Vaters
und forderte die Meinen auf, ihm beizuftehen!«
„Sieb das nicht zu!« rief Friedrich mit fcheuer
Heftigkeit. ‚Mein Vater ift verforgt, die Summe,
welche ich erhalten, deckt feine Bedürfniffe für
lange Beit, taftet fein Ehrgefühl nicht an !«
»Du ſiehſt, ich fragte Dich, ob Du es woll⸗
teſt ?« begütigte der Freund.
»Ich verabfcheue Died Spioniren der Wohl-
thätigkeit, wie dieſer Herr von Pleffen es bes
treibt !« fuhr Friedrich fort. »Kein Haus ift ficher
. vor diefer Menfchenliebe, nicht das meiner El⸗
tern, nicht das Eure. Es ift eine herrfchfüchtige
Liebe, und ich mag die Meinen nicht beherricht
ſehen, fei e& von wem es wolle!«
»Alfo mißtrauft Du Pleſſen?« forfchte Erich.
Nein, dad nicht! Ich halte ihn für felbftlos
1 und es ift ihm Ernft mit Allem was er thut,
1 aberich ſcheue den Einfluß, den er, vielleicht ohne
1 ihn zu erftreben, überall gewinnt.«
Erich hörte nachdenklich zu und fagte dann:
1 Das ift genau die Anficht, welche der Vater und
auch ich von feinem Wefen hegen, und grade
208
deshalb wirft Du den Vorſchlag begreifen, ben
ih Dir zu machen habe. Wir bebürfen eines
Erziehers für Richard, mwenn ich nach beendetem
Eramen meine Reife antrete, und meine Mutter
ift geneigt, Herrn von Pleffen zur Annahme dies
ſes Amtes zu überreden, der Vater aber wünfcht
feine dauernde Anmefenheit in unferem Haufe nicht,
und auch mir wäre fie zuwider. Koͤnnteſt Du
Dich entfchliegen ded Knaben Gouverneur zu
werden ?«
»In Eurem Haufe?« fragte Friedrich, wäh-
rend fein Herz hoch auffchwoll vor freudiger Ue⸗
berrafchung.
»Ja! aber ed würde Deine Zeit nicht zu fehr
befchränfen, da Richard nach wie vor das Gym⸗
nafium befuchen fol. Du gemönneft die Mögs
lichkeit, Dich als Docent zu habilitiren, mein Bar
ter wüßte den Knaben wohl verforgt und Alle
würden fich freuen, Dich zum Hausgenoffen zu
befommen!« Dabei blidte er erwartungdvoll in
dad Angeficht des Freundes und fehien einen Aus⸗
ruf der Zuflimmung zu erwarten. Aber der hochs
erröthende Friedrich blieb ernfthaft und flumm.
209
»Goͤnne mir Zeit zur Ueberlegung!« bat er
endlich.
»Zur Ueberlegung?« fragte Erich, dem es wehe
that, fich in der Freude getäufcht zu haben, vie
er dem Freunde zu bereiten gehofft hatte, und ber
ed doch nicht aufgeben wollte, für ihn auf dieſe
Art zu forgen. »Was bedarf's der Ueberlegung
noch in diefem Falle! Iſt es nicht den Meinen
eben fo förderlich als Dir?«
»Dringe nicht in mich ,« bat Friedrich noch⸗
mals, »ich muß erft einig werden mit mir, ob ich's
kann !«
»O! Ueberwindung muß ed Dich nicht Toften!«
rief Heidenbrud mit einem Anflug von Empfind-
lichkeit. »Es muß Dir kein Zwang fein mit den
Meinigen zu leben“
„Erich, Du bift mir böfe!« fagte Friedrich.
»Nein! aber ich verftehe Dich nicht!«
»So glaube an mich!« antwortete er, drüdte
ihm die Hand und ging von dannen.
TBandlungen. I. {4
Dreizehntes Hapitel.
Es währte geraume Zeit, ehe Friedrich einen
feften Entichluß zu gewinnen vermochte. Schonlange
hatteer gewünfcht, fich für den afademifchen Lehrſtuhl
auszubilden, um in der Stadt zu leben und fich
weitere Lebenskreiſe zu eröffnen, ald die Laufbahn
eined Geiftlichen ihm für Die erfte Zeit verbieß.
Seit er Helenend Liebe ficher war, fah er bie
fohnelle Erlangung einer Profefjur ald das ein⸗
zige Mittel an, dad ihm bie Geliebte gewinnen
fonnte, und immer wieder drängte fich ihm der
Glaube auf, Helene habe dem Bruder ihre
Liebe vertraut und diefer wolle dem Freunde
felbft die Wege für die Zukunft bahnen. Aber
die Anfichten, welche er oftmald® im Haufe
des Barons über ftandesmäßige Ehen, von Erich
über heimliche Sugendrerlobungen hatte ausſpre⸗
211
den hören, ftraften jene Vorausſetzungen Luͤge,
und er dachte zu ehrenhaft, um Diejenigen zu taͤu⸗
(hen, die ihm fo zuverſichtlich vertrauten. Indeß
fo oft er ſich's auch wiederholte, daß ihm bier
Entfagung Pflicht fei, mußte er immer die
Augen zurüdwenden auf das Glüd, in Helenens
Nähe zu leben, auf das er zu verzichten hatte,
und mehrmald dachte er daran, dem Freunde fein
Herz zu offenbaren, ihm die Entfcheidung zu
überlaffen; denn es ift leichter fich in einen frem-
den Willen zu fügen, ald den eigenen vernünftig
zu beherrfchen. ®
Mit fchwerem Herzen und fichtlicher Befan-
genheit erflärte er endlich dem Freunde, daß er
zwar daran denke, neben dem Eramen für das
Dredigeramt auch dad philofophifche Doctorera=
men zu machen und nicht auf das Land zu gehen,
fondern in der Stadt zu bleiben, um fich gleich
zeitig zum Prediger und zum Docenten auszubil-
den, daß es ihm aber nicht möglich fei, die Stelle
in feinem Baterhaufe anzunehmen.
Semehr nun der Baron und Eric) ed wohl
gemeint mit ihrem Anerbieten, je lebhafter Hele⸗
204
dad mögliche Mißlingen zu tröften, und mir die
Demüthigung erfparen, Dir einzugeftehen, daß
ich nach einem mir unerreichbaren Biele geftrebt
hätte.«
„Und dieſe fogenannte Demuͤthigung hätteft
Du mir wirklich nicht vertraut !«
»„Gewiß nicht! es wäre mir leichter geworden,
fie fil zu tragen, ald mid) vor Dir, gerade vor
Dir, befchämt zu zeigen!« fagte Friedrich.
Erich blickte ihn liebevoll an und ſprach nad
einer Paufe mit freundlicher Befangenheit: »Du
haft mir aber noch mehr verfchwiegen und Etwas,
worauf ich noch ein größeres Anrecht hätte !«
Friedrich's ganzes Blut firömte nad) feinem
Herzen und mit unficherer Stimme fragte er:
„Woher weißt Du das ?«
»Vom Doctor und von Pleffen!«
»Vom Doctor? von. Pleffen?« wiederholte
der Beftürzte, ald ob. er den Sinn der Worte
nicht verftehe.
»Du haft Noth gelitten mit den Deinen und
haft es mir verborgen !« beklagte fich der Freund.
Friedrich war unfähig zu antworten, der Um⸗
201
Friedrich verehrte den Vater in diefer Stunde
mehr als je, deutlicher als je trat ihm die Würs
digkeit diefer Natur entgegen, die dad Leben fo
belaftet hatte, daß die Beweiſe der Liebe fich
nur felten fichtbar aus ihr hervor zu ringen ver-
mochten , und in dem Bemußtfein, wie nahe er
dem Vaterherzen ſtehe, fand er reichen Lohn für
feine Anftrengung und feine Opfer.
Als die erſte Aufregung vorüber war, fagte
die Mutter: »damit haben wir Jahr und Tag zu
leben !«
»MWomit ?« fragte der Kranke.
„Mit dem Gelde, das der Frib befommt!.
»Das ift fein Geld und fol’8 auch bleiben !«
fagte der Meifter beftimmt.
»Gott weiß, wie gern ich es ihm ließe, daß
er fih auch ruhen und was zu Gute thun fünnte,
denn er hat's auch nöthig,« meinte die Mutter,
»aber jest, wo Du fo frank bift — — «
»Denkſt Du,« fiel ihr Sener in’d Wort, »daß
ich bier ewig feft liegen werte? daß ich einen
Menihen um fein fauer Erworbenes bringen
fol! Mir wird beffer werden, nun ich weiß, daß
206
Butrauen zu Dir und zu der Deinen Güte man⸗
gelt? Ich wäre nicht würdig Dein Freund zu
fein und unter den Deinen zu leben, fühlte ich
nicht, was ih Euch fchon jetzt verdanfe, das
Zutrauen zu der höheren Menfchenliebe, die alle
Lebend= und Standedunterfchiede audgleicht, Die
mir den Muth giebt, das höchfte Gut für mich
erreichbar zu glauben, und —« Er hielt inne
und fügte dann bittend hinzu: »Tadle meinen Va⸗
ter nicht, weil ihm die Gelegenheit fehlte, dies
Bertrauen zu den Menfchen zu gewinnen !«
Der junge Baron fah ihn verwundert an.
Er begriff weder die plögliche Erregtheit, noch
das ebenfo plößliche Abbrechen feines Freundes, der
nad) einer kleinen Paufe die Frage hinwarf:
»Was wußte Herr von Pleflen von meined Bas
terd Krankheit?«
»Du kennſt die Art feiner Xrmenpflege, bie
er immer weiter ausdehnt, befonders wo es gilt,
fchweigender Noth zu helfen. Er fucht von den
Armenvorftehern, den Apothefern die Namen ders °
jenigen zu erfahren, die freie Mebizin erhalten \
und dorthin Hülfe und Rath zu bringen. Se !
Al
Ä
215
Geliebten zum Vorwurfe, der, niebergeworfen
durch den Glauben, fie habe die Größe des Opfers
nicht begriffen, durch das er ihrer werth zu fein
getrachtet,, fie Liebe ihn alfo nicht, es nicht er-
tragen konnte, fie gleichgültig mit Anderen ver-
kehren zu fehen, während er fo tief behübt war.
Ihr Bild verzerrte ſich ihm, er hätte fie töbten
innen, um fie nicht mehr lächeln zu fehen, und
mit einer Werzweiflung, in ver fi Haß und
Liebe einten, verließ er plößlich die Geſellſchaft.
Helene ſah ed mit fchmerzlihem Trotze, fie
war zufrieben, fich nicht gebemüthigt zu haben.
Aber als die Säfte fich entfernt hatten, als fie
fi) allein mit Gornelie in ihrem Zimmer fand,
da Famen dad Bewußtſein ihres Unrechtd und
die Reue über fie. Sie feste fich nieder an
Friedrich zu fchreiben, fie forderte feine Verge-
bung. Das Peine Blatt war gefaltet und ver-
fiegelt, da trieb ihr der Gedanke an den Diener,
den fie zum Ueberbringer und alfo zum Vertrau⸗
ten ihres Geheimniffes machen mußte, die Roͤthe
der Scham in die Wangen. Sie zerriß den Brief,
ſich tröftend mit der Hoffnung, der Geliebte werde
216
fie nicht entbehren koͤnnen, er werbe wiederkom⸗
men und fie ihm ihre Schuld geftehen, feine Ber:
zeihung erlangen.
Aber Friedrih blieb aus, er erwartete ein
Zeichen von Helene, der ed leicht fein mußte,
ihm eine Einladung zu erwirken, und Beide hat:
ten begonnen, den bitteren Zorn der Liebe gegen
einander zu empfinden, als Helene eines Abends
in dad Zimmer ihres Vaters befchieden wurde.
Die Eltern faßen auf dem Sophe, die Mut:
ter war in fichtlicher Bewegung, der Vater hatte
ſchweigend dad Haupt auf ben Arm geflügt,
Erich fland in der Fenfterbräftung. Eine dumpfe
Angſt uͤberkam fie als fie eintrat, fie fühlte, dieſe
Zufammentunft gelte ihr. Man hatte ihre Liebe
für Friedrich entvedt, man fah fie ald ein Un:
recht an, man wollte fie zur Rechenfchaft ziehen,
und willen⸗ und urtheilslos wie fie war fühlte
Helene ſich ſchuldig, weil fie dafür gehalten zu
werden glaubte,
Mit bebender Stimme fragte fie, was ihr
Bater befehle? | |
»Ich habe mit Dir eine ernfle Angelegenheit :
217
zu berathen!« antwortete er, »nimm Dir einen
Stuhl hier neben mir!«
Die Tochter gehorchte, aber der milde Ton
ihres Waters fchnitt ihr in das Herz. Sie hatte
den beften der Väter gekraͤnkt, fie wagte nicht
die Augen aufzufchlagen, als fie fich niedergelaf-
fen hatte. Da ergriff der Baron ihre Hand,
reichte ihr einen Brief hin und fagte: »Lies die—
ſen Brief, ih habe ihn vor einer Stunde für
Dich erhalten.«
Sie nahm ihn mit zitternder Band, fie ver-
mochte ihn nicht zu entfalten, denn fie Tannte
feinen Inhalt, obſchon das Gouvert Feine Auf-
[hrift zeigte. Friedrich hatte, der Qual ein Ende
zu machen, den Eltern Alles geftanden, um ihre
Hand geworben, und es war feine Hoffnung für
fie da. Starr und ſchweigend blickte fie zur Erde
nieder, bis die Mutter fich erhob, dad Haupt
der Zochter an ihren Buſen drüdte und fie bat,
fih zu beruhigen.
Da brach Helene in Thränen aus und: »Ver-
gebt mir, vergebt mir!« war Alles, was fie
fagen konnte.
14*
218
Alle Anwelenden waren betroffen, der Vater
drückte ihre Hand und fagte ermuthigend: »Wie
folte man es nicht entichuldigen, Daß dieſe
Stunde Dich erfchüttert, aber Du mußtefl darauf
gefaßt fein, und Du Fannft nicht ſchwanken, denke
ich, welchen Entfhluß Du zu faflen haft, da Du
unfere Anfichten und Wuͤnſche kennſt. Sol ich
die Antwort für Dich übernehmen, meine liebe
Tochter ?«
»Ja!« antwortete fie kaum hörbar.
»Wird Dir der Entichluß fo fchwer ?« forfchte
die Mutter.
»Ja!« wiederholte die Tochter und wunderte
fih, daß fie den Muth hatte es zu bekennen.
»Und doc wirft Du ihn fegnen!« beruhigte
der Bater, »der Graf ift —«
»Der Graf?« fragte Helene.
»Er wird Dir Erfab werden für ung Ale. Ä
fuhr der Bater fort. Ä |
»Der Graf? — Erfab?« fprad fie in einem
Tone nach, als ob ihre Gedanken ſich verwirrten. .
»Seine Liebe für Dich, feine Welterfahrung —« \
»D!« rief Helene, dem Vater in Die Rebe *
219
lend und in Leidenfchaft ausbrechend, »mwas mar:
terft Du mich mit Worten, die ich nicht verftehe,
wad wilft Du mit dem Grafen jest in biefer
Stunde, lieber Bater?« Ihre Augen funkelten,
ihre Glieder bebten, die Eltern und Erich fahen
einander betroffen an.
„Was bedeutet das?« fragte der Baron feine
Gattin.
Sie wußte Feine Auskunft zu geben und bat,
fie mit der Tochter allein zu laffen. Als man ihr
gehorfamt hatte, feßte fie fich nieder, nahm Helene
in den Arm, Öffnete den Brief, der noch ungelefen
auf dem Xifche lag und bat fie: »Lied den
Brief, mein Kind! Die Worte ded Grafen, dem
Du Dich verlobt, werden Dich am leichteften be-
tuhigen.«
»Sh mich verlobt? Ich? dem Grafen
St. Brezan?« rief Helene auffpringend und ber
eintretenden Gornelie entgegeneilend, deren Hände
fie mit folcher Gewalt ergriff, daß diefe davor
zufammenfchraf.
»Sprich mit mir Gornelie!« flehte fie, »fage
mir, daß ich träume, wede mich, wede mid,
Dreizehntes Kapitel.
Es waͤhrte geraume Zeit, ehe Sriebrich einen
feften Entichluß zu gewinnen vermochte. Schonlange
hatte er gemünfcht, ſich für denafademifchen Lehrſtuhl
auszubilden, um in der Stadt zu leben und fich
weitere Lebenskreiſe zu eröffnen, ald die Laufbahn
eines Geiftlichen ihm für die erfle Zeit verhieß.
Seit er Helenend Liebe ficher war, fah er die
fchnelle Erlangung einer Profeflur ald das eins
zige Mittel an, dad ihm die Geliebte gewinnen
Eonnte, und immer wieder drängte fich ihm ber
Glaube auf, Helene habe dem Bruder ihre
Liebe vertraut und diefer wolle dem Freunde
felbft die Wege für die Zukunft bahnen. Aber
die Anfichten, welche er oftmald im Haufe
des Barons über ftandesmäßige Ehen, von Erich
über heimliche Sugendrerlobungen hatte ausſpre⸗
221
»Ich glaube Dir, daß Du fo fühlft,« fagte
die Baronin, »und ich beklage Dich deshalb,
aber Du haft ficher nicht auf eine Ehe mit dem
jungen Brand gehofft, er felbft kann nicht daran
gedacht haben, Dich Deiner Familie, Deinem
Stande, Deinen Berhältniffen zu entreißen, um
Dich Leuten, wie feinen Eltern, zuzuführen und
Dir ein forgen= und arbeitsvolles Leben aufzu⸗
. bürden, für das alle Kräfte und Gewohnheiten
Dir fehlen.«
Helene hätte Einwendungen machen, fich und
Friedrich und ihre Hoffnungen vertheidigen mögen,
aber der anerzogene Gehorfam fchloß ihr den
Mund. Sie warf fi ihr Schweigen ald eine
Feigheit, eine Schwäche vor, und doch fehlte ihr
die Möglichkeit, der Mutter offen zu wider
fprechen.
Auf die Gewohnheit‘ diefer ihrer Ueberordnung
flügte die Baronin ſich eben fo fehr als auf ihr
gutes Recht. Sie ſetzte der Zochter auseinander,
wie ja Friedrich felbft ihr durch fein Fortbleiben
aus dem Haufe den Weg vorgezeichnet, den fie
zu gehen hätte. Sie lobte ihn, daß er feinen
212
nend Phantaſie fich, alle Schranken überflügelnd,
dies Beifammenfein mit dem Geliebten audgemalt,
um fo größer war aller Ueberrafchung bei Frieb-
rich's Weigerung. Helene und ihr Bruder fühl:
ten fich gegen ihn verftimmt, ihre Eitern beſchul⸗
digten ihn eine falfchen Stolzed und ließen ibn
dad Mißgefühl entgelten, Verſchmaͤhung ftatt des
erwarteten Dankes erfahren zu haben, denn bie
Vorkehrungen für Richard waren der Art getrofs
fen worden, daß er nur wenig Stunden der Auf:
ficht feines Erziehers anheimgefallen und dieſem
der größte Weil feiner Zeit zu freier Selbftbe-
ſtimmung geblieben fein würde.
Dadurch warb dad Werhältniß des jungen
Manned zu dem ihm fo theuren Menfchenfreife
plöslich ganz verwandelt. Man tadelte ihn all:
gemein, fogarder Doctor wollte Die Gründe nicht gel⸗
ten laſſen, mit denen Friedrich ihm das Ablehnen je⸗
ned Amtes erflärte, und befonderd war ed Helene,
die ihm ihre Enttäufchung nicht vergeben zu koͤn⸗
nen fchien. Verkannt und gebrüdt, wie er fich
nun im Heidenbrud’fchen Haufe fühlte, verlor er
bie Unbefangenbeit, daſſelbe, wie er fonft gethan, un-
223
Brand? Wird ed Dich nie gereuen, Dein an
iveale Genuͤſſe gewöhntes Dafein gegen ein 2e-
ben vol Mühe und grober Arbeit einzutaufchen?
Slaubft Du, daß Dich die Liebe entfchädigen koͤnne
für Alles was Du opferft?«
Helene antwortete nicht. Ihr Verftand be-
griff Die Richtigkeit der Einwendungen, ihr Herz
vermochte fie nicht anzuerkennen, auch drängte
die Mutter fie nicht zur Entfcheidung. Sie bot
ihe Zeit an, fich zu faflen, nachzudenken, und
übernahm es, den Vater über diefen Aufichub zu
berubigen, da der Graf felbft ‘Helene ermahnt
hatte, fich in Ruhe zu prüfen, ehe fie fich ent-
Ihließe, dem älteren Manne ihre Hand zu reichen,
und zärtlich die Tochter umarmend, verließ bie
Baronin das Gemach mit dem ausdrüdlichen Be⸗
fehle, dem Water und dem Bruder die Herzens:
verirrung Helenens zu verbergen.
214
beängftigt und verwirrt. Endlich fragte der Juͤng⸗
ling: »Zürnen Sie mir auch?«
»Mie kann man Iemand zürnen, weil.er feis
ner Neigung Folge leiftet?« entgegnete fie mit
jener Unmwahrheit, die den Frauen unter dem
Namen des weiblichen Stolzes als Zugend aner-
“zogen wird. Rur die höchfte Liebe befreit das
Weib von diefem Auswuchd unferer falfchen Sitt⸗
lichkeitöbegriffe. Der Mann Tann im Kampfe
lächeln, wenn er den Feind verwundet, das Weib
thut e8 dem Geliebten gegenüber und findet eine
Luft daran, ſich und ihn zu einer Graufamteit
empor zu flachen, von der fie Beide leiden.
„Meiner Neigung ?« wiederholte er und blickte
fie an, als müffe er fich überzeugen, ob fie es
fei, die fo zu ihm geredet.
»Oder Ihrer kalten Vernunft!« verbeflerte
Helene, und wendete ſich von ihm zu einer Gruppe
anderer Perſonen. Sie bemerkte Friedrich's Er⸗
bleichen, auch ihr klopfte das Herz krampfhaft
und ſie litt von ihrer eigenen Haͤrte, aber grade
dieſes Leiden beſtaͤrkte ſie in ihrer Selbſtverblen⸗
dung, denn ſie machte es nicht ſich, ſondern dem
215
Geliebten zum Vorwurfe, der, niedergemworfen
durch den Glauben, fie habe die Größe des Opfers
nicht begriffen, durch das er ihrer werth zu fein
getrachtet,, fie liebe ihn alfo nicht, es nicht er-
tragen konnte, fie gleichgültig mit Anderen ver-
tehren zu fehen, während er fo tief behübt war.
Ihr Bild verzerrte ſich ihm, er hätte fie toͤdten
innen, um fie nicht mehr lächeln zu fehen, und
mit einer Verzweiflung, in der fi) Haß und
Liebe einten, verließ er plöglich die Gefellfchaft.
Helene fah ed mit fchmerzlichem Trotze, fie
war zufrieden, fich nicht gedemüthigt zu haben.
Aber als die Gäfte fich entfernt hatten, als fie
fi) allein mit Gornelie in ihrem Zimmer fand,
da Famen dad Bemwußtfein ihred Unrechtd und
die Reue über fie. Sie fegte ſich nieder an
Friedrich zu fchreiben, fie forderte feine Verge⸗
bung. Das Eleine Blatt war gefaltet und ver-
fiegelt, da trieb ihr der Gedanke an den Diener,
den fie zum Ueberbringer und alfo zum Vertrau⸗
ten ihres Geheimniffes machen mußte, die Röthe
der Scham in die Wangen. Sie zerriß den Brief,
fich tröftend mit der Hoffnung, der Geliebte werde
216
fie nicht entbehren können, er werde wiederkom⸗
men und fie ihm ihre Schuld geftehen, feine Ber:
zeihung erlangen.
Aber Friedrich blieb aus, er erwartete ein
Zeichen von Helene, ber es leicht fein mußte,
ihm eine Einladung zu erwirfen, und Beide hat⸗
ten begonnen, den bitteren Zorn der Liebe gegen
einander zu empfinden, als Helene eines Abends
in dad Zimmer ihres Vaters befchieden wurde.
Die Eltern faßen auf dem Sopha, die Mut:
ter war in füchtlicher Bewegung, der Vater hatte
fhweigend das Haupt auf ben Arm geftuͤtzt,
Erich ftand in der Fenfterbrüftung. Eine dumpfe
Angft uͤberkam fie als fie eintrat, fie fühlte, dieſe
Zufammentunft gelte ihr. Man hatte ihre Liebe
für Friedrich entdedt, man ſah fie ald ein Un:
recht an, man wollte fie zur Rechenfchaft ziehen,
und willene und urtheildlos wie fie war fühlte
Helene ſich fchuldig, weil fie dafür gehalten zu
werden glaubte.
Mit bebender Stimme fragte fie, was ihr
Vater befehle?
»Ich habe mit Dir eine ernfle Angelegenheit
f
|
227
„Die Sräuleind waren auch da, die Eine
malte und ich glaube die Andere lad. Die Alte
aber fagte, als fie fertig war und ich aufftehen
wollte, ich follte nur fißen bleiben, fie hätte von
meiner Krankheitgehört. Ich fagte: man ſieht's mir
auch wohl noch an! — Ja! meinte fie, und wenn
ih gewußt hätte, daß Sie noch fo ſchwach find,
fo hätte ich gewartet. Kann man Ihnen denn
mit gar Nichts helfen? Da habe ich gedankt
und habe gefagt: mein Sohn hat’s mir an gar
Nichts fehlen Taffen, und Sie werden ja gehört
‚haben, daß er den Preis befommen hat. — Ihr
Sohn? fragte Die eine Tochter, ald wenn fie
mich nicht Tennte.«
»Welche Zochter fragte das?« rief Friedrich.
„Die an der Staffelei! — Ja, fagte ich, er
geht ja hier. ein und aus! und die Alte fagte:
es iſt der Meifter Brand, der Vater von dem
jungen Brand !«
»Und was that fie darauf?« fragte der Juͤng⸗
ling ungeduldig.
»Sie fagte mir, fie wolle neue Schränke ge-
15*
216
fie nicht entbehren können, er werbe wiederkom⸗
men und fie ihm ihre Schuld geftehen, feine Ver⸗
zeihung erlangen.
Aber Friedrich blieb aus, er erwartete ein
Zeichen von Helene, der es leicht fein mußte,
ihm eine Einladung zu erwirfen, und Beide hat:
ten begonnen, den bitteren Zorn der Liebe gegen
einander zu empfinden, als Helene eines Abends
in dad Zimmer ihres Water befchieden wurde.
Die Eltern faßen auf dem Sopha, die Mut:
ter war in fichtlicher Bewegung, der Vater "hatte
fchweigend das Haupt auf ben Arm geflügt,
Erich ftand in der Fenfterbrüftung. Eine dumpfe
Angft uͤberkam fie als fie eintrat, fie fühlte, dieſe
Zufammentunft gelte ihr. Man hatte ihre Liebe
für Friedrich entdedt, man fah fie als ein Un:
recht an, man wollte fie zur Rechenfchaft ziehen,
und willen und urtheilslos wie fie war fühlte
Helene fich fehuldig, weil fie dafür gehalten zu
werben glaubte.
Mit bebender Stimme fragte fie, was ihr
Vater befehle?
»Ich habe mit Dir eine ernfte Angelegenheit
229
»Die Alte fagte: das ift fehr brav von
Ihnen, und Ihr Sohn macht Ihnen alle Ehre,
Sie werden einmal eine rechte Stüße an ihm
a haben, und was wir zu ſeinem Fortkommen thun
= hoͤnnen, dad ſoll gewiß geſchehen! — Ich hatt's
Ihon auf der Zunge zu fagen, Du würbeft Dir
wohl felber helfen, aber ich dachte, wozu? und
fügte: wenn fie einmal eine Pfarre auf ihren
Gütern hätten, fo wuͤrden fie wohl nicht Viele
kriegen, bie ed befler machten als Du, und dann
koͤnnten wir zu Dir ziehen, ich Tönnte draußen
arbeiten und ed wäre und dann Allen geholfen.
Sie hörten mir fo zu, daß ed mir, ich weiß nicht
Wie, vom Herzen ging, und fie waren ordentlich
gerührt davon. Die an ber Staffelei fing mitten
Drin zu weinen an und ging hinaus!«
Friedrich hörte Nichtd weiter, nicht wie der
Water die Maße genommen, nicht wie die Ba—
“eonin befohlen, ihm ein gutes Frühftücd! zu geben,
Denn alle feine Gedanken meilten bei Helene.
Er mußte wiffen, weshalb fie geweint, weshalb
fie das Zimmer verlaffen und nicht mit feinem
Water gefprochen hatte?
218
Alle Anwefenden waren betroffen, der Water
drücdte ihre Hand und fagte ermuthigend: »Wie
folte man es nicht entichuldigen, daß dieſe
Stunde Dich erfchüttert, aber Du mußteft darauf
gefaßt fein, und Du kannſt nicht ſchwanken, denfe
ich, welchen Entfchluß Du zu faſſen haft, da Du
unfere Anfichten und Wuͤnſche kennſt. Sol ich
die Antwort für Dich übernehmen, meine liebe
Tochter ?«
»Ja!« antwortete fie Faum hörbar.
»Wird Dir der Entfchluß fo ſchwer?« forfchte
die Mutter.
»Ja!« wiederholte die Zochter und mwunderte
fih, daß fie den Muth hatte es zu bekennen.
»Und doch wirft Du ihn fegnen!« beruhigte
der Water, »der Graf ift —«
»Der Graf?« fragte Helene.
»&r wird Dir Erfab werben für uns Ale.
fuhr der Vater fort.
»Der Graf? — Erfaß?« ſprach fie in einem
Tone nach, als ob ihre Gedanken ſich verwirrten.
»Seine Liebe für Dich, feine Welterfahrung —«
»O!« rief Helene, dem Vater in die Rebe fal-
231
‚ tiner Beziehung zu fich dachte. Zu diefem Manne,
zu einer ihm ähnlichen Frau in kindlichem Ver⸗
hältmiffe zu ftehen, ihn Vater zu nennen, Fam
ihr unmöglich vor. Sie beflagte und bewun⸗
derte den Geliebten, ohne daß es fie milder gegen
feinen Vater flimmte, und diefer Zwieſpalt ihres
Empfindend ward zulegt fo qualvoll, daß fie,
wie der Meifter berichtet, in Zhränen das Zim⸗
mer verlaflen hatte.
Aber die Einfamkeit ihres Gemaches minderte
das Leiden nicht. Sie zürnte ihrer Mutter, daß
fie den Bater des Geliebten benutzt habe, fie von
Diefem zu entfernen, fie nannte ed graufam und
berzlos, und doch erfchrad fie vor dem Gedanken,
daß diefer alte Mann ihr hätte begegnen konnen,
wenn er bereitd Rechte an fie geltend zu machen
gehabt hätte. Sie Eonnte mit folhen Menfchen
richt leben. Wie hatte Friedrich ihr, der edel
Sewöhnten, folch felbftfüchtige Zumuthung zu
machen wagen dürfen? »Aber hat er nicht in
ihrer Mitte gelebt? hat er fich nicht fchön und
hoch entwidelt neben diefen Eltern? und follte
id das nicht auch vermögen?« fragte fie fich,
Dreizehntes Kapitel.
Es währte geraume Zeit, ehe Friedrich einen
feften Entichluß zu gewinnen vermochte. Schonlange
hatte er gemünfcht, fich für denafademifchen Lehrſtuhl
auszubilden, um in der Stadt zu leben und fich
weitere Lebenskreiſe zu eröffnen, als die Laufbahn
eines Geiftlichen ihm für die erfte Zeit verhieß.
Seit er Helenend Liebe ficher war, fah er die
fchnelle Erlangung einer Profeflur als das eins
zige Mittel an, das ihm die Geliebte gewinnen
Eonnte, und immer wieder drängte fich ihm der
Glaube auf, Helene habe dem Bruder ihre
Liebe vertraut und diefer wolle dem Freunde
felbft die Wege für die Zukunft bahnen. Aber
die Anfichten, welche er oftmald im Haufe
des Barons über ftandesmäßige Ehen, von Eric)
über heimliche Jugendrerlobungen hatte außfpre-
233
ihre Hand und fprah: »Wenn der Himmel
einem Sünglinge :wie diefem Friedrich wohl will,
fo fendet er ihm früh ein Ideal, ihn vor dem
Niebrigen zu hüten, ihn zu dem Höchften hinzu-
führen — und wehe ihm, wenn er's herabzieht
in die Niedrigkeit der Erde. Bewahre ihn vor
diefem Elend meine Tochter!«
»D! daß ich's koͤnnte! daß ich ihn gluͤcklich
machen koͤnnte!« rief Helene.
»Du Pannft es, und Du folft es thun, mein
Kind! Nimm ihm die Möglichkeit, Did) und
Dein Leben durch niedrige Altäglichkeit zu pro:
faniren. Bleibe ihm unerreichbar ald Bild der
reinften, höchften Weiblichkeit, und er wird fein
Jugendideal treuer, anbetender lieben durch fein
ganzes Leben, ald eine durch ihn aus ihrer Sphäre
herabgezogene und in feinem Haufe unglüdfelige
Frau. Entfage ihm, um Di ihm zu erhalten!«
Und wortlos auf das Knie ſinkend vor der
Mutter, reichte Helene ihr die beiden Hände hin
zum feierlichen Werfprechen des Gehorfams, das
fie mit ihren Thraͤnen befiegelte.
Die Baronin gönnte ihr Zeit zur Sammlung,
234
dann überließ fie fich der Freude, fie mit ficherer
Hand vor einem Schritte bewahrt zu haben,
den fie der Tochter fo verberblich glaubte. Sie
eilte, dem Baron Helenens Einwilligung zu melden;
die Nachricht der Verlobung brachte dad ganze
Haus in freudige Bewegung. Der Vater, die
Geſchwiſter, Die Dienerfchaft, bei welcher der frei-
gebige Graf in gutem Gedenken lebte, drängten fich
glüdwünfchend heran, nur Cornelie fah forgen-
vol auf diefe Zeichen der Zufriedenheit und drüdte
leife der Schweiter Hand, die, wie von einem
Traume befangen, Alles um fich her gefchehen
ließ und fich faft willenlos in Alles fügte, was
man von ihr begehrte.
Während fie dem Grafen fchrieb, fie fei bereit
ihm zu gehören, und Erich auf des Vaters Wunfch
die Verlobung der Schwefter dem Onkel meldete,
trat Friedrich in fein Zimmer, befangen durch die
innerliche, wenn auch nicht ausgefprochene Ver⸗
ſtimmung zwifchen den beiden Freunden, aufge-
regt durch den Gedanken, die Geliebte wiederzu-
fehen. Aber Erich bemerkte davon in feiner
Freude Nichts, und dem Kommenden die Hand
235
zum Gruße bietend, fagte er mit SHerzlichkeit:
»Du- kommſt zu guter Stunde!“
»Iſt Dir ein Gluͤck begegnet?« fragte Friedrich.
»Du leuchteft vor Zufriedenheit !«
»Ja! Helene bat fich mit dem Grafen St.
Brezan verlobt!«
»Nein! nein!« rief Friedrich und hielt ſich er⸗
bleichend an dem Tiſche, neben dem er ſtand.
»Um Gotteswillen! was haſt Du?« fragte
ſein Freund und blickte ihn angſtvoll an.
»Sage nein! ſage nein!« wiederholte der Be-
bende und preßte feine Hände gegen feine Stirn.
Erich ſchwieg. Es war eine Weile ganz ftill
in dem Gemache, dann ergriff er Friedrich’ Hand,
und fagte leife: »Armer Sreund !«
Er erhielt Feine Antwort. Friedrich hatte fich
niedergefegt und barg fein Antlik mit den Hän-
den. Erich fland rathlos neben ihm. Jetzt ward
ihm das Verhalten feiner Schwefter Elar. Er beflagte
fie, er beklagte den Freund, aber ohne den Ge:
danken, dag ihr Schiefal anders zu geſtalten ge-
weſen wäre, ja er fühlte, daß nur auf diefe Weife
Beide ihm erhalten worden wären, und in dem
236
Glauben, dem Freunde damit Troft zu geben,
rief er fich felber tröftend: »Sind wir einander
doch geblieben!«
»Was ift mir das?« brach Friedrich in der
Gewalt des erften Schmerzed heftig aus; dann
ſich befinnend, fland er auf und bat: »Vergieb!
ich wußte nicht, was ich fagte, mich ängftigen
diefe Waͤnde!«
Er fchritt der Thüre zu, Heidenbrud wollte
ihn begleiten, Friedrich bat, ihn allein zu laffen.
Helenens Bruder follte ed nicht fehen, wie feine
Seele zerriflen war.
Er glaubte ſich Ealtherzig von ihr getäufcht.
Schon an dem Abende, da fie feine liebevolle
Annäherung fo fpöttifch abgewiefen, wähnte er
den Verrath von ihr befchlofien, und er hatte
fie fo fehr geliebt. Er vermochte die ‚Größe -
feines Schmerzes felbft Baum zu erfaflen, ed war
ihm, als müfje fie ihn vernichten.
Ald er an des Doctors Wohnung vorüberfam,
trieb es ihn hinaufzugehen und ihm SHelenens
Verlobung zu erzählen. Er wollte die wollüftige
237
Dual genießen, fein bitterfles Weh mit Palter
Lippe auszufprechen, aber ald er nach dem &lin-
gelzuge griff, ſchauderte er davor zurüd, denn er
kam fich gefpenftifch, wie fein höhnender Doppel:
gänger vor, in dem Gedanken an dies felbftquä-
lerifche Geluͤſten. Und doch wollte er Jemand
fprechen, um nicht fich felbft anheimzufallen. Erhätte .
zu feinem Vater gehen mögen, zu blutöverwand-
ten Menfchen, die ihn lieben mußten, ihnen fein
Leid zu klagen, aber er hörte ja auch jest ſchon
immerfort ded Vaters tadelndes: »Warum ver:
trauteft Du den Vornehmen?«
Er ging vor's Thor hinaus und kam erft in
der Dunkelheit in feine Wohnung, in der ihn ein
Billet feines Freundes erwartete. Es lautete:
»Du wollteft heute Helenens Bruder nicht mehr
fehben, ich verftehe dein Empfinden, aber glaube
mir, daß Helene leidet wie Du ſelbſt. Ich ver:
fprach ihr, es Dir zu fagen, zum Troſte für das
unerläßiiche Opfer, das fie bringen mußte. Sie
wünfcht aufs Land zu gehen, wir fahren: morgen
früh hinaus. Es ift auch Dir das Befte. Sm:
wenig Tagen kehre ich zuruͤck; gönne mir und
238
Dir, gönne meiner Schwefter dann die Beruhi-
gung, daß ich bei Dir bin!« —
Wie erlöft athmete ver Juͤngling auf. Er warf
fi) auf dem Stuhle vor dem Tiſche nieder, und
den Kopf auf die untergebreiteten. Arme flüßend,
. weinte er feine heißen Thraͤnen einfam aus.
Endlich gewann der tröftende Gedanke, daß Delene
ſchuldlos fei, daß er fie wieder lieben koͤnne, die
Oberhand in ihm. Er vergaß feines Schmerzes, um
des ihren zu gedenken, ihr Schidfal, ihre Zufunft
befchäftigten ihn allein, und mit einem heißen
Gebete um Frieden für fie, fchlief er von Kummer
ermübdet ein, als ſchon das erſte Tagesgrauen
durch die Scheiben flimmerte.
Eine tiefe Lähmung überfam ihm beim Er-
wachen, denn es duͤnkte ihn, als habe er jetzt
Nichts mehr zu thun auf diefer Welt, da er das
Ziel feines Streben verloren hatte. Mechanifch
räumte er die auögebreiteten Bücher und Papiere
wieder zufammen und feßte ſich müßig träumend
an das Fenſter. Aus diefer fchmerzlichen Stumpf:
beit fchredite ihn Larſſens Beſuch empor.
»Ich hatte die Ferien vergeflen,« fagte er,
239
»und bin in des Schultrappe Gewohnheit um
fieben Uhr aufgeflanden. Komm ic Dir zufrüh?«
Friedrich verneinte ed und nöthigte ihn, fich
niederzulaflen und fich eine Pfeife anzuzünden.
Er that es, aber ohne die ihm fonft eigene
Sorgfalt und Behaglichkeit. Während er den
Tabak herbeiholte und die Pfeife ftopfte, fah er
immer verftohlen zu dem Sünglinge hinüber und
meinte endlich, in abgebrochenen Sägen fprechenp:
»Man muß fich nicht fo in fich felbft verſenken
— man muß fi nicht dem Feinde übergeben —
der Schmerz ift unfer Todtfeind.« — Dazwifchen
zündete er paffend feine Pfeife an, ging rauchend
im Bimmer auf und nieder und fagte endlich, in⸗
dem er vor dem zerftreut Zuhörenden ftehen blieb:
»Ich Fam nur zu fehen, was Du machteft!«
»Das ift fehr gut von Dir!« antwortete die-
fer, ohne weitere Erklärung. |
»Fertige mich nicht mit dieſer dankbaren
Dhrafe ded Don Garlos ab,« Tächelte Larffen,
»denn ich bin Fein fonderbarer Schwärmer wie
der Pofa, und mit Dir geht ed auch noch nicht
zu Ende. Heute wirft Du mich nicht los!«
240
»Ich werde Dir Fein angenehmer Gefellfchaf:
ter fein!« wendete Friedrich ein.
»&in um fo beflerer hoffe ih Dir zu werden.
Laß und hinaus gehen vor das Thor!«
»Du wilft fpagieren gehen?« fragte der An⸗
dere verwundert, Denn ed vergingen ganze Som⸗
mer, ohne daß Larffen daran dachte, die Stadt
und ihre Öffentlichen Gärten zu verlaffen.
»Ich werbe did und appetitlod und muß da⸗
ran denken, mirBewegung zu verfchaffen. Kleide
Di an und laß uns gehen!« wiederholte Larfien,
mit felbftifchen Gründen eine Xheilnahme verber-
gend, die Friedrich trotz ihrer eigenthümlichen
Ausdrudsweife wohlthat. Auch hatten fie kaum
das Freie erreicht, ald er die Erquidung zu füh-
len begann, welche für jedes perfünliche Leid aus
dem Anblid der Natur erwaͤchſt. Sein dumpfer
Schmerz löfte fich in Traurigkeit, in Wehmuth
auf, und Larſſen bewachte liebevoll die Stimmung
des Sünglings, bemüht, ſich jedem Wechſel derfel:
ben fchweigend oder fprechend. anzupaflen, ohne
den Grund von Friedrich's Kummer mit Worten
zu berühren. Ä
241
So modten fie eine Stunde gegangen fein,
ald Larffen erflärte, nun der Ruhe zu bedürfen.
Eine Beine Schenke am Wege bot Gelegenheit
dazu, und als fie im Schatten der dicht umrank-
ten Kürbislaube Platz genommen hatten, als Die
Wirthin in ihren rothen Händen, die ftrogend
ans den weißen Hemdeärmeln hervorfahen, ſchaͤu⸗
mended Bier und Brod und Schinken herzuge-
tragen und. Alled vor den Gaͤſten mwohlgeordnet
hatte, blickte Larfien mit ungeheucheltem Entzüden
in die großen Gläfer und fagte, als käme ihm
aus dem Gebrodel des Schaumes Einficht und
Verſtand: »Mer fich felbft. wiederfinden will,
muß nicht bei fich zu Haufe bleiben, die eigene
Wohnung macht. befchränft, wie alles Sonder:
wefen, denn der Geift erzeugt ſich nur in der
Maſſe. Wer wie die Alten ſtets in großer Ge:
meinfchaft mit anderen Menfchen lebt, fei es auf
dem Forum oder in der Kneipe, bewahrt fich vor
jener Einfeitigfeit deö Geifted und des Herzens,
aus der aller Partifularismus die ganze krank⸗
hafte Gefühlörichtung unferer Zeit erwächft. Die
Alten Fannten auch unfere Liebeöleiden nicht und
Bandlungen. 1. 16
242
dad Mittelalter that nur liebeleidensfelig, im
Grunde war ed doch gefund. Es fommt auch
Nichts heraus bei der alleinzigen Liebe! «
»Das mag wohl fein!« gegenredete Friedrich,
»aber — —«
»Aber Du begreifft ed heute nicht! Das
kann auch Niemand von Dir fordern !« — Er fchnitt
dabei das Brod in dünne Scheiben, ftrich Butter
darauf, belegte es mit Schinken und nöthigte
feinen Genoffen zuzulangen. »Du fiehft aus,
als hätteft Du nicht gefruͤhſtuͤkkt, und Nüchtern-
heit macht muthlos!« meinte er. Dann, während
er jelbft wader zugriff, fagte er: »So oft id
von Liebesleiden höre, kommt mir immer ein
Vers aud einem Stammbuche ded fechzehnten
Sahrhunderts in den Sinn, der Elar und gefund
ift, wie guter Wein. Er heißt:
»Ich laſſe alle Jungfraun raufchen,
Haben ſie zu wechſeln, hab' ich zu tauſchen,
Scheint ihnen die Sonne, weht mir der Wind!
Mandy andere Mutter hat auch ein liebes Kindl« |
Larfien lachte laut bei diefen Worten, indeß
Friedrich unangenehm davon berührt ward, und |
243
einen Mißgriff fühlend, wollte Iener einlenken,
13 ein Poflborn fich hören ließ, und um die
ſcke der Straße der Poſtwagen hervorkam. Das
nthob ihn der Mühe, eine andere Unterhaltung
u beginnen, er ſtand auf, die Paffagiere zu be-
rachten. Kaum aber war er an den die Schenfe
ımgebenden Zaun getreten, ald eine Stimme aus
em Bagen dem Poftillon ein »Halt! Halt!«
urief.” Der Schlag warb aufgeriffen und mit
inem Sprunge hatte ein junger Offizier den
Boden erreicht, Ber fich Larfien um den Hals
varf.
»Mie zum Teufel kommſt Du vor's Thor!«
ragte er diefen, der ihn herzlich umarmte.
»Ich habe eine Morgenpromenade gemacht!«
Der Offizier lachte laut auf. »Die erfte in
Deinem Leben!« rief er, »da muß ich dabei fein.
Sahr zu Schwager, ich bleibe hier!« -
„Aber Ihre Sachen, Herr Lieutenant?« wen
ete der Conducteur ein.
»Die Eönnen in der Poft bleiben, ich‘ komme
sach !« antwortete der junge Mann, fchüttelte ven
Staub von feinen Kleidern, redte die fibend-
16*
244
mübden Glieder und fragte fi) umfchauend, wäh-
rend die Poft davon fuhr: »aber bift Du wirf:
lich ganz allein hier, Larſſen?«
»Nein! nicht ganz allein, fo kann ich nicht
entarten. Sch frühftüde hier mit meinem und
Deined Bruderd Freunde, mit Brand!«
»„So laßt mich den Dritten fein!« bat ber
Offizier, begrüßte Friedrich, dem er fich ald Georg
Heidenbrud vorftellte, forderte ein Fruͤhſtuͤck und
feßte fich zu den Anderen nieder, nachdem er bie
fteife Militairkravatte abgenommen und die Uni⸗
form ausgezogen hatte, unter der er feine Wefte
trug. »Das ift zwar nicht reglementömäßig, aber
um fo angenehmer,« meinte er, »und nun erzählt
mir, was machen fie zu Haufe?«
»Sie find heute früh aufs Land gegangen!«
berichtete Larſſen.
»Und mas giebt’3 Neues fonft?«
»Erwartefi Du Etwas?« fragte Larffen.
»Nun, um die Sache kurz zu maden, denn
Brand wird ja auch darum wiſſen, wie ſteht es
mit Helene?
»Sie ift Braut feit geftern!« antwortete Larſſen.
245
»Und was denkt Ihr von dem St. Brezan?«
jefchte Georg weiter. „Erich hat mir fehon im
Binter in feinem biplomatifch verblümten Stylus
ber ihn und über die Pläne und Wuͤnſche der Fa⸗
ilie gefchrieben, da ich aber in die Familienpläne
ie eingeweiht zu werden pflege, und die Familien⸗
yünfche inftinctiv und grundfäglich faft niemals
heile, fo weiß ich von der Sache Nichte. Wie
It ift St. Brezan?« |
»Im beften Alter!« fagte Larſſen.
»Das heißt, im beften Alter fich zur Ruhe zu
Ken! Man Fennt diefe beften Alter, die anfan-
en, wenn die guten Tage vorüber find!« höhnte
er Lieutenant, während feine Züge ernfthaft
yurben, und mit bitterem Ausdruck fügte er hin-
u: »alfo eine flandesmäßig oͤkonomiſche Verkup⸗
elung! — dazu war Helene im Grunde doch zu
ut!« Ä
Sriedrich Eonnte diefe Unterhaltung nicht laͤn⸗
er ertragen, er fland auf und ging davon.
Beorg fah ihm eine Weile nach, blidte dann
:arfien an und fragte endlich: »Hat Helene ihn
uch geliebt?« | |
26
— — — — —
»Ja!« lautete die Antwort und dann ſchwie⸗
gen Beide, bis fein ehemaliger Lehrer den Lieu-
tenant darauf aufmerffam machte, daß es Zeit
fei in die Stadt zu geben, weil er fonft das
väterliche Gut nicht mehr erreichen koͤnne.
„Um fo befjer!« meinte diefer, »ich bin nicht
begierig, Helene fo verkauft zu fehen und bin
froh, einmal nicht an die Signaltrommel gebun=
den zu fein. Sch habe fechd Wochen Urlaub, ebe
ich bei den Cüraffiren eintrete.«
»So bleibft Du nun zu Daufe?«
»Der Alte will es fo. Er denkt, doppelter
Vorſpann reißt nicht! An der Kette des Familien
lebend und an der Leine des Dienftes haben fie
mich ficher !«
Es lag eben fo viel jugendlicher Uebermuth
ald Spott in feinen Worten, und Friedrich, der
inzwifchen ſich wieder zu ihnen gefunden hatte,
betrachtete ihn mit wachfendem Intereſſe.
Kleiner und flämmiger ald der hochſchlanke
Erich, hatte er Corneliend dunkle Farben, die ihm
ein über feine Sahre männliche Anfehen gaben.
Sein ſchwarzes Haar legte ſich trotz des militaͤ⸗
247
riſchen Zufchnitts in vollen Locken um die breite
Stirne, die ftarfen Lippen verdedte ein dicker,
' Schwarzer Schnurrbart, aus bem die Zähne blen⸗
dend weiß hervorfahen, und obfchon die Formen
feines Gefichtes weder edel noch regelmäßig waren,
' fand Friedrich ihn faft fchöner, ald den eleganten
| Erich, wie er fo da faß mit der offenen, hochge-
wölbten Bruft und den dunkelblau leuchtenden
Augen unter den Eräftigen Brauen.
Freimüthig bis zum Leichtfinn, fragte er nach
all den kleinen Familienvorgängen, welche der
Hausfreund meift erräth, die man ihm aber doc
nicht Preis gegeben wähnt, und Friedrich ward
dabei gewahr, wie wenig er felbft in die näheren
Verhaͤltniſſe des Haufes eingeweiht gemwefen war.
Theils hatte feine Liebe ihn gleichgültig gemacht
gegen Alles, was nicht Helene betraf, theils lag
es in Erich's Weife, die Familienangelegenheiten
auch vor dem Freunde als ein Myfterium zu be⸗
handeln, und es überrafchte ihn daher, daß Georg
die Bande, welche ihn den Seinigen verfnüpften,
als einen ſchweren Drud zu fühlen fehien.
»Ich glaube,« fagte er zu Sriedrih, »Sie ges
248
hören auch zu den glüdlichen Unglüdlichen, bie
nicht von Familie find. Danken Sie Gott dafür,
denn die Familie von Familie ift des Teufels
Erfindung, und um fo fchlimmer, je befler die
einzelnen Mitglieder find, je mehr fie fich unter:
einander lieben!« |
»Haben Sie davon gelitten?« fragte Iener.
»Wenn mein Brüder Ihnen verfchwieg, daß
ich der ungerathbene Sohn des Haufes bin, fo ift
das nur ein Act feiner gewohnten Didcretion ge⸗
ween!« lachte Georg, fügte aber gleich hinzu:
‚ser iſt übrigens das Mufter eines verfländigen
Bruders, und ohne ihn wäre ich vielleicht laͤngſt
in Algier, im Caukaſus oder in irgend einem
Hinterwalde von Amerifa, wo ich denn freilich
auch befjer hingepaßt haben würde, ald in unfere
ganze zahme Gefittung. Haben Sie nie Sehn:
fucht gehabt, Herr Brand, nach Urzuftänden voll
täglichen Kampfes um dad tägliche Leben?«
»Mich duͤnkt,« antwortete ber Gefragte, »man
müffe erft allen Ueberfluß des Lebens befeflen
haben, um folchen Wunfch zu hegen!«
»Ganz und gar nicht! Man braucht nur feder⸗
249
träftig und gebrüdt worden zu fein, um den
Drud unerträglich zu finden und .auffchnellen zu
wollen. Tyrannei macht fehnfüchtig nach Freiheit,
Disciplin nad Imanglofigkeit, auch wenn man
nicht blafirt ift, wofür Sie mich zu halten fcheinen.«
- »Da8 habe ich nicht gefagt!« |
„Aber Sie haben ed gedacht! Indeß be=
ruhigen Sie fih, im Gabettenhaufe wird man
nicht blafirt. Es macht den Einen zum Sklaven,
den Andern zum Empörer, blafiren Tann die
Knechtſchaft nicht!«
Er tran? bei diefen Worten fein Glas haftig
aus, ald wolle er den Groll herunterfpülen und
fagte, als er ed dann nieberfeßte: »Ich glaube,
eö ift die verdammte Heirath, die mir die Galle
aufregt und mir die eigene Bamilienftlaverei
wieder fo vor’3 Auge rüdt, denn ich war vorher
ganz heiter in dem Gedanken ſechs Wochen Urlaub
zu haben und fo lange des verbammten Dienftes
quitt zu fein!« |
»Und was zwingt Sie im Dienft zu bleiben? «
fragte Friedrich.
»Das kann Ihnen Larffen fagen! — Ich bin
250
der jüngere Sohn und habe außerdem Nichts ge=
lernt. Ich galt für unbezähmbar, für träge. —«
»Du warft es auch!« fiel Larſſen ein.
»Ich mar ed für Dich und für die Meinen,
weil Ihr Nichts mit mir anzufangen wußtet.
Sch follte bei den Büchern fißen, mein Blut litt
‚mich nicht am Schreibtifche, ich fühlte mich matt
und flumpf und fchläfrig in der Enge bei der
todten Lernerei. Es langmweilte mich, von Gefah:
ren und Heldenthaten, von großen Unternehmun-
gen, von verdienftlihen Werken zu hören, ich
hätte ald Troßbube, als Kaufburfche dienen mö-
gen, wo fie verrichtet wurden. Mein Berftand
widerftrebte den abſurden Anftandöregeln, ich
lernte ed nicht, mich einzupaffen in die verfchiede-
nen Fächer Eurer Gefelligkeit, und der Zwang⸗
ftall des Gadettenhaufes, in den ich dann geſteckt
ward, hat mid) aud) Nichts gelehrt, ald Fnirfchend
in die Kette zu beißen — bis fie endlich einmal
brechen wird.«
Er war aufgeftanden nnd ging heftig auf und
nieder, bis er vor Friedrich ftehen blieb, feine
Hand ergriff und fie fchüttelnd ausrief: »Aber
251
verlaffen Sie ſich darauf, ich revangire mich,
und auch ‚Helene wird ſich revangiren!« Dabei
flog ein Zug von grimmem Spotte über fein
Geſicht, der. Friedrich unheimlich berührte.
Larfien feinerfeitö, fonft ſtets geneigt, derartige
Bemerkungen aufzunehmen und fortzufpinnen,
fah in diefem Falle die Richtung, weldye das Ge-
fpräch genommen hatte, offenbar nicht gern, weil
er Georg gegenüber es nicht vergeffen konnte,
daß er einft für ihn verantwortlich geweſen fei,
und er drängte zum Aufbruch, damit Georg das
väterlihe Gut noch am Abende erreichen Eonnte.
In der Stadt angefommen, fand der Lieute-
nant aber einen Brief des Bruders vor, der ihn
bat dort zu bleiben, weil er felbjt genöthigt fei,
fhon am nädftfolgenden Tage feines Examens
wegen zur Stadt zurüdzufehren, und eine große
Freude haben würde, wollte Georg während def-
felben bei ihm bleiben. Sobald es beendet wäre,
wollten fie dann gemeinfam zu den Eltern hin-
ausgehen, welche mit diefem Vorfchlage ganz ein-
verftanden wären.
Georg Fnitterte das Blatt achtlos zuſam⸗
252
men und meinte: »Gie haben Furt, meine
gottlofe Ehrlichkeit Fönnte dad Eid von Helenens
tugenbhaften Entfchließungen zerfchmelzent Sch
hätte wohl hinausgemocht, aber im Grunde bin
ich bier freier ald dort. Auf Morgen alfo!«
Bierzehntes Kapitel.
Erich's Eramen war fchon feit ein paar Wo⸗
yen vorüber und noch lebten die Brüder in ber
Stadt beilammen, ohne daß von einem Befuche
ei den Eltern die Rede geweſen wäre, und Frieb-
ich, welcher während diefer Zeit ebenfalls feine
Jrüfungen beftanden hatte, freute fich ihres Ver⸗
yeilend, denn die Nähe feined Freundes that
ym wohl.
Obgleich Erich weit davon entfernt war, die
iebe feiner Schwefter für einen mittellofen Bür-
erlichen als zuläffig zu betrachten, fühlte er jet,
a er von diefer Neigung für die Zukunft He⸗
mens Nichts mehr fürchtete, ein lebhaftes Mit-
254
leid mit ihr und mit dem Freunde. Er ward es
nicht müde, ihm von der Schwefter zu fprechen,
die einfache Gefchichte diefer Liebe immer und
immer wieder anzuhören, bis Friedrich, zu ges
fund, um fich abfichtlich feinem Schmerze zu über-
laſſen, aufs Neue zu feinen Arbeiten zurüdzus
fehren und an allgemeinen Intereffen Theil zu
nehmen fähig ward.
Die Abwefenheit der Heidenbrud’jchen Familie,
welche die jungen Männer zu einem Gafthaus-
leben nöthigte, trug das Ihrige dazu bei, auch
Friedrich zu zerftreuen, denn wohin man Fam,
waren die politifchen Gefpräche fo lebhaft, daf
man theilnahmlofer als Friedrich hätte fein muf
fen, ſollte man das eigene Weh nicht vergeffe
über den Vorgängen in Franfreih, die tägli
eine ernftere Geftalt annehmen und eine grr
Krifis ald wahrfcheinlich berechnen ließen.
So fehr man auch im eigenen Lande gewe
war, fich den väterlichen Abfolutismus des ı
fen Königs Friedrich Wilhelm’ ded Dr
gefallen zu laffen, fo geduldig die Mehrzah
Menfchen für die hie und da erkannten Mäng
255
| preußifchen Zuſtaͤnde, von ber Einficht des Koͤ⸗
nigd und feiner Minifter eine Aenderung erwar:
tete, und obfchon nur einige Wenige daran dadıten,
daß fie fo „gut wie Engländer und Franzofen
eine Berechtigung zur Selbftregierung hätten, fo
waren doch die Blicke aller Männer auf diefe
Völker gerichtet, und während man in wunder:
licher Demuth, fi ein patriotifches Tugendbe⸗
wußtfein machte aus der Gleichgültigkeit gegen
die Zuftände feined eigenen Waterlandes, war
man empört über die Reaction in Frankreich,
über das Minifterium Polignac, über die fana=
tifche Bigotterie Karl’d des Zehnten, und bewun⸗
derte mit Enthuſiasmus die muthige Oppofition,
welche ſich jenen entgegenftellte.
Da erfchienen plöglich in Paris die berüchtig-
ten Ordonnanzen und wenig Tage fpäter traf
die Nachricht von der Juli-Revolution, von der
Entthronung Karl's des Zehnten, von der Ernen-
| nung des Herzogs von Orleans zum Könige der
Franzoſen die erflaunte Welt. Die Namen Ca⸗
| fimir Perrier's, Lafitte's, jener Bürger, welche
einen Fürften zum Bürgerfünige erhoben Hatten
n
256
waren in jedem Munde, Tadel und Lob, Furcht
und Hoffnung Enüpften fih an fie, und wie ein
MWetterleuchten aus dumpfer Schwüle, fo zudte
überall die Erkenntniß auf von der Gewalt eines
einigen Volkswillens. Mochten Greife, welche
fi) noch der erften franzöfifchen Revolution und
ihrer Schreden zu erinnern wußten, auch mit
Beforgnig auf den entfeflelten Riefen bliden,
mochten viele Männer, welche die Napoleonifche
Zeit erlebt und das wechfelnde Gluͤck entthronter
und wieder eingefeßter Fürften gefehen hatten,
auch. mit zweifelnder Gleichgültigkeit auf die Er-
eigniffe in Frankreich fchauen, fo hatte doch im
Allgemeinen fi eine Aufregung der Geifter be=
mächtigt, wie man fie nach den Freiheitskriegen
in Preußen nicht empfunden. Jeder nahm Par-
tei, Jeder glaubte feine Wünfche und Hoffnun-
gen durch die Ereigniffe in Frankreich gefördert
oder gehemmt. Die großen Gewerbtreiben-
den ſowohl als die Civil- und Militairbeamten,
der Grundbefiger wie der arme Bürger fühlten,
eine folche Umwaͤlzung müfje in weiten Kreifen
nachwirken.
257
waren nur nod einige Perfonen bei dem
rant verfammelt, als der Doctor, der fich
pät am Abende die Zeitung von der Poft
ffen gewußt hatte, mit den erften Procla-
en Louis Philipp’8 in dad Zimmer trat,
je den Anmefenden auf ihr Verlangen
est möchte ich in Paris fein!« rief Erich,
m Anblid muß ein Volk gewähren, in
jerrußtfein feiner Heldenthat und feiner
ung.«
bh meine,« fagte ein älterer Hauptmann,
yerden bald genug fatteln müffen, unfer
Mag an jene Mäßigung zu legen, und
» nach Frankreich kommen, weiß ich nicht,
ver Shr Herr Bruder die neuen franz:
Helden kennen lernen wird, darauf will
ten, zehn gegen Eins!«
hun fie das nidht!« fiel ihm Georg in’
»Sie Fönnten ſich verrechnet haben !«
0 glauben Sie, daß folche aberwißige
ften Ruhe halten werden ?«
ndlungen 1]. 17
258
»Wen nennen Sie aberwißige Phantaften ?«
fragte der Doctor.
»Diejenigen, die fich in Paris einbilden, ein
Haufe zufammengelaufenen Geſindels werde das
Regieren beffer verftehben, ald ein zum Herrſchen
geborner, für feine Würde erzogener Monarch,
uud ein Confeil von Miniftern, welche fih durch
Studien und Erfahrung dazu vorbereitet haben !«
»Die Männer, welche nach vielfachen Ber:
fuchen einer friedlichen Aenderung: der Uebelftände,
fih endlich zu der Erfenntniß gedrängt fahen,
daß der rechtlofen Gewalt nur mit Gewalt zu
widerftchen fei, waren die angefehenften Bürger
Frankreichs!« fagte der Doctor mit feiner uner⸗
fchütterlichen Ruhe, «und wenn ſolche Bürger,
die ermählten Vertreter ihres Volkes und vor-
zugsweiſe desjenigen Theiled, auf deſſen Schul:
tern die Laften des Staated ruhen, einftimmig
erflären, fo koͤnne dad Rand nicht weiter fort:
regiert werden, fo ift e& mindeftend — fehr gewagt
von einem Haufen zufammengelaufenen Gefindels
zu fprechen !« |
Der Hauptmann wollte auffahren, allein die
259
rubige Kälte des Doctord aͤußerte auch über ihn
ihre Macht. Da traf zufällig fein Blick auf den
jungen Offizier, der mit allen Zeichen des Bei-
falls die Worte des Doctord angehört hatte.
„Aber was denken Sie, Herr Camerad?« fragte der
Hauptmann plößli, fi gegen den jungen Okfi—
jier hinwendend.
»Was ich denke?« erwiderte der Gefragte.
»Je nun! Gedanken find zollfrei! und ich meines
Theil möchte die Korbeeren eines zweiten Felt:
zuges in die Champagne nicht theilen !«
»Was wollen Sie damit fagen, Herr Lieute-
nant von Heidenbrud?« fragte der Hauptmann,
»erflären Sie fich deutlicher!«
»Ich fchlage mich nicht für Karl den Zehnten
und fein Pfaffenregiment!« wiederholte Georg,
»mich duͤnkt die Worte find verftändlich !«
»Bollfommen !« entgegnete der Hauptmann,
erhob ſich und verließ mit einer Falten Verbeu—⸗
gung gegen Erich den Saal, ohne Georg und
den Doctor weiter eines Blickes zu würdigen.
Der Doctor lächelte, aber Erich bemerkte tadelnd
gegen feinen Bruder:
260
— re—— — —
»Du haſt doch ein wahres Talent, Dir Un—
gelegenheiten zu machen.«
»Oder vielmehr, ich habe eine Pofition, in
der alled VBernünftige und Wahre mir Ungelegen-
heiten machen muß.«
»Weil Du ed unzeitig und rüdfichtölos ver-
fichtſt. Es war Zeit genug, Deinen Entfchluß
fund zu geben, wenn der Augenblid die Ent-
fcheidung verlangte, wozu ihn erklären mitten
im Srieden, gerade jekt, da Du in das neue Re-
giment zu treten haft?«
»Hol’ der Zeufel dad Regiment und die Bor-
fiht! ich bin zum Soldaten und zum Diploma=
ten gleich verdorben!« rief Georg mit troßiger
Verlegenheit. »Es ift, als hörte ich den Vater
argumentiren!« und gegen Friedrich gewendet,
fragte er dieſen, als wolle er die Aufmerkfamteit
ablenken von fich felbft; »Warum find Sie fo
fhweigfam?«
»Ich denke darlıber nad, welche Folgen jene
Ereigniffe fir uns mit fich bringen werden ?« |
»Fuͤr uns? gar Feine!« meinte der Doctor, |
shier ift jaAlles zufrieden, von feinem väterlichen \
261
Könige wie ein unmündig Kind behütet und
beglüdt zu werdben!« e
»Sagen Siedas nicht!« entgegnete Erich, »-Sie
felbft wiflen, daß der Wunſch nach ftändifcher
Vertretung fehr lebhaft unter uns ift!«
»Meinen Sie damit einige Standes- und
Majoratöherren,« wendete der Doctor ein, »welche
ed verdrießt, fi) unbedingt den Refcripten der
Büreaufratie untergeordnet zu fehen, fo gebe ich
Shnen Recht!«
»Und fieht nicht ein großer Theil der Intelli-
genz dem Gonftitutionalismus als einer Erftl-
lung feiner Wünfche entgegen ?« fragte Friedrich.
»Das beftreite ich!« fagte der Doctor, »denn
die Mehrzahl unferer Gelehrten fieht in dem
Oberhaupte des Staates den König von Gottes
Gnaden; wie follten fie alfo zweifeln an der Un-
fehlbarteit des Gottgefandten, wie Hand anlegen
an die Rechte und die Macht deflelben? Woher
folte ihnen die Befugniß fommen, fi der Re:
gierung zu widerfeßen, da ihr Heiland ihnen be-
fiehlt, unterthan zu fein der Obrigkeit, die Ge-
262
walt hat über fie! Und was find die Ariftofratie
und Die Intelligenz gegen folch zufriedened Volf!«
»Sreilih das Volk ift zufrieden!« beflätigte
Erich; der Doctor aber fügte hinzu: »Das heißt,
es ift zufrieden wie der Kleinftädter, welcher nie
die Heimath verlaffen bat und feine Stadt für
die fchönfte, feinen Bürgermeifter für einen So:
lon, fein Dünnbier und fein fehlechted Brod für
Nektar und Ambrofia hält, weil ihm jeder ver-
gleichende Maßſtab gebriht. Unfer Volk ift zu-
frieden aus Gedankenloſigkeit, und ehe fich nicht
im Bolfe einfichtige Unzufriedenheit verbreitet,
ehe nicht die Intelligenz: frei wird von dem Glau⸗
ben an himmliſche und irdifche Legitimität, iſt
Nichts für und zu hoffen!« Er fchwieg eine
Meile und rauchte ruhig fort, bid er dann, ald
Schluß feiner Worte, den Ausruf that: »Es ifl
und bleibt aber doch eine Schande, fich ſtumpf⸗
finnig mit dem Geringften zu begnügen, ftatt
mit aller Kraft nah vollem Genügen zu trach⸗
ten; es ift eine Schmach, fich gängeln zu laſſen,
wenn man gehen koͤnnte!«
Georg hatte ihm mit leuchtenden Augen zuge⸗
263
hört, plößlich fragte er: »Warum gehen Sie nicht
fort, da Sie Herr find es zu thun? Was hält Sie
bier, wo Nichts Ihren Anfichten entfprechen kann ?«
»Der Gedanke, daß man bleiben muß, wo
viel zu thun ifl, wenn man in fich Kraft zur Ars
beit fühlt.«
Und was fönnen Sie, was koͤnnen wir
thbun ?« forfchte der Lieutenant.
»Wir follen nicht glauben, fondern prüfen,
* denn der Glaube macht blind, der Zweifel fehend,
und nicht der Glaube macht felig, fondern der
Zweifel. Der allein führt zur Wahrheit, zur
Erfenntniß von der Göttlichkeit des Menfchen
und von dem ihm eingebornen Rechte freier Selbft-
beftimmung ohne Hinblid auf ein höheres Wefen,
denn der Menfch ift das Höchfte.«
„Zu diefem Glauben werden Sie mich nie:
mals bringen!« rief Friedrich.
„Man wird auch nicht von Anderen dazu ge:
bracht, mein Freund! er wird Shnen aber hoffent-
lich einft aus dem eigenen Geiſte fommen, wenn
Sie fich nicht abfichtlich verblenden !«
»Er wird auch nicht kommen, denn all mein
264
Wiſſen und Erkennen wurzelt in dem Glauben
an die Macht, die über uns waltet, und abfallen
von diefem Glauben wäre Vernichtung für mid,
ich hörte auf, ich felbft zu fein!«
»Wer weiß, ob Sie nicht ein Anderer und
doch noch ein Befferer werden koͤnnten!« fagte der
Doctor mit freundlichem Ernfte.
»Abfall von feinem Glauben erhebt den Men=
fen nicht!« entgegnete Friedrich.
»Und woran bewährt fih der Charakter des -
Mannes, ald in dem eifernen Fefthalten deffen,
was er einmal ald Recht erfannt!« fügte Erich hinzu.
»Eifernes Fefthalten an demjenigen, wad man
einmal als Recht erkannt hat,« wiederholte der
Doctor, indem er dad Wort ‚einmal‘ ſtark betonte.
»Das kann unter Berhältniffen Schwäche und Ver⸗
brechen werden, wenn man eined Befleren bes
lehrt wird, denn wie die Blüthe abfällt, wenn die
Frucht fich bildet, fo muß man abfallen von ſei⸗
ner alten Ueberzeugung, wenn man eine neue
beffere gewonnen hat!«
»Mit diefer Anſchauung,« meinte Friedrich,
»erheben Sie die Unbeftändigfeit zur Tugend,
265
rechtfertigen Sie eine beftändige Wandlung der
Anfichten, und die Inconfequenz wird höchfte Conſe⸗
quenz !«
Und Zalleyrand zu einem Muftermenfchen,«
lachte Eric).
„Wären die Wandlungen, die man ihn durchs
machen fah, eine Folge feiner inneren Ueberzeu-
gungen gemwefen,« antwortete der Doctor ernfthaft,
»fo hätte man ihrer nur lobend zu gedenken. Indeß
machen Sie fih die Sache einmal Far. Wir
Alle glauben an eine Fortentwidelung der Menfc-
beit, Sie fo gut ald ih. Wie ift eine foldhe
fortfchreitende Entwidelung aber möglich inner:
halb unwandelbar gezogener Schranfen? Wie den-
fen Sie ſich die Fortentwidelung der Menfchheit,
ohne daß der Einzelne in fi die Wandlungen
erlebt, aus denen allein eine fortfchreitende Um-
geftaltung der’ allgemeinen Anfichten hervorgehen
kann? Diejenigen Menfchen, die in ihren ererb-
ten und anerzogenen Meinungen unwandelbar ges
blieben find, haben die Menfchheit nicht gefördert,
aber Jeſus, der Sude, welcher die nationalsreligi:
oͤſen Sabungen des Judenthums zerflörte, um
17°
266
—
eine neue, die ganze Menfchheit umfaſſende Lehre
auf den Trümmern der alten zu bauen, Luther,
der gläubige Catholik, der abfiel von feinem früs
beren Glauben und vom Papfte, feinem HDber:
haupte; Mirabeau, der Edelmann, der feine er:
erbten Anfichten als Vorurtheile von fih warf,
und die Fahne feiner Standesgenoſſenſchaft ver-
ließ, um gegen dieſe feine Standesgenoſſen und
ihre volksbedruͤckenden Privilegien anzukaͤmpfen,
fie Alle find abgefallen von ihrem Glauben, fie
Alle haben Wandlungen erlitten, und diefe Bands
lungen find um fo auffallender geweſen, je be⸗
deutender dieMänner waren, an denen fie geſcha⸗
hen. 3a, ich behaupte, daß ein Menſch, der uns
wandelbar in feinen ererbten Meinungen oder in
feinen einmal gefaßten Anfichten beharrt, vollkom⸗
men unfähig ift, der fortfchreitenden Menfchheit
irgend wie zu nüben, und ed giebt auch kaum
einen Menfchen, der fich folcher Unwandelbarkeit
anzuflagen hätte. Wir Alle andern und! Je
größer unfere Fähigkeit, um fo fichtbarer unfere
MWandlungen, und wenn wir und nad) zehn, nach
fünfzehn Jahren einmal wieder fehen ſollten, io
267
d, ich hoffe dad zu unſerm Beſten, Ieder von
n8 feine großen Wandlungen erlitten haben,
hne dag wir und deshalb des Verrathes an uns
Ihft und an unferer Uebergeugung anzuflugen
ıben werden. Wir find, ich fagte ed Ihnen
yon einmal, Theile eines lebendigen, fich ftet8
rwanhelnden, fich ſtets erneuenden Ganzen, es
: alfo unſere Aufgabe, und mit offenen Sinnen,
it firtlichem Ernfte der allgemeinen Bewegung
ı überlaffen, damit fie uns umgeftalte nadı ihrer
othwendigkeit, nicht und abzufperren und uns
r hindernd entgegenzuftemmen, aus dem thörich-
n Glauben, daß ed von Stärke zeuge, feine
Bandlung in fih zu erfahren. Wollen Sie
blofer fein bei lebendigem Leibe, als Ihr Kör-
er, der felbft nach Ihrem ode noch lebenzeu:
mde Wandlungen erleidet ?«
Er hatte fich bei diefen lebten Worten erho-
n. Es war Mitternacht, die anderen Gäfte
ıtten ſich allmälig entfernt, die Freunde waren
lein im Saale, und da der Doctor ftehen blieb,
elten die Freunde ed für ein Zeichen zum Fort:
hen. Der Doctor aber, fonft allem fpäten
268
Trinken und allen pathetifchen Scenen abgeneigt,
ließ Champagner bringen, füllte die Gläfer und
das feine erhebend fpradh er: »Heute, wo eine
neue Umwandlung in Frankreich begonnen hat, laf-
fen Sie uns trinken auf die fortichreitenden
Wandlungen in und und in der Menfchbeit!«
Die Sünglinge fließen mit ihm an, alle drei
mehr oder weniger hingeriffen und erfchüttert.
Dann brah man auf Der Doctor verließ fie
gleich vor der Thüre des Haufes, und als fich
dann Friedrich) von den beiden Brüdern trennte,
fagte er: »Mir ift feierlich zu Muthe, als hätte
ich das Abendmahl genoffen und hätte mich einem
neuen Bunde angelobt. Wie kann man ein
Sottesleugner fein und alles hoͤchſten Glaubens
voll wie diefer Mann?«
„Meine Hauptfreude bei der Sache ift aber
doch, daß der, welcher und in diefe Abenpmahl-
fiimmung verfeßt hat, gerade ein Jude ifl!« rief
der Lieutenant, und Erich meinte: »Ich habe
ihn noch niemald fo gefehen als heute, die wan⸗
delbaren Ereigniffe haben ihn wirklich ganz aus
feiner unwandelbaren Ruhe gebracht .«
⸗
269
»Spotte nicht!« tadelte Friedrich. »Er war
1 heiligem Ernſte!«
»Der Ernft ift auch wandelbar!« lachte der
ınge Baron; »ich möchte aber doch bald reifen,
m mir einmal die Wandlungen in Paris mit
1zufehen!«
Sehszehntes Kapitel,
Haft inoch Iebhafter ald die jungen Männer,
wurde der Baron durch die Nachriht von der
Revolution und von der Entthronung Karl’d des X.
erfchüttert, den er noch ald Prinzen kennen ge:
lernt hatte und an deſſen Hof ihm fpäter ein
wohlmollender Empfang bereitet worden war,
ald er mit feiner Gattin einft Paris befuchte.
Die Empörung eined Volkes gegen feinen ange:
flammten Herrn war ihm ein Verbrechen, ver:
dammenswerth wie Batermord. Das Unglüd des,
entthronten, auf's Neue heimathlo8 gewordenen
Fürften, deffen Geift und anmuthige Herablaffung
ihn gefeflelt hatten, that feinem Herzen wehe,
261
— — —— — —
Koͤnige wie ein unmuͤndig Kind behuͤtet und
begluͤckt zu werden!“
»Sagen Sie das nicht!. entgegnete Erich, -Sie
ſelbſt wiſſen, daß der Wunſch nach ſtaͤndiſcher
Vertretung ſehr lebhaft unter uns iſt!«
»Meinen Sie damit einige Standes- und
Majoratöherren,« wendete der Doctor ein, »welche
ed verdrießt, fih unbedingt den Referipten der
Buͤreaukratie untergeordnet zu fehen, fo gebe ich
Ihnen Recht!«
»Und fieht nicht ein großer Theil der Intelli-
genz dem Gonftitutionalismus als einer Erfül-
Iung feiner Wünfche entgegen?« fragte Friedrich.
»Das beftreite ich!« fagte der Doctor, »denn
die Mehrzahl unferer Gelehrten fieht in Dem
Oberhaupte des Staated den König von Gottes
Gnaden; wie follten fie alfo zweifeln an der Un=
fehlbarfeit des Gottgefandten, wie Hand anlegen
an die Rechte und die Macht deffelben? Woher
folte ihnen die Befugnig kommen, fich der Re:
gierung zu widerfeßen, da ihr Heiland ihnen be-
fiehlt, unterthan zu fein der Obrigkeit, die Ge—
272
»Was heißt das?« fragte der Baron mit
ungewöhnlich ftrengem Zone.
»Du mußt es ja gelefen haben, lieber Vater!
welch enthufiaftifche Zuftimmung die feanzöfifchen
Ereigniffe hervorgerufen haben. Nicht nur in
Holland, auch in Suͤddeutſchland und am Nheine
hat die öffentlihe Meinung — —«
Der Baron ließ ihn nicht zu Ende fprechen.
„Und Du?« fragte er, »Du felbft fprichft ja von
diefem Wahnfinne mit den Modeworten ‚enthus
fiaftifche Zuftimmung und Öffentlihe Meinung!‘
— Und Du bift doch alt genug, die verfchiebenen
Volksklaſſen und den Werth ihrer Meinung,
diefer Öffentlichen Meinung , zu beurtheilen !«
Er erwartete offenbar Feine Antwort, und
fagte nad) einem kurzen Schweigen: »Dente Dir
einmal unfere Bauern und Seftleute, fielle Dir
einmal das ſtumpfe, halbpolnifhe Mafurenvolf
des Onkels auf Steinfelde vor, oder unfere
Dienerfchaft und unfere Handwerker, die ich mit
einem Befehle oder mit einem Thaler zu meinem
Willen zwinge, und frage Dich dann einmal ehr⸗
lich: welche Beburfniffe hat diefe Maffe, ald Ob⸗
273
dach, Nahrung und ein Weib zu haben? Welchen
Werth hat ihr Urtheil? Was begehren unfere
Handwerker und Gewerbtreibende weiter ald Er-
werb? Was kann der Gelehrte mehr verlangen
ald Lehrfreiheit und perfönlihe Achtung? Was
fehlt und auf unferen Gütern? Welcher Zheil
des Volkes entbehrt in Preußen Freiheit für fein
Dandein, fo fern es Feine fremden Rechte kraͤnkt?
Wem gebricht Schuß in unferm Baterlande, wenn
feine Rechte angetaftet werden? Bon Volksver⸗
tretung zu Iprechen unter der Regierung unferes
Könige, Mißtrauen zu zeigen gegen unfer Herrs
iherhaus ift ſtrafbar, geradezu firafbar — um
ed nicht eines Edelmannes unwürdig zu nennen !«
Er ging dabei heftig im Zimmer auf und
nieder, und ſchlug unhörbar mit der rechten Hand
auf feine linke, wie er zu thun gewohnt war,
wenn er eine leidenichaftlihe Bewegung nieder:
fampfen wollte, die zu verrathen ihm gegen ſeine
Würde fehien. Auch fchwieg der Sohn refpect-
voll, bis der Vater wieder vor ihm ftehen blieb
und, ruhiger geworden, alfo zu fprechen begann:
»Es ift möglich, daß vie Alliirten, daß der König
Wandlungen. 1. 18
274:
ed nicht für angemeffen halten, in Frankreich zu
interveniren,, denn der Boden jened unglüdfeli«
gen Landes fcheint der Art unterwühlt, das Bol
fo fehr verwildert, Daß ed unmöglich fein mag,
jest irgend etwas Bleibendes in jenem Chaos zu
begründen, und dann ift es Staatöflugheit, nutz⸗
loſe Kraftanftrengung zu vermeiden. Aber es ift
thöricht,« rief er mit neuer Aufwallung, »zumeinen,
Preußen wolle feine Streitkräfte nicht nach Außen
wenden, weil ed fie im Inneren brauchen koͤnnte.
Es lebt Gottlob! noch ein gefunder Kern im Volke.
Die Treue für den König ift etwas Angeflamm-
tes unter uns, und es tft unfere Pflicht, .die
Pflicht jedes rechtlichen Mannes, unfer Bolt
davor zu hüten, daß das Gift der Revolution
nicht in demfelben um fich greife. Ich habe auch
unferm Schulzen gleich verboten, den Bauern
feine Zeitung zu verborgen, fo lange das Unwefen
nicht beruhigt iſt, und geſtern die Leute und Die
Dienerfhaft zuſammenkommen laffen, ihnen zu
erflären, was in Frankreich vorgegangen ift, da-
mit nicht falfhe Darftellungen fie in's Unglüd
treiben !—-- Wie fieht’8 denn in der Stadt aus %
275
Erich erzählte, daß die Aufregung bedeutend
gab Beweiſe dafür, fuchte aber doch immer
e Ausdrüde zu mäßigen und hüthete fich eine
eilnahme an den Ereigniffen zu verrathen, die
ı Anfichten ded Vaters entgegen fein konnte.
a8 befänftigte diefen, fo daß Erich ed endlich
aszuſprechen wagte, wie gern er Parid in bie:
m Augenblide ſehen würde.
Was erwarteft Du Dir davon ?« fragte der
Baron.
»Ich möchte ed aus eigener Anfchauung ken⸗
nen lernen, wie ein Volt, dad die beftehenden
Geſetze aufgehoben hat, ſich neue Geſetze giebt
und fich ihnen unterwirft!«
»Der Anblid wird nicht erfreulid), aber viel-
leicht lehrreich für Dich fein,« meinte der Vater,
und fald Helenens Hochzeit feinen Aufſchub er:
leiden muß, will ih Dich nicht hindern, gleich
nach derfelben Deiner Neugier zu willfahren, fo
wenig ich Dich hindern würde, Dir die Eruption
eined Vulkanes anzuſehen, voraudgefeßt, daß Du
Dich ſelbſt vor Schaden wahrft!«
Erfreut, diefe Zuſtimmung fo unerwartet
18*
276
leicht erhalten zu haben, wünfchte Erich zu wiffen,
weshalb der Water eine Verzögerung der Hoch⸗
zeit für möglich halte?
„Ich erwarte, daß der Graf feine Entlaffung
fordert, und das Fünnte ihn nöthigen, vor feiner
Berheirathung noch Vorkehrungen für einen Auf-
enthalt auf feinen Gütern zu treffen. Er, der
einer der erften und älteften Familien ded Landes
angehört, kann fich doc unmöglich dazu herge⸗
ben, in diefer bürgerlichen Königsfarce mitzufpie-
len!« fagte der Baron, ald die Thüre aufging,
der Lieutenant eintrat und fich dem Vater um ben
Hals warf.
Diefer erwiderte Die Umarmung ltebreich,
aber noch während der Lieutenant fich niederbog,
in feiner Derzendfreude des Vaters Hand zu kuͤſ⸗
fen, fagte derfelbe: »Warft Du fchon bei Deinem
Chef?«
»Ich habe mich bei meiner Ankunft gemeldet,
lieber Vater! feitvem war ich nicht Dort; ich habe
ja dort Nichts zu holen, da ich auf Urlaub bin.«
Des Barons Gefiht nahm ploͤtzlich einen
firengen, harten Ausdrud an. »Und diefen Ur-
laub benutzeft Du auf Deine Weife!- fagte er.
»Da& beweift der Brief, den ich geftern bekom⸗
men habe !«
Damit reichte er ihm ein Schreiben feines
Regimentscommanbeurd bin, der dem Baron
nahe befreundet war. Es enthielt eine genaue
Mittheilung des Vorganges bei dem Reftaurant,
den zur Kenntniß des Commandeurs zu bringen,
ber Hauptmann für feine Pflicht gehalten hatte,
und der Obriſt fügte hinzu, daß er aus Freund-
Ihaft für den Water die Sache zu vertufchen be-
reit fei, wenn der Lieutenant feine Aeußerungen
zuruͤcknehmen und fich deshalb vor ihm entfchul-
digen wolle.
Georg war während des Leſens bleich gewor:
den, der Water beobachtete ihn fcharf. »Nun?«
fragte er, ald der Sohn geendet hatte.
»Der Brief enthält die Wahrheit!« antwor-
tete Georg mit Faltem Zone und doch mit Un
freiheit.
»Und ?« fragte der Baron weiter.
Der Lieutenant ſchwieg, aber ein heftiges Zu—
den feiner Lippen verrieth feinen Kampf. Er
278
wollte fprechen,, unterdrüdte es — und es ent-
fand eine Paufe, in der Eri vol Beſorgniß
bald den Bruder, bald den Vater betrachtete, von
denen feiner den Anfang zum Sprechen machen
wollte, weil Feiner dad rechte Wort zu finden
ſchien.
Endlich ſagte der Baron: »Unſer Wiederſe⸗
chen faͤllt anders aus, als ich erwartet — ſei es
drum! Geſchehenes iſt nicht ungeſchehen zu ma⸗
hen, zuruͤckleben kann man nicht. Aber ich rechne
darauf, daß Du Dich noch heute zu dem Obriſten
verfuͤgſt und zuruͤcknimmſt, was — ich glaube
das zu Deiner Ehre — der Wein aus Dir ge⸗
ſprochen hat. Sei kuͤnftig maͤßiger und reſpectire
meinen Namen und den Rock des Koͤnigs, den
Du zu tragen die Ehre haſt!«
Damit ging er, ohne dem Sohne Zeit zu ei⸗
ner Antwort zu laffen, hinaus. Kaum aber hatte
er fich entfernt, ald Georg mit einer heftigen Be-
wegung empor fuhr, und im Zorne gegen fich
felbft mit der geballten Rechten gegen feine Stirne
ſchlug. |
Mas Haft Du?« fragte Erich.
279
»Was ich habe? — Und Du fragft noch ?«
rief Georg wie außer ſich. »Fuͤhlſt Du denn
nicht, wie elend ich wieder da geflanden habe ei-
nem gefcholtenen Schulbuben gleih? — Schämft
Du Dich denn nicht mit mir, daß ich nicht den
Muth hatte, dem Vater zu fagen, wie verhaßt
der Wiedereintritt in den Dienft mir gerade in
diefem Augenblide iſt? — Liegt eine Ehre darin,
diefe Schärpe zu tragen, fo verdiene ig fie nicht!«
Seine Bläffe, feine ſtarren Züge hatten et-
was Furchtbares. Erich war blaß geworden wie
der Bruder, und fich liebevoll beruhigend zu ihm
wendend, bat er: »Stürme nicht fo felbftvernich-
tend gegen Dich an, Georg! Es ift keine Schwäche,
es ift ein natürliches Empfinden, daß Du nad
Sahre langer Abwefenheit dem Water nicht in
der Stunde des Wiederfehens in feinen heiligften
Ueberzeugungen entgegentreten mochteſt. Ich
freute mich) Deiner Selbftbeherrfchung.«
Der Lieutenant lachte bitter. »Selbftbeherr-
[hung ?« fpottete er; »ich habe da geflanden, das
Wort ded Trotzes, das Wort der Wahrheit auf
den Zippen, und wenn ich es ausfprechen wollte,
wollte fprechen,, unterdrüdte e8 — und es ent-
fland eine Paufe, in der Erih vol Beſorgniß
bald den Bruder, bald den Vater betrachtete, von
denen keiner den Anfang zum Sprechen machen
wollte, weil keiner das rechte Wort zu finden
ſchien.
Endlich ſagte der Baron: »Unſer Wiederſe⸗
chen faͤllt anders aus, als ich erwartet — ſei es
drum! Geſchehenes iſt nicht ungeſchehen zu ma⸗
hen, zuruͤckleben kann man nicht. Aber ich rechne
darauf, daß Du Dich noch heute zu dem Obriſten
verfuͤgſt und zuruͤcknimmſt, was — ich glaube
das zu Deiner Ehre — der Wein aus Dir ges
fprochen hat. Sei künftig mäßiger und refpectire
meinen Namen und den Rod des Königs, den
Du zu tragen die Ehre haft!«
Damit ging er, ohne dem Sohne Zeit zu ei-
ner Antwort zu laflen, hinaus. Kaum aber hatte
er fich entfernt, ald Georg mit einer heftigen Be⸗
wegung empor fuhr, und im Zorne gegen fich
felbft mit der geballten Rechten gegen feine Stirne
ſchlug.
»Was haſt Du?« fragte Erich.
279
»Was id habe? — Und Du fragft noch ?«
rief Georg wie außer ſich. »Fuͤhlſt Du denn
nicht, wie elend ich wieder da geftanden habe ei-
em gefcholtenen Schulbuben gleih? — Schämft
Du Did denn nicht mit mir, daß ich nicht den
Muth hatte, dem Vater zu fagen, wie verhaßt
der Wiedereintritt in den Dienſt mir gerade in
diefem Augenblide iſt? — Liegt eine Ehre darin,
diefe Schärpe zu tragen, fo verdiene ig fie nicht!
Seine Bläffe, feine ftarren Züge hatten et-
was Furchtbares. Erich war blaß geworden wie
der Bruder, und fich liebevoll beruhigend zu ihm
wendend, bat er: »Stürme nicht fo ſelbſtvernich⸗
tend gegen Dich an, Georg! Es ift feine Schwäche,
es ift ein natürliches Empfinden, daß Du nad)
Jahre langer Abmwefenheit dem Vater nicht in
der Stunde des Wiederfehend in feinen heiligften
Ueberzeugungen entgegentreten mochtefl. Ich
freute mich Deiner Selbftbehertichung.«
Der Lieutenant lachte bitter. »Selbftbeherr-
hung ?« fpottete er; »ich habe da geftanden, das
Wort ded Trotzes, dad Wort der Wahrheit auf
den Lippen, und wenn ich es ausfprechen wollte,
280
fielen meine Blide auf des geliebten Mannes
theured Antlitz und ich mußte fchweigen. Ich
fann ed nicht ertragen, feine Augen zornig auf
mich gerichtet zu ſehen, und ich werde zum Ber-
räther an mir felber, aus Liebe für den Water !«
Es entfland eine Paufe, Erich war erfchüte
tert, er näherte fi) dem ‘Bruder, ihn zu umar⸗
men, entfernte fi) dann aber wieder, aus Furcht,
died Zeichen einer beflagenden Theilnahme könne
ihn verlegen. Endlich fagte er: »So Tann es
nicht bleiben, Georg! aber den Vater dahin zu
beflimmen, daß er Dich jest den Abfchied nehmen
läßt, ift ganz unmöglich !«
»Ich weiß das!«
„Wuͤrde es Dir eine Erleichterung ſein, wenn
Du Dich als Lehrer an die Schule commandiren
ließeſt? Deine Zeugniſſe befaͤhigen Dich dazu
und Du haͤtteſt dann nur wenig mit dem activen
Dienſt zu thun?«
»Guter, treuer Junge! Du biſt ganz der Alte!«
tief Georg plößlicy milder aus, »Du verbindeft,
wie in unferer Kindheit, meine Wunden in der
Stille, damit ih für meine Wildheit nicht ge-
281
a werde. Bier aber hilft das Ueberpfla=
nicht!«
8 ſchafft Dir Zeit, Georg! und Zeit gewin⸗
ißt hier Alles gewinnen! Der Ausbruch eines
6 iſt ja ganz unwahrſcheinlich, und giebt es
‚ nun fo iſt's ja dann noch Zeit genug,
re Ueberzeugung nachzukommen, voraudges
daß fie fich nicht geändert hat!«
Du nutzeſt die Lehre von der Wandelbarkeit
tenfchen fchnell genug für Dich und mid).
Du doch geftern felbft vol Wärme für
reiheitöfampf in Frankreich!«
dann ich bei Anderen nicht bewundern, was
eibſt vielleicht nicht angemeflen wäre? und
n Unrecht, wenn ich verfuche, Dich zur Füg-
t zu überreden, da Du im Vaterhauſe blei⸗
0ft? Der Zwiefpalt in Dir felbft, Dein
Verhalten fchmerzen den Bater!.
8 ift nicht meine Schuld, daß ich dahin
ht ward, daß man mid troßig madıte, daß
nich fürchten lehrte, wo ich liebte!« fagte
eutenant.
die an dem Knaben verübte Unbill als Mann
282
noch zu empfinden, ift Bein, Georg! Du mußt
dad von Dir werfen!« ftellte der ältere Bruder
ihm begütigend vor.
»Ich kann fie nie vergeflen! Man bat mich
feig gemacht!« rief der Lieutenant. Und wieder ent-
fland eine Paufe, aber feine Leidenfchaft begann
fi) durch das Ausfprechen zu befänftigen. Er
feste ſich nieder, fügte den Kopf in die Hand,
mit der er feine Augen verbarg. Und Eric
glaubte zu bemerken, daß er Thränen zerbrüdte,
die fich hervordrängen wollten. Da legte er feine
Hand auf ded Bruders Schulter und fagte: »Geh
zum Obrift, Georg! Der Vater ift in feinen Ue-
berzeugungen getroffen, und gereizt durch Die
neue Revolution, tritt ihm nicht entgegen, gerade
jest nicht, wo er mehr ald je geneigt iſt, die
Rechte feiner Autorität aufrecht zu erhalten. Wir
wollen dahin trachten, Dir eine andere Lebens⸗
bahn zu finden, rechne unbedingt darauf, nur
jest gieb nach !«
Er hielt ihm die Hand hin, der Lieutenant
zoͤgerte, ſchwankte, endlich ſchlug erein, und ohne
ein Wort zu fagen, fchritt er der Thuͤre zu.
285
rbnungen ber Regierung zu fügen, konnte nur
ine Ergebenheit gegen den König ihn vermoͤ⸗
en, denn er fah fie meift ald Eingriffe in feine
techte , in feinen freien Willenden, und fo fam
8, daß er in feinem Verhältniffe als Landforfte
aeifter ein umerbittlich firenger Beamter fein
onnte, während er ald Gutöbefiber ein Gegner
er Beamtenherrfchaft war und fich faſt beftän-
ig in Pleinen Kämpfen gegen die Regierung
efand. ,
Ein folder Vater mußte auf die Entwidlung
einer Söhne, je nach ihren Anlagen, fehr vers
hieden wirten. Er hatte dem von Natur ſanf⸗
en und allzu fügfamen Erich eine Art von ſittli⸗
yer Haltung gegeben mit der Lehre von der Ach⸗
ung, die ein Edelmann jich fchulde, mit dem
zedanken, daß er einft berufen fei, den Familien:
amen fortzuführen und die Stüße feiner Mutter
nd feiner Gefchwifter zu werden. Aber beftän-
ig auf ded Vaters Urtheil, nicht auf fein eige⸗
‚ed Urtheil und Gewiflen hingewiefen, hatte ber
Sohn fich gewöhnt, überhaupt den Maßſtab frem-
er Billigung an feine Handlungen zu legen,
284
erften Kindheit ab ihnen einzuprägen geftrebt,
daß. es Feine Einwendungen gegen den väterlichen
Willen gäbe, daß Gehorfam, unbedingte, ſchwei⸗
gende Unterwerfung unter den väterlichen Willen,
die hoͤchſte Tugend eined Kindes fei. | |
Lag darin auf der einen Seite eine defpoti-
fhe Härte, fo machten die Liebe des Barons für
feine Kinder und die makelloſe Ehrenhaftigkeit
feines ganzen Lebens, ihnen den Vater theuer
und den Gehorfam gegen ihn in ihrer erflen Ju⸗
gend leicht. Ein rüdfichtövoller, treuer Gatte,
aufopfernd und vorforglic für feine Kinder, ein
gerechter Herr feiner Untergebenen , hülfreich mit
Rath und That in weitem Kreife, gemeinfinnig
und freundlich gegen den Geringften, galt er, ob⸗
Ihon man feinen Eigenfchaften Gerechtigkeit an⸗
gedeihen ließ, dennoch bei Allen, welche ihn nicht
naher Eannten, für fchroff und ftolz, weil jede
feiner Handlungen den Stempel der felbftherr:
lichſten Willkür an fich trug. Dies Gefühl der
Selbftherrlichkeit, das ſich in feinem Haufe gel-
tend machte, gab fich aber auch nad) allen ande:
ren Seiten fund. Sich den bureaufratifchen An⸗
285
orbnungen der Regierung zu fügen, konnte nur
. feine Ergebenbeit gegen den König ihn vermoͤ⸗
gen, denn er fah fie meift ald Eingriffe in feine
Rechte , in feinen freien Willensen, und fo fam
ed, daß er in feinem Verhaͤltniſſe als Landforſt⸗
meifter ein unerbittlich firenger Beamter fein
konnte, während er als Gutöbefiber ein Gegner
der Beamtenherrfchaft war und fich faft beſtaͤn⸗
dig in einen Kämpfen gegen die Regierung
befand. .
Ein folcher Vater mußte auf die Entwidlung
feiner Söhne, je nach ihren Anlagen, fehr ver=
ſchieden wirken. Er hatte dem von Natur fanf-
ten und allzu fügfamen Erich eine Art von fittli-
cher Haltung gegeben mit der Lehre von der Ach⸗
tung, die ein Edelmann jich fchulde, mit dem
Gedanken, daß er einft berufen fei, den Familien⸗
namen fortzuführen und die Stüße feiner Mutter
und feiner Gefchwifter zu werden. Aber beftän-
dig auf des Vaters Urtheil, nicht auf fein eiges
nes Urtheil und Gewiſſen hingewiefen, hatte der
Sohn fich gewöhnt, überhaupt den Maßftab frem-
der Billigung an feine Handlungen zu legen,
286
und die ererbten Anfihten, das Urtheil der Welt,
zu feinem fchügenden Paniere zu erheben, fobald
er fich von fittlichen Gonflicten bedroht ſah, die
zu Iöfen, ihm die in ſolchen Fällen oft unerläß-
liche Härte und Energie gebrachen. Ohne ſtarke
Leidenfchaften, wohlwollend und befonnen thätig,
war er dazu gemacht, fidy Freunde zu erwerben,
verfühnend zu wirken und einen ebenen Lebens:
weg mit ruhiger Sicherheit zu gehen, während
fein Bruder nah Kämpfen und nad) Abenteuern
Ihmadtete, um in ihnen einen Xbleiter zu fins
den für eine Kraft, die der Bater , ftatt fie zu
leiten und nußbar zu machen, als Fehler angefe=
ben und zu brechen getrachtet hatte. Aber die
Menfchennatur ift gluͤcklicher Weiſe zähe genug,
folhen Mißgriffen nicht zu unterliegen, wenn fie
davon auch angetaftet und gefährdet wird. War
in dem Lieutenant die Fähigkeit felbfländigen Ent:
fchluffes durch Die väterliche Strenge auch gebro=
chen, fo hatte er niemald dad Bewußtſein verlo-
ren, daß ihm damit ein fchwered Unrecht ange
than fei, und er hatte nie härter davon gelit-
ten, al& in der Stunde diefes Wiederſehens.
287
Was ed gerade ihn koflete, welchen Beweis
von Liebe er dem Vater gab, ald er fich zu fei»
‚nem Obriſten verfügte, das vermochte fein Bru⸗
der ihm nicht in voller Stärke nachzufühlen. Auch
der Baron fah in des Sohnes That nichts als
die pflichtmäßige Sühne eines unverantwortlichen
Leichtfinnd Das Einzige, wad er Schonendes
für ihn zu thun wußte, war, daß er des Vor⸗
falls niemald mehr erwähnte. Die Sache war
abgemacht, wie er ed nannte, und bald ward die
Zheilnahme der Familie nad) einer anderen Seite
bin noch lebhafter in Anfpruch genommen.
Siebenzehntes Kapitel.
Gegen die Erwartung des Baron hatte naͤm⸗
lic) der Graf feine Entlafjung aus dem Staats:
dienfte nicht gefordert, vielmehr fich der neuen
Regierung zur Dispofition geftellt, und von ihr
die ehrendfte Anerkennung feiner bisherigen Dienfte
mit der Zuficherung erhalten, daß man bdiefer
Dienfte nicht entrathen, fondern ihn in feinem
Amte laffen wolle. Er hatte feine Handlungs⸗
weife ald eine fid) von felbft verſtehende betrachtet,
und ihrer nur in einem Briefe an feine Braut
Erwähnung getban, während der Baron in ihr eine
Unebrenhaftigfeit erblidte, welche fein Vertrauen
in den Charakter St. Brezan’s zerflörte.
291
angen. Weit davon entfernt, ed feiner Frau
18 Vorwurf anzurechnen, daß fie ihm bisher von
iefem Berhältniffe nie geſprochen, mußte er ihr
anf dafür. Es lag in feinen Grundfäßen, daß
beder innerhalb des ihm zugewiefenen Bereiches
elbſtaͤndig handeln müfle, und über das Herz
hrer Töchter zu wachen, war die Aufgabe der
Rutter, eine Aufgabe, in welcher er gewohnt,
yar, fie ungehindert gewähren zu laffen.
Er fragte Nichts, er begehrte feinen näheren
lufſchluß über diefe Neigung, ed genügte ihm gu
iffen, daß fie unterdnidt fei und daß feine
sochter fich ihrer Eltern werth bemiefen habe.
Jad Einzige, was er zu überlegen hatte, war
ie Art und Weife, in welcher man Helenen zu
Jülfe kommen müfle, wobei er die Möglichkeit,
e mit dem Grafen zu verheirathen,, jedoch ganz
ußer der Betrachtung ließ. Sein erſter Gedanke
yar, Friedrich zu entfernen. Die Baronin wen-
ete ein, daß died unmöglich fei, da der junge
Rann dur feine Studien und feinen Erwerb
n feinen Aufenthaltsort gefeflelt werde, aber
er Baron erfannte eine ſolche Unmöglichkeit
19%
290
tämpften Wünfche und Hoffnungen, welche die
wiedergemonnene Freiheit in der Tochter auf's
Neue anregen mußte, fellten fich dem Auge der
Mutter in fehneler Reihenfolge dar, und obe
schon fie felbft die Handiungsweife ihres kuͤnfti⸗
gem Schwiegerfohnes nicht billigte, machten die
Freundfchaft für ihn und die Sorge um Helme
fie doch geneigt, bier nicht fo fchnell nathzugeben,
als der Baron es fonft von ihr gewohnt war.
Sie warnte ihn vor gewaltiamen Entfchlüffen,
fie bat ihn, den Grafen zu hören, ehe er ihn ver-
Damme, und erft, als alle diefe Gruͤnde auf ihren
Gatten unwirkſam geblieben waren, ſprach fie
ihm von Helmens Neigung für den Candidaten
Brand. Ohne ſich auf Erörterungen einzulaſſen,
rühmte fie der Tochter und dem jungen Manne
die edelfte Entfagumg nach, und bemerkte aber doch
dabei, daß ed nothwendig fei, eine unuͤberſteigliche
Schrante zwiſchen den jungen Leuten zu errichten,
follte Helenens Zukunft wicht gefährdet werben.
Ohne ein Bort zu Iprehen, hatte der Baron
diefe Erklaͤrung hingenommen und war nachben-
fend ein paar Male im Bimmer auf und abge
29
gangen. Weit davon entfernt, ed feiner Frau
ald Vorwurf anzurechnen, daß fie ihm bisher von
biefem Berhältniffe nie gefprohen, wußte er ihr
Dank dafür. Es lag in feinen Grundfäßen, daß
ever innerhalb des ihm zugewiefenen Bereiches
ſelbſtaͤndig handeln müfle, und uber das Herz
ihrer Iöchter zu wachen, war die Aufgabe der
Mutter, eine Aufgabe, in welcher er gewohnt,
war, fie ungehindert gewähren zu laſſen.
Er fragte Nichts, er begehrte feinen näheren
Auffchluß über diefe Neigung, ed genügte ihm zu
wiffen, daß fie unterbrüdt fei und daß feine
Zochter fich ihrer Eltern werth bewiefen habe.
Das Einzige, wad er zu überlegen hatte, war
die Art und Weife, in welcher man Helenen zu
Hülfe kommen müffe, wobei er die Möglichkeit,
fie mit dem Grafen zu verheirathen,, jedoch ganz
außer der Betrachtung ließ. Sein erfter Gedanke
war, Friedrich zu entfernen. Die Baronin wen:
dete ein, daß died unmöglich fei, da ber junge
Mann durch feine Studien und feinen Erwerb
an feinen Aufenthaltsort gefeflelt werde, aber
der Baron erkannte eine ſolche Unmöglichkeit
10x
292
nicht leicht an, wo fie den Intereſſen feiner Fa⸗
milie entgegenftand.
»Man muß nur die Mittel wollen, wenn
man den Zweck will!« meinte er, »und hier liegt
das Mittel ja fo nahe zur Hand! Erich kann den
jungen Brand ald Reifegefährten mit fich nehmen !«
»MWird Brand dad eingehen?« fragte die Ba-
ronin.
»Zuverläffig! man muß die Form finden, es
ihm fo annehmbar zu madhen, daß er's nicht
wohl ablehnen kann.«
aAber glaubft Du, daß diefer Plan Erich will»
fommen fein werde? — Ich weiß, ed liegt für
ihn ein Reiz darin, fich einmal ganz losgeriſſen
zu fühlen von allen Banden feiner Sugend!«
wendete die Baronin abermalß ein.
»Bon Erich's Wünfchen kann nicht die Rede
fein, wo es fi) um die Ehre und die Ruhe fei-
ner Schwefter handelt! Er mag ein ander Mal
den Reiz der Ungebundenheit genießen, jegt paßt
ed mir, daß ihn der junge Brand begleitet !« ant-
wortete der Baron. — Die Baronin verflummte,
denn fie Eannte diefen Ausdrud ihres Mannes.
2%
lung fordern , foll fie dad Zutrauen zu und be-
balten, das unferen Kindern dad Gehorchen leicht
und lieb gemacht hat. Begreife Doch, daß ed in
der Familie wie im Staate iſt! Der unverbor-
bene Menfch bat ja einen Zug zum Slauben und
zur Unterordnung, dad lehrt und die Gefchichte.«
»Die Gefchichte?« wiederholte die Baronin im
Zone befcheidenen Zweifelns. »Ach die Gefchichte
hat und in den lebten Tagen auch gelehrt, daß
die guten alten Zeiten vorüber find, und daß es
nicht mehr ift wie einfl. Die Menfhen wollen
ja nicht mehr gehorchen!«
„Wer hat ed dahin gebracht?« rief der Ba⸗
ron. »So lange und foweit Menfchen auf der Erde
leben, erzeugten fie ald die natürlichfte Form ih:
red Zufammenlebend die Herrfchaft eines Man-
nes über die Familie, wie über den Staat, und
dies Verhältniß war und blieb überall förderfam,
bis die Häupter fi des Vertrauens unmerth
machten, das man in fie ſetzte. Dad iſt's ja
gerade! Könnte eined unferer Kinder mir den
Vorwurf machen, daß ich meine oder ihre Ehre,
daß ich ihr Beſtes nicht gewahrt habe, fo würde
294
ſich entihloß, von dem Grafen eine Erklärung
feiner Dandlungdweife zu begebren, ehe er ibm
ausſprach, daß er fie für unvereinbar mit den
Sefinnungen wahrer Ehre halte. Er befahl aber,
daß Helenend Briefwechfel mit bemfelben nicht
weiter fortgeführt werden folle, bis er eine ihn
zufriedenftellende Antwort von ihr empfangen
haben würde. Vergeben: wendete die Baronin
ein, daß ed ein Werk der Liebe und der Borficht
fein würde, Helenen dieſen Zwiefpalt zu erfparen,
ihr zu verbergen, daß der Water an der unbe:
dingten Ehrenhaftigkeit ihres Tünftigen Gatten
zweifle. Vergebens ftellte fie vor, daß ed ja Zeit
genug fei, den Bund zu löfen, wenn wirklich
eine Urfache dazu vorhanden wäre; der Baron
blieb feft bei feiner Anficht.
»Gerade weil wir von Helenen das Opfer ib:
rer Neigung begehrten,« fagte er, »müflen wir
ihr darthun, daß wir bereit find, auch unfere Wuͤn⸗
fche aufzuopfern, falls die von und getroffene Wahl
ihr Gluͤck bedroht. Sie muß es einfehen lernen,
daß wir fie nur dem untadelhaften Manne geben, fol
fie einft von fich felbft untadelhafte Pflichterfül-
297
„Dat einen warmen Advocaten in Dir ge
unden!« fiel ihr der Baron in’d Wort. »Mag
inem Volk aud) in befonderem Falle das Recht
er Selbfthülfe nicht abzuftreiten fein, fo ändert
as Nichts in dem Verhältniffe des Edelmannes
u feinem Könige, Nichts in dem Verhältniß des
Beamteten zu feinem Herren. War Graf St.
Brezan ald Gefandter der freiwillige Diener,
eined Königed, fo muß er auch mit feinem Kö-
ige die Folgen der koͤniglichen Handlungsweiſe
ragen, er muß flehen und fallen mit demfelben,
ber nicht neue Eide ſchwoͤren einem neuen
Jerrn.«
»Und wenn er einfähe, daß fein König, daß
r felbft geirrt ?« fragte die Baronin.
»Menn St. Brezan einft einfähe, daß er fich
n der Wahl feiner Gattin irrte, daß Helene
icht iſt, wofür er fie gehalten — was dann,
zohanne ?«
Die Baronin ſchwieg. »Wollteſt Du, daß er
ie verſtieße? Daß er ſie verantwortlich machte
ür den Leichtſinn, mit dem er fie gewählt? —
Sraf St. Brezan war Herr feined Handelns, als
296
ich in demfelben Augenblide auf das Recht ver:
zichten, das ich jetzt auf ihr Vertrauen habe.
So lange ich es aber noch verdiene, fo lange
darf und muß ich fordern, daß fie mir gehorchen.
Das weiß Delene auch, danach, fage ihr,
möge fie fich richten. Ich werde die Briefe des
Grafen, die in der Zwiſchenzeit für fie eintreffen,
ihr aufbewahren und fie fol diefelben aus meiner
Hand empfangen, wenn er feine Handlungsweife
vor mir vertreten kann.«
In diefer lebten Wendung fah die Baronin,
daß ihre Vorftelungen nicht unfruchtbar geweſen
waren, daß ihr Gatte felbft zu wünfchen begann,
ed möge bad gefchloflene Buͤndniß aufrecht er-
halten werden koͤnnen, und fich auf die eigenen
Gründe des ſtrengen Royaliften ſtuͤtzend, fagte
fie freundlich: »MWenn Du für Dich, wie Du eben
fagteft, nur fo lange Gehorfam begehrft, ald Du
ihn durch Deine Pflichterfüllung fordern kannſt,
fo entbindeft Du damit die Völker von dem Eide
der Treue gegen einen König, der ded Volkes
Wohl nicht fördert, lieber Heidenbrud! und ber
Sraf hat — —«
299
Unb wie Graf St. Brezan died gethan bat, dar⸗
über wollen wir feine Erklärung hören!«
Mit diefen Worten küßte er die Baronin auf
die Stirne und die Unterrebung hatte ein Ende.
Es blieb der Mutter überlaffen, Helenen die An»
ordnungen bed Barons fo behutfam als fie wollte
mitzutheilen. Indeß, troß aller Vorſicht, konnte
fie die Wirkung nicht verhindern, die fie befuͤrch⸗
tet hatte. Mochte fie auch die Heirath mit
dem Grafen der Tochter beftändig als unumftöß-
lich ſicher darftellen, mochte fie ihr mit der hoͤch⸗
fen Achtung von dem künftigen Gatten fprechen,
Helene hielt fi daran, Daß der Vater den Na:
men ded Grafen nicht mehr nannte, fie hielt fich
an der Möglichkeit ihre Verlobung aufgehoben zu
fehen, um bald wieder fchönere Hoffnungen daran
zu knuͤpfen
Ehe in jener Zeit der Brief ihres Vaters den
Grafen erreichen, ehe feine Antwort auf dem
Gute anlangen konnte, mußten fall vier:
zehn Tage verfließen, und Wünfche und Hoff:
nungen, denen wir uns überlaflen, erzeugen in
und nur zu fchnell den Glauben an die Möglich-
298
er in den Staatödienfl trat, und wer einen Bund
eingeht, fei es mit wem es wolle, wer ſich aus
freier Wahl einem Anderen oder einer Sache mit
feinem Eide verbindet, der muß diefen Eid hal-
ten durch fein ganzeö Leben, denn der Eid ift
beilig!« Ä
„Aber die Einficht des Menfchen kann ſich ja
ändern nach der Eidesleiftung!« meinte die Ba-
ronin.
„Weil fie das kann, fo follte der Menfc nicht
Derr werden feined Handelns in einem Alter, in
dem er folchen Xenderungen feiner Anfichten noch
unterworfen ifl. Das ift der Sinn der Vormund⸗
fchaft, und es ift Thorheit, daß die Geſetze fie für
alle Menfchen auf daflelbe Lebensalter ausdehnen.
Der Unmündige ift unverantwortlich, ich ftehe ein
für jedes Thun meiner Kinder. Aber jeder Menfch,
der Mann vor Allem, den dad Gefeß muͤndig
gefprochen hat, der muß fich felbft als reif erfla-
ren, indem er fich Feine Aenderungen feines Sin⸗
ned mehr geftattet, indem er eifern fefl hält an
feinem Glauben, feiner Ehre, feinem Worte!
301
Bräutigam gefchrieben, bis fie, fich felbft betruͤ⸗
gend, dahin gefommen war, auch den Grafen in
eine volfländige Täufhung über ihre Gefühle
für ihn zu verfeßen.
est, da diefer Briefwechfel aufgehört hatte,
ſah fie. plöglich ein, in welcher Verwirrung fich
ihr Geift befunden, und Fam fich wie erlöft vor,
weil fie fich dieſes Zwieſpalts überhoben glaubte.
Unumwunden ſprach fie ihren Brüdern, ihrer
Schwefter die Freude über diefe glüdliche Wen-
dung ihres Schickſals aus, und fo bereit fie fich
geglaubt hatte, dad Opfer ihrer Wünfche zu
bringen, fo dankte fie jebt Gott, daß ed nicht
mehr von ihr gefordert warb. Sie wagte ed wie-
der, mit Gornelie von Friedrich zu fprechen, fie
fragte nad) ihm in den Briefen an die Brüder,
fie dachte royaliftifcher und legitimer über bie
franzöfifche Revolution, als felbft ihr Vater, fo
lebhaft wünfchte fie, den Grafen nicht gerechtfer-
tigt zu finden.
Mit wahrer Sorge fahen es die Baronin und
Gornelie, wie ſich Helene wieder ganz und gar
von dem Gedanken an die ihr beflimmte Ehe ent-
300
feit ihrer Erfülung. — Helene zweifelte fchon
nach wenig Sagen nicht niehr daran, ihre Frei⸗
heit wieder zu erlangen, und jest gefland fie fich,
was fie fi zu verbergen geftrebt, feit fie des
Grafen Braut geworden war, daß fie troß ihres
häufigen Briefmwechfeld mit demfelben, ihm nicht
näher gefommen war, ald an dem Tage, da fie
fi) ihm verlobte. Sie hatte ſich an die Idee ges
wöhnt, ald die Gemahlin eined Gefandten fünf:
tig in Neapel zu leben, und fich in die äußeren
Verhaͤltniſſe diefer Stellung felbft mit Luſt hinein-
verfeßt; aber während fich ihre Phantafie in den
Reizen ded Südens wiegte, des Manned nur
wenig gedacht, an deflen Seite fie das erfehnte
Stalien betreten ſollte — Weil fie den Grafen
nie als ihren Verlobten neben fich gefehen hatte,
und alle ihre Erinnerungen fih an Friedrich
knuͤpften, erwedte jedes Liebeswort in den Brie-
fen ihres Bräutigams, in ihr den Gedanken an
den einzigen Mann, zu dem fie in ihrem Herzen
mit folchen Worten der Liebe gefprochen, und
ohne daß fie ed bemerkte, hatte fich Friedrich’s
Bild in ihre Seele gefchlichen,, fo oft fie ihrem,
Achtzehntes Kapitel,
Es war ein milder Augufi=Abend, ald He⸗
lene das Bitter des Parkes öffnete, um in das
Dorf zu gehen. Die tiefflehende Sonne vergol-
dete die Gipfel der Bäume und warf braunroth
glänzende Lichtſtreifen uͤber das dichte Gras der
Raſenplaͤtze und auf die braunen, flarf gefurchten
Kinden der uralten Eichen und Fichten, derem
mächtige Aeſte weit hinausragten über das Kleine
Eifengitter, und breite Schatten warfen auf bie
Wieſe, Die ſich an den Garten fchloß.
Der wärzige Geruch des Thymians, ber
Schafgarbe und des vöthlich blühenden Baldri⸗
ans zog durch die Aühler werdende Luft. Rur
302
fernte, wie fie es von fich wie, wenn man fie
erinnerte, daß der Hinblid auf Friedrich's Familie
fie zur Entfagung beflimmt babe, und daß dies
Hinderniß obmwaltend und trennend zwifchen ihr
und dem Geliebten bleiben werde, follte fie auch
ihre Freiheit wieder finden. Sie lachte der vor-
fihtigen Schonung, mit der die beiden Frauen fie
behandelten, und wie man um fo höher fchäßt,
was man zu verlieren gefürchtet bat, fo umfaßte
fie jest die Ihren mit einer leidenfchaftlichen Zaͤrt⸗
lichkeit, fo genoß fie die Schönheit des väterlichen
Landfiged mit neuer Freude, mit größerem Be
voußtfein ald je zuvor, unermüdlich ihr gegenwär-
tiges Gluͤck zu preifen, weil ihr die Möglichkeit
einer Hoffaung für die ferme Zukunft wieberger
geben war.
Achtzehntes Kapitel.
Es war ein milder Auguft=Abend, als He-
lene dad Bitter des Parkes Öffnete, um in daß
Dorf zu gehen. Die tiefftehende Sonne vergol«
dete die Gipfel der Bäume und warf braunroth
glänzende Lichtſtreifen uber das dichte Grad der
Raſenplaͤtze und auf die braunen, ſtark gefurchten
Rinden der uralten Eichen umd Zichten, deren
maͤchtige Aeſte weit hinausragten über das kleine
Eiſengitter, und breite Schatten warfen auf bie
Wieſe, die ſich an den Garten ſchloß.
Der wärzige Geruch des Thymians, ber
Schafgarbe und des vöthlic blühenden Baldri⸗
ons 708 durch die Fühler werdende Luft. ur
304
langſam fchwebten die legten Xagfchmetterlinge
noch von einer Blüthe zur anderen, um die Stelle
zu finden, auf der fie zur Ruhe dad ſchimmernde
Flügelpaar zufammenfalten konnten, während
die Nachtfalter erwachten und die Heufchreden
ihre fchwirrenden Töne erklingen ließen mitten
durch das Säufeln und Flüftern der Bäume.
Ueber die Wiefe fort, an den abgemähten
Feldern vorüber, auf denen noch hie und da eine
Kornblume oder eine rothe Mohnblüthe fi un⸗
ter dem Hauch des Abendwindes wiegte, fchritt
Helene dem Hügel zu, an deflen Fuße ſich das
Dorf ausbreitete.
Athem zu fchöpfen fland fie auf der Höhe
ftil und ſchaute zurüd. Da lag dad Schloß
ihrer Väter, die alte Burg der deutfchen Ordens:
ritter, flolz und fonnenbeglänzt im Thale. Statt:
lich breiteten fich feine vier Flügel um den inneren
Hof, an allen vier Seiten von niedrigen Thuͤr⸗
men mit flacher Bedachung flanfir. Die Bo-
genfenfter ded Remters, den alle Deutfchmeifter:
Burgen haben, fahen prächtig und feierlich aus,
307
auf ihren Kindern und Kindeskindern und immer
Liebe und Treue gewohnt habe in diefen Mauern.
— Es war Helenen die .liebfte Gefchichte gewe⸗
fen und fie hatte fich es fletS ausgedacht, einmal
auch fo treu in der Liebe zu fein und fo glüdlich
zu werden, wie ihte heilige Spinnerin am Kreuze.
Sie mußte lächeln und feufzte doch auf, als
erwache fie aud einem Traume. Daß fie von
dem Geliebten laſſen wollen, daß fie fich einem
anderen, ihr faft fremden Manne verfprochen
hatte, kam ihr ganz unglaublid) oder wie in lang⸗
vergangener Zeit gefchehen vor. Sie Dachte der
Kämpfe und Leiden jener Tage, ald lägen fie
viele Jahre hinter ihr, fo wohlthuend breitete fich
der fanfte Friede der Natur auch über fie und
ihr Empfinden aus. In freundlicher Klarheit
zogen viele andere Erlebniffe ihrer fröhlichen Kinds
beit, ihrer durch keinen Schmerz getrübten Tugend
an ihrem Gedaͤchtniſſe vorüber und gaben ihr
Vertrauen zu ihrer Zukunft. Was konnte die '
gepriefene große Welt ihr bieten, das dieſe felig
in fich befriedigte Ruhe des Herzend aufwog?
was fonnte Italien ihr mehr gewähren, als die
306
findlich glaubendvoll zu diefem Wahrzeichen ihres
Dorfes empor, das fih auch in dem Wappen
ihrer Familie wiederfand.
Die Zeiten, in welcher die Mutter ihr und
den horchenden Gefchwiftern die Sage von der
Schönheit und Liebeötreue der armen Spinnerin
erzählte, zu deren Andenken ihr ritterlicher Gelieb-
ter die Kirche erbaut, al& fie endlich nach langem
Harren und nach fchwerem Dulden fein Ehege-
mahl geworden war, traten ihr fo lebendig vor
bie Seele, als hätten fie geftern noch Alle lau⸗
fhend und flaunend in der großen Sinderflube
beifammen gefeflen. Wie oft hatte fie fich die
fromme Magd vorgeflellt, am Wege figend und
fpinnend unter dem großen Kreuze, und die
blauen Augen trodnend mit dem langen blonden
Haar, um in die Ferne zu fpähen nach des pil-
gernden Kreuzritterd feft verfprochener Heimkehr.
Wie hatte fie fich gefreut, wenn die Mutter end:
lich die Ankunft des Ritters gefchildert, und all
die Herrlichkeit, mit der er das fehöne Lieb dann
eingeführt in feine fefte Burg, und wie der Se-
gen dieſer freuen Gatten fort und fort geruht
309
Gefühl, vielem Fleden Erde ganz fo wie ihre Vor⸗
fahren anzugehören mit ihrem Sein und Wirken,
dad Gefühl der Heimath und die Kiebe für Dies
felbe wurden plöglich in ihr wach, und mit In⸗
brunft Tlammerte fie fih an dieſe Heimath an,
als fürchte fie, ihr einft dennoch entriffen zu
werden.
An einem Eleinen Hauſe hart an der Land:
ftraße fand fie enblih, nachdem fie den Hügel
berabgefliegen war, ftile. Ihre Eltern hatten es
der alten Anna, der treuen Wärterin der Hei⸗
denbrud’fchen Kinder eingeräumt, die immer noch
au ihre Pfleglinge die alten Liebesrechte geltend
machte, und fie noch immer Du und ihre Kinder
nannte. Helene gudte durch das Eleine, von
roth blühenden Feuerbohnen und fchweren Kürbis-
blättern umrankte Fenſter. Die alte Anna faß,
den Rüden gegen baflelbe gewendet, eifrig zäh:
lend und grübelnd vor einem Spiele auögebreite-
ter Karten. Helene pochte leife an die Scheiben,
um die gute Alte nit durch einen plößlichen Zu⸗
ruf zu erfihreden, aber dieſe, im ihr Spiel ver-
funten, blidte nicht empor, bis das Fräulein ihr
308
—
Wonne, die aus der Anbetung der gotterfchaffenen
Ratur in ihre Bruft geflrömt war!
Mit einem Gefühl des Stolzed und der
Freude fchaute fie auf dad Schloß und auf die
Kirche hin. Es that ihr wohl, auf eine lange Reihe
von Vorfahren fehen zu fünnen, die alle ihre
Heimath bier gehabt, alle mit ihrem Leben und
Wirken bier mehr ober minder thätig geweſen
waren. Es gab ihrem eigenen Dafein einen
fiheren Boden, einen inneren Halt. Selbſt die
Sagen von den Geiftern ihrer Ahnen, die in bem
einen nur wenig bewohnten Flügel des Schlofles
umgeben follten und an deren fortdauernded ſpuk⸗
baftes Erfcheinen eigentlich fein Dorfbewohner
zweifelte, machten ihr Freude, weil fie bewiefen,
wie lange und wie feft Die Familie hier zu Hauſe
fein muͤſſe. Mit tiefer Zärtlichkeit betrachtete fie
die Gegend um fich her, jeden Hügel, jede Wiefe,
auf denen fie gefpielt, jeden Baum, unter deſſen
Schatten fie geruht, jedes Haus, deflen Bewoh⸗
ner fie fannte und in denen fie oft, von ber Mut:
ter gefendet, als ein hülfreicher, troſtbringender
Bote erfchienen und gefegnet worden war. Das
. 311
Dorfbewohnern ihren Wohlſtand und ihre Bor:
nehmheit ald Kinderfrau vom Schloffe gebührend
zur Schau zu tragen.
Mit froher Haft war fie Helenen entgegen-
gegangen, hatte ihr beim Eintritt in dad Zimmer
den Hut abgenommen, und noch ehe jene ſich
niederfeßen konnte, ihr die weiße Pellerine feft-
geftedt, aus der die haltende Nadel herausgefal-
len war.
Helene dankte ihr. »So wie Du und Alles
an ben Leib z nageln pflegteft, liebe Anna,« fagte
fie ſcherzend, »macht es jeßt freilich Niemand mehr,
aber für wen legteft Du die Karten %«
„Fuͤr mich ſelbſt, Delenchen !«
»Was wollteft Du denn wiflen ?«
»Ob ich ed wohl noch erleben werde, wieder
in dad Schloß zu fommen? Denn das hat bie
gnaͤdige Frau mir feft verfprochen, wenn ber
Erich Kinder hat, fo wartet fie Fein Anderer als
ih.“ _
»Da Erich ed jest aufgegeben hat, Dich zu
beirathen, wie er Dir ftet3 verfprochen, fo ift er
Dir wenigſtens dieſen kleinen Erſatz ſchuldig!«
310
lachend in das Zimmer hineinrief: »Nimm Dich
in Acht! Anna daß der Bater Dich nicht fieht,
Du bift fehon wieder bei Deinen Herenkünften !«
Die Alte wendete fih um, und bot ihrem
Lieblinge das herzlichſte Willkommen, während
eine belle Freude über ihr gutmüthiges Geficht
flog. Sie fah gar flattlih aus. Ein großes
Tuch von dunkelbrauner Seide mit einem breiten,
in allen Regenbogenfarben fchillernden Rande,
war nach der Sitte ded dortigen Landvolkes um
ihren Kopf gebunden, daß fein Haar zu fehen
war, und über der Stirne zu einer Riefenfchleife
zufammengelnüpft, deren befranzte Enden an bei-
den Seiten bis zu den Ohren bernieberfielen.
Die großen goldenen Ohrringe, die ihr der Baron
bei Erich's Taufe einft gegeben hatte, glänzten,
als hätten fie eben erft den Laden des Goldſchmie⸗
des verlaffen, und der Rod und die Jade aus dunk⸗
lem Kattun, die ſchwarz feidene Schürze und das mit
vielen Nadeln ſtramm feftgeftedte Bruſttuch von
feiner Wolle, zeigten, daß Frau Anna die Sorg-
falt für ihr Aeußeres auch noch in ihrem Alter
nicht verloren hatte und daß fie ed liebte, unter den
313
ganze Reihe ſchwarz, immer Pique und Treff zu⸗
fammen, aber drunter und drüber lagen die
rothen Affe und die Könige auf den beiden Eden,
und dann hat’3 immer Feine Roth damit. Sie hat
mir geftern den größten Hochzeitötuchen gefchenft, er
ift noch ganz frifch, Du mußt. was davon fehmeden!«
Da fie wußte, wie gern die Alte fie und ihre
Geſchwiſter bediente und bewirthete, verlangte
Delene augenblidlih nach dem Kuchen. Anna
legte eine Serviette über den Tiſch, holte das
Hadwerf und einen Krug Milch herbei und feßte
Teller, Mefler und Glas mit jener Peinlichkeit
zurecht, in der ſich die Gewohnheit früherer puͤnkt⸗
licher Dienftbarkeit mir der Luft, es einem lieben
Gafte angenehm zu machen, fchön vereinten He:
lene ließ es fi) nach dem Gange in der Abend:
luft wohl fchmeden, und fah dabei halb fcherzend,
halb nachdenklich auf die beiden Päckchen ver-
griffener Karten hin, welche Anna zufammen ge=
nommen und neben fic) gelegt hatte, bis fie end-
lich forderte, Anna folle ihr die Karten legen.
»Dir?« fragte die Wärterin, »Du glaubft ja
nicht daran!«
NMNnKk
312
meinte Helene. »Aber, was haben die Karten
Dir gefagt ?«
»Er wird heirathenin drei Jahren, und zwar ganz
aus der Nähe, und ich werde ed mit Gottes Hälfe noch
erleben!. antwortete die Alte mit fefter Zuverficht.
»Das hoffe ich auch, denn Du bift ja frifch und
munter und kannſt ed abwarten, wenn ed aud
länger dauern follte!« meinte das Sräulein, aber
glaubſt Du denn noch immer an: Deine alten
Karten, Anna? Sie haben Dih ja fo oft im
Stiche gelaflen.«
»Sag das nicht, Helenchen!« bedeutete die
Märterin. »Es ift nur, wenn Leute dabei find,
die nicht daran glauben, dann fchlagen die Kar:
ten fehl. Wer daran glaubt, dem treffen fie
immer zu! ich habe es ja erlebt jehntaufendmal,
daß fieRecht behalten haben, wie neulich, wo bie
Heine Lene drüben vom Schmied, Deine Namens
f&hmwefter, die mit Dir auf denfelben Tag geboren
und getauft ift, doch noch den Müller aud Bergen
befommen bat, was Fein Menſch, fie ſelbſt nicht
mehr, gedacht hätte. Da lag freilich zwifchen
dem Herzbuben und dem Herzkönige faſt die
315
' feste fie felbft den Kuchen und das gebrauchte
Geräthe auf die Commode unter dem Spiegel,
nahm die Karten zur Hand und fagte: »Ich
fchwöre Dir's, Anna! ich will daran glauben, aber
lege mir die Karten und zwar gleich, denn ich
muß zum Thee zuruͤck fein!«
Frau Anna ließ ſich das nicht nochmals fagen.
Froh, ihrer Neigung folgen zu können, mifchte fie
vorfichtig die Karten, ließ Helene viermal abheben,
und nun begann die Alte, nachdem fie vorher
den Tiſch forgfältig gefäubert hatte, die Blätter
in wohlgeordneten Reihen neben= und übereinan-
der audzubreiten. Ueber den Tiſch gebeugt fah
das junge Mädchen dem Eifer zu, mit dem Anna's
faltige Hände die Karten ordneten, und mußte
lächeln über den Ernft, mit dem die Alte dann
ihr Werk betrachtete. Sie fchien fih nicht in
die Verfündigungen ihres Orakels finden zu koͤn⸗
nen, denn fie tupfte mit dem Finger hin und her
auf den Karten, fehüttelte bedenklich den Kopf
und wußte Anfangs offenbar die verfchiedenen
Gruppen nicht in einen ihr verftändlichen Zuſam⸗
menhang zu bringen, fo daß ihre Zufchauerin un
314
Helene lächelte. »Bei ded Schmiede Lene
iſt's ja aber eingetroffen !« fagte fie.
„Bis auf’d Haar! und auf Tag und Stunde!«
verficherte die Alte.
„Nun! fo leg mir auch die Karten, Anna! ich
werde ganz ernfthaft fein, dann trifft’s ja zu, wie
Du meinft.«
Die Alte wußte noch nicht recht, ob fie Helenen
willfahren folle oder nicht. »Was möchteft Du
denn willen ?« fragte fie.
»Was ich wiflen möchte? Nun, wie mir's
" gehen wird ’«
»Das weißt Du ja! Du bift ja Braut!
was foll Dir noch begegnen, Kind ?«
„Kann denn eine Deirath nicht zurüdgehen ?«
fragte dad Fräulein.
„Gott bemahre! Helenchen male den Teufel
nicht an die Wand! Go Etwas muß man gar
nicht in den Mund nehmen!« warnte die Alte
ganz erfchroden, und. fonnte ed nicht faflen, als
das Fräulein lachend verficherte, vom Sprechen
gefchehe gar Fein Unglüd und wenn ihr ein fol:
Iches beftimmt fei, fo wolle fie eö wiflen. Damit
317
Es liegt ſchon Kummer hinter Dir — und aud)
noch welcher vor Dir!«
Helene wollte lachen, aber ed ging ihr nicht
: von Herzen, das glaubend= und forgenvolle We:
fen ihrer Wärterin befing ihr den Sinn. Weil
urfere Zukunft uns fo undurchdringlich ift, hat
jeder Blick auf diefelbe für und etwas unheim-
lich Moftifches, wir möchten fie fchauen und zit-
tern vor ihrem Anblide wie vor dem Begegnen
eines Doppelgaͤngers; und ein Doppelgänger ift
fi) auch der Menfch, mag er fih in der Vergan—
genheit betrachten oder fich fein Weſen in zufünf-
tigen Verhaͤltniſſen vorzuftellen ftreben. Er wird
fih ſpukhaft auf die eine wie auf die andere
Weiſe. Denn wie nur der Augenblid fein’ eigen
ift, fo ift der Menfch nur er felbft in diefem Aus
genblide und vorher und nachher oft ein ganz
Anderer. Mit einer Spannung, welde fie fich
nicht erklären fonnte, mit einem Ernſte, der ihr
ſelbſt komiſch duͤnkte, hörte Helene der Karten-
legerin zu. Und mit einem Zone, den die Alte
nicht gläubiger begehren Eonnte, fragte das junge
Mädchen:
318
»Wird der Kummer vorübergehen ?«
»$a! er wirb! denn die rothen Affe, die ja
auch der Kene Gutes brachten, haben ihn zwifchen
fich !« |
„Aber wird er lange dauern ?« forfehte He⸗
lene, immer tiefer hineingezogen in den Wunder⸗
glauben, der fich in folchen Augenbliden auch rei-
ferer und fefterer Naturen zu bemächtigen weiß,
und der aus dem Beduͤrfniß ded Menfchen ent—⸗
fpringt, an einen Zufammenhang zwifchen fich
und den geheimnißvollen Kräften zu glauben,
welche er wirfjam fieht, wohin er feine Blicke
wendet. "
Die Alte antwortete nicht gleich. Sie zählte
und zählte, ihre Geficht wurde immer heiterer,
plöglich rief fie: »Das ift mir nioch nie begegnet,
ich habe mich verzählt. Es liegen vierzehn Kar-
ten in der Öberreihe, die le&te muß herunter,
nun fommt Alles anders! Dann kommt der
Coeur Bube gleich an’d Vaterhaus, die ſchwarzen
Siebenen kommen dahinter, und vor Dir, ganz
nahe vor Dir liegt Nichts wie reine rothe Freude!
Da fei Gott für gedanft!«
319
Sie ſchlug frohlodend die Hande zufammen
und auch Helenend Geſicht hatte fich aufgehellt.
»Sind nun die Reifen fort?« fragte fie lebhaft.
„Mein! Die ftehen feft!«
»Und nun fteht Nichts mehr zwifchen ınir
und meinem Liebften ?« forichte fie fcherzend wei⸗
ter, und doch jeder erwuͤnſchten Kunde zu glau⸗
ben bereit.
„Nicht das Geringſte! es ſollt' mich gar nicht
wundern, kaͤm' er gleich hier herein !«
»Ach! Anna! wenn er das thäte!« jauchzte
Helene und nahm die alte treue Seele bei dem
Kopfe, ihr Geficht mit herzlichen Küffen bedeckend,
und fie im Kreife herumbdrehend, daß ihr faft das
feidene Tuch vom Kopfe fiel und fie Noth hatte
fid) auf den Beinen, und dad Tuch auf ihrem
Haupte zu erhalten. Lachend und nach Athem
fuchend wehrte fie den Liebling von ſich ab, da
fang ein Pofthorn durch das flile Dorf, ein
Wagen rollte heran. —
— »Das ift er!« rief die Alte; fie und dus
Sräulein.eilten fcherzend an das Fenfter, und kaum
hatte Helene den Kopf hinausgebogen, als der
318
»Wird der Kummer vorübergehen
»$a! er wird! denn die rothen Affe, die ja
auch der Lene Gutes brachten, haben ihn zwifchen
fich !« |
»Aber wird er lange dauern?« forfehte De-
lene, immer tiefer hineingezogen in den Wunder:
glauben, der fich in folchen Augenbliden auch rei=
ferer und fefterer Naturen zu bemächtigen weiß,
und der aus dem Bedürfniß des Menfchen ent-
fpringt, an einen Zuſammenhang zwifchen fich
und ben geheimnißvollen Kräften zu glauben,
welche er. wirkſam fieht, wohin er feine Blicke
wendet.
Die Alte antwortete nicht gleih. Sie zählte
und zählte, ihr Geficht wurde immer heiterer,
plöglich rief fie: »Das ift mir noch nie begegnet,
ich habe mich verzaͤhlt. Es liegen vierzehn Kar:
ten in der Öberreihe, die legte muß herunter,
nun fommt Alles anders! Dann fommt der
Coeur Bube gleich an’d Vaterhaus, die ſchwarzen
Siebenen kommen dahinter, und vor Dir, ganz
nahe vor Dir liegt Nichts wie reine rothe Freude!
Da fei Gott für gedankt!«
321
fagte Anna, die, obfchon ihr die Beflürzung und
die Angft ded Grafen leid tharen, ſich Doch freute,
daß Helene einen fo zärtlichen Bräutigam bekom⸗
men habe. »Laflen Sie fie nur weinen. Sie hat
fi gar zu fehr auf ihren Bräutigam gefreut und
nun kam es fo plößlich!«
»Wer find Sie, liebe Srau? und wie fam dad
Stäulein hieher ?« forfchte der Graf.
»Ich ?« fragte die Alte wie verwundert, daß er fie
nicht kenne »Ich bin ja die Kinderfrau vom Schloffe!
zu Eurer Gnaden Befehl! und die Herrfchaft hat
mich, Gott fei Dank! nicht vergeffen. Fraͤulein
Helendyen kommt oft in's Dorf und zu mir, gnaͤ⸗
diger Herr! und fie war auch ganz wohl und
munter, gnädiger Herr! die Kinder find ja, Gott
fei Dank! auch alle fern gefund; fie war ganz
frifch und munfer!«
„Aber woher diefe plögliche Ohnmacht , liebe
Frau ?«
»Wie ich Euer Gnaden ſagte! Bloß die
Freude. Sie aß bier von dem Kuchen und ließ
fi) Karten legen und wie ich ihr fagte, daß
Wandlungen. |]. 21
320
Reiſende fie erblidte und fi) mit lebhafter Be-
wegung von feinem Site erhob.
„Halt! Halt!« befahl er dem Poſtillon, fo
daß der Diener fich verwundert umwandte, aber
noch ehe er abfteigen Fonnte, nach dem Befehle
feined Herren zu fragen, hatte diefer mit leichtem
Sprunge den Wagen verlaffen und im naͤchſten
Augenblide befand er fi fchon an Helenens
Seite. »Der Graf!« rief diefe erbebend, hüllte ihr
Geficht in ihre Hände und ſank todtenbleich in
die Arme ihrer Wärterin zurüd.
Dad Alles war dad Werk eines Augenblides.
Erfchredt trugen der Graf und Anna die Ohn⸗
mächtige auf das Ganapee. Der Graf hielt neben
ihr Fnieend, ihren Kopf in feinem Arme, er ftrei=
chelte ihre Ealten Hände, er rief dem Diener, ihm
fein Neceſſair zu bringen, er rieb ihr die Schläfe,
die Alte überbot fich in verftändiger Sorglichkeit,
aber ed währte eine lange Weile, ehe der erfte
tief aufathmende Seufzer Helenend Lippen ent-
floh, ehe fie die Augen öffnete. Als fie den Gra-
fen erblidte, brach fie in heftiged Weinen aus.
»Das wird ihr gut thun, gnädiger Derr!«
321
jte Anna, die, obfchon ihr die Beftürzung und
Angſt des Grafen leid thaten, fich doch freute,
6 Helene einen fo zärtlichen Bräutigam befom-
n babe. »Laſſen Sie fie nur weinen. Sie hat
y gar zu fehr auf ihren Bräutigam gefreut und
n kam es fo plößlich!«
»Wer find Sie, liebe Frau? und wie fam das
Aulein hieher ?« forfchte der Graf.
»Ich ?« fragte die Alte wie verwundert, daß er fte
ht kenne »Ich bin ja die Kinderfrau vom Schloſſe!
Eurer Gnaden Befehl! und die Herrfchaft hat
ih, Gott fei Dank! nicht vergefien. Fräulein
elenchen kommt oft in’8 Dorf und zu mir, gnä-
ger Herr! und fie war auch ganz wohl und
unter, gnädiger Herr! die Kinder find ja, Gott
i Dank! auh alle Fern gefund; fie war ganz
iſch und munter!«
„Aber woher diefe plögliche Ohnmacht , liebe
rau ?«
„Wie ich Euer Gnaden fagte! Bloß die
rende. Sie aß bier von dem Kuchen und ließ
ch Karten legen und wie ich ihr fagte, daß
Wandlungen. 1. 21
322
Nichts mehr ſtehe zwifchen ihr und ihrem Liebften,
da war fie ganz außer fich vor Freuden und
drehte mid) im Zimmer herum, daß mir der Kopf
nur fo wadelte, und gerade da find ber gnädige
Herr angelangt und das muß fie fo überfommen
haben, denn allzu große Freude wirft auch den
Stärkften um !«
Mit eigenthümlihem Behagen horchte der
Graf dem Geplauder der Wärterin, während feine
Augen unverwandt auf feiner Braut verweilten
und er ihre Hände in den feinen hielt. Er
wagte nicht fie an ſich zu ziehen, fondern hielt
fie wie ein Kind in feinem Arme, und um ihr
Zeit zu gönnen ſich zu erholen und zu fammeln,
verließ er dad Zimmer mit der Bitte, man möge
ihn zurüdtufen » fobald Helene ſich wohl genug
fühle, auf das Schloß zu fahren.
Kaum hatte er fich entfernt, da richtete fich
das Mädchen langfam empor, ſchaute mit fcheuen,
unruhigen Bliden um fich ber, als müffe fie fich
erfi zurecht finden, fich auf fich ſelbſt befinnen,
griff dann nach der Hand der alten Frau. und
323
e feft vrüdend flüfterte fie: -Deine Karten
ıgen, Anna! wirf fie fort!«
Das aber hieß Anna in ihrem Glauben frän-
m, beflen Berechtigung fih nad ihrer Anſicht
erade in diefem Augenblide fo unmiderleglich be⸗
haͤhrt hatte Sie war überzeugt, Helene halte
ie Ankunft des Bräutigamsd für ein Traumgebild
wer Bemußtlofigkeit, und jede Erklärung ver-
hmaͤhend, wo die Thatfachen für fie forachen,
ffnete fie die Thüre, um den Grafen zum Ein-
itt zu nöthigen. -
Als diefer feine Verlobte in aller ihrer Schön
eit vor fich ſtehen ſah, da hielt er fich nicht laͤn⸗
er. Mit der Lebhaftigkeit eines Juͤnglings eilte
e auf fie zu und fchloß fie mit dem Ausruf:
Helene! theure, liebe Helene, wie gluͤcklich macht
sich Ihre Freude!« an fein Herz, fie mit feinen
tüffen bedeckend.
Wie fie in den Wagen gelommen war, mas
er Graf zu ihr auf dem Wege nach dem Schloffe
efprochen, was fie ihm geantwortet hatte, wußte
Jelene fpäter fich felbft nicht mehr zu fagen.
Jer Umfchwung ihrer Empfindungen war zu
21*
324
ploͤtzlich geweſen, und feiner Ueberlegung , kaum
ihrer Sinne mächtig, hatte fie fich willenlos der
Zärtlichkeit des Grafen überlaflen, dem fie felbft
mit ihrem Worte das Recht zu derfelben geges
ben hatte. Aber jest exit, erft in diefem Augen:
blide fing fie an zu ahnen, was fie damit gethan,
zu ahnen, was es heiße, die Liebesbeweiſe eines
ungeliebten Mannes zu ertragen, und diefer bittere
Schmerz reifte in der Eindlichen Jungfrau plößlich
dad Bewußtfein ded Weibes, ohne ihr die Kraft
des Weibes zu geben, das felbfihandelnd Feine
Scwierigfeiten Fennt, wo ed gilt, fi vor Er-
niedrigung und Unwahrbeit zu fehüßen.
Verzweiflung im Herzen langte fie auf dem
Schloſſe an, ohne daß Jemand bemerkte, was in
ihrer Seele vorging. Der Graf hielt ihr Schwei-
gen, ihr fcheues Weſen, ihre Thranen für die
Folgen ihrer Weberrafchung, für eine Schüchtern-
beit, die ihn, den Weltmann, an feiner Braut ent⸗
zudte. Die Baronin war erfreut, weil St. Bre⸗
zan’d perfünliche Ankunft ihren Wünfchen begeg-
nete, auch Cornelie hielt es für die Ruhe ihrer
Schwefter fürderlih, daß ihrer hoffnungsvollen
327
ihn zu erklären; aber er hatte erwartet, daß er
in diefem, ihm nicht erwünfchten Falle doch min:
deftens feine Ankunft melden werde, und fich vor:
genommen, ihm dann entgegenzufahren, die Un—
-terredung am dritten Orte abzumachen, und je
nach ihrem Erfolge, fchonend für beide Theile die
weiteren Schritte zu thun. Daß St. Brezan
fich gleich nach Empfang feines Briefes auf den
Meg machen, daß er zwölf Stunden früher auf
dem Gute eintreffen werde, ald die Meldung fei-
ned Kommens, daß er Helenen im Dorfe begeg:
nen, die Ohnmaͤchtige in feinem Wagen als feine
Braut in’5 Schloß geleiten werde, dad war ein
Zufammentreffen von Umftänden, welches auch
der Scharffinnigfte nicht vorauszufehen vermochte.
Die unbefangene Weife, mit welcher ber
Straf ſich einführte, fein feherzendes: »Ich hoffe,
daß Sie mich nicht auch für einen Ufurpator hal-
ten, mein theurer Freund! weil ich fo unerwartet
gekommen bin, die Rechte zu vertheidigen, welche
Ihre Freundfchaft und Helenens Vertrauen mir
gegeben haben!« mißfielen dem Baron. Er fand fie
leichtfinnig. Aber dem Gaftfreunde, der fein Haus
Reunzehntes Kapitel.
Haft niemals geftalten die Berhältniffe fich in,
der Weife, die man erwartet hat. Mögen Ber:
ſtand und Phantafie fich mit ihnen noch fo lange
befchäftigt, mag man alle Wahrfcheinlichkeiten
noch fo vorfichtig berechnet haben, der Dämon
des Zufalld weiß unfere VBorausficht zu Schanden
zu macden und Gombinationen zu erzeugen, die
wir nicht erdenken konnten und die alle unfere
Vorſaͤtze und Grundfäge mit einem Stoße in die
Luft fchnellen.
Der Baron hatte e3, wie er den Grafen
kannte, für möglich gehalten, daß derfelbe es vor-
ziehen werde, fich mündlich ftatt fchriftlich gegen
329
jen beflimmt zu fühlen, war ihrem Gemahl fo
wmerträglich, daß der geringfte Verſuch einer Ein-
wirkung ihn um fo feſter auf der eigenen Anficht
beharren machte. Indeß in ihm felbft hatte ein
Kampf begonnen. So fehr auch gerade in diefem
Augenblide fein Zutrauen gegen St. Brezan er:
fhüttert war, fo widerftrebte es feiner Anficht
von dem Schicklichen und Würdigen, jebt dem
Manne, der bereits vor den Augen der ganzen
Dienerfchaft die Rechte von Helenens Bräutigam
behauptet hatte, feindlich entgegenzutreten und
ihn, den Edelmann, durch die Auflöfung der
Verlobung in eine feinem Stande und feinen
Berhältniffen gleich unangemefiene Lage zu ver:
feßen. Er verwünfchte die Eilfertigkeit des Gra-
fen, er verwünfchte den Zufall, der feine Tochter
in dad Dorf geführt hatte, und ging noch ver-
drießlich nachdenkend in den Zimmern auf und
nieder, als ber Graf bereitd zuruͤckkehrte, und fich
mit der VBerficherung dem inzwifchen hergerichte-
ten Theetiſche näherte, daß er fich auf der ganzen
Reife des Augenblickes gefreut habe, in dem er
fi zum erfien Male als ein Glied der Familie
328
betreten hatte, died auszufprechen, hielt feine Ach⸗
tung vor dem Gaftrecht ihn zurüd, und er be-
gnügte fich, ihm zu erwiedern: »Sie find mir
dreifach willkommen, lieber Graf! wenn es und
gelingt, und zu verfländigen !«
»Das wird mit wenig Worten leicht gethan
fein!« verficherte St. Brezan. »Sobald id) von
der Güte der Frau Baronin Gebraudy gemacht
und mich auf meinem Zimmer von dem Staube
der Reife befreit habe, ftehe ich Shnen fir die
Erörterung zu Dienfte, die ficher kürzer fein wird,
ald eine Debatte in den Kammern, denn Sie
werden mir bald zugeben, daß man fich dem
fait accompli zu fügen habe.«
Damit entfernte er ſich und ließ die Familie
in einer unbehaglichen Stimmung zurüd. Die
Baronin, welcher jede Miene ihred Gatten ver-
ftändlich war, fah deutlich was in ihm vorging,
ohne daß fie es wagte, die Art des Grafen zu
vertreten oder den Vorſchlag zu machen, der Ba⸗
ron möge, wie die Verhältniffe fich jett einmal
geftaltet hätten, die ganze Sache auf ſich beruhen
laſſen; denn fich durch Andere in feinen Entſchluͤſ⸗
329
jen beflimmt zu fühlen, war ihrem Gemahl jo
wnerträglich, daß der geringfte Verſuch einer Ein-
wirkung ihn um fo fefter auf der eigenen Anficht
beharren machte. Indeß in ihm felbft hatte ein
Kampf begonnen. So fehr auch gerade in diefem
Augenblide fein Zutrauen gegen St. Brezan er:
fehüttert war, fo widerftrebte es feiner Anficht
von dem Schicklichen und MWürdigen, jebt dem
Manne, der bereit vor den Augen der ganzen
Dienerfchaft die Rechte von Helenens Bräutigam
behauptet hatte, feindlich entgegenzutreten und
ihn, den Edelmann, durch die Auflöfung der
Verlobung in eine feinem Stande und feinen
Berhältniffen gleich unangemefjene Lage zu ver:
jeßen. Er verwünfchte die Eilfertigkeit des Gra-
fen, er vermwünfchte den Zufall, der feine Zochter
in dad Dorf geführt hatte, und ging noch ver:
drießlich nachdenfend in den Zimmern auf und
nieder, als der Graf bereitö zuruͤckkehrte, und fich
mit der Verfiherung dem inzwifchen hergerichte-
ten &heetifche näherte, daß er fich auf der ganzen
Reiſe des Augenblides gefreut habe, in dem er
fich zum erſten Male als ein Glied der Familie
330
in dem Kreife der Baronin befinden würde. Die
Herzlichfeit der Mutter, die Sicherheit ded Gra-
fen waren neue drüdende Seffeln für den Willen
des Burond, und ald St. Brezan fi) dann be-
haglich niederfeßte und heiter fagte: »Laffen Sie
und nun, mein verehrter lieber Freund! unfere
große Streitfrage friedlich fchlichten!« ward dieſe
Weiſe, die Dinge zu behandeln, dem Baron un-
erträglich. |
»Ehrenfachen, wie diefe,« fagte er mit ableh—
nendem Tadel, »find zu wichtig, um in den Be—
reich der Frauen gebracht zu werden. Sie wer:
den mid) verbinden, Graf! wenn Sie mich fpäter
auf mein Zimmer begleiten wollen !«
Diefe Zurüdweifung mußte den Grafen ver:
legen. Er ward plöglich ernfthaft, aber weit ent=
fernt, den Forderungen feines. Wirthes nachzu—
geben, rief er: »Im Gegentheil! es handelt fich
bier um meine Rechtfertigung nicht nur vor Ihnen,
fondern vor Helenen, Herr Baron! und Gie
werden mir geftatten müffen, mich bier in ihrer
Gegenwart über mein Handeln auszufprechen, da
Sie aus demfelben Beranlaffung. genommen
331
haben, mir Delenend Briefe zu entziehen, ja mir
meine Braut verfagen zu wollen !«
Damit rüdte er näher zu Helene heran, nahm
ihre Hand und fragte: »Nicht wahr, Helene”
Sie haben nicht an mir gezweifelt, und Sie wuͤn⸗
fhen, daß ich mich in Ihrer Gegenwart über
meine Dandlungsweife erfläre?«
Helene, mehr noch als die Mutter und Cor:
nelie gepeinigt durch diefe Scene, fah den Vater
an, ald wolle fie feine Entfcheivung fordern, der
Graf aber wartete diefe nicht ab. »Laſſen Sie
mich denn fagen, lieber Baron!« erflärteer, »daß
ih Ihre Bedenken von Ihrem Standpunkte aus
vollkommen begreiflich finde. Ich würde wie Sie
urtheilen, ich würde ganz nach Ihrer Anficht ge:
handelt haben, wären meine, unfere Berhältniffe
nicht gerade weſentlich verfchieden! Wäre für
mich in Frankreich zuläffig, was in Ihrem Vater-
lande Shnen eine gebotene Pflicht erfcheint und
fein mag!«
»Das gerade ift der Punkt, den ich beftreite!«
rief der Baron, »die Pflicht der Ehre iſt uͤberall
dieſelbe.«
332
»Das ift fie nur bebingungsweife, werther
Freund! Sie hier in Preußen, die Sie in einem
abfoluten Staate leben, übernehmen mit dem
Huldigungseide, mit dem Beamteneide eine Pflicht
und — verzeihen Sie mir den Ausdrud — eine
Art von Knechtfchaft !«
Der Baron fuhr auf und mollte eine Ein
wendung machen, der Graf ließ es nicht dazu
fommen. »Ich fage eine Art von Knechtfihaft,« wie:
derholte er, »weil es darauf anfommt, in foldyer
Streitfrage die Säge auf die Spige zu ftellen. -
- . Der Diener eines abfoluten Herrfchers, deffen
Wille, wie bier bei Ihnen in Preußen, das allei:
nige Geſetz ift, der Diener eines folchen Fürften
giebt mit dem Beamteneide fein eigenes Urtheil,
feine Anficht, und damit auch natürlich die Frei:
heit feines Handelns auf, denn er ſchwoͤrt ſich
zum Werkzeug des einzigen Willend, der im
Staate Geltung hat. Diefen höchften Willen zu
tadeln, ihn nicht anzuerkennen, fich feinen Anorb-
nungen zu widerfegen, ift für den Beamten Eid-
bruch — — und deffen habe ich mich nicht fchuldig ge⸗
macht, derin folchen Eid würde ich nie geleiftet haben !«
333
Die Züge ded Barond waren immer bdufterer
worden, feine Frau fah beforgt bald zu ihm,
ald zu dem Grafen hinüber und erbleichte, al&
vr Gemahl mit Faltem Zone fragte: Meinen
Sie mir einen Vorwurf damit zu machen, daß
ie Erfüllung dieſes Eides mir höchfte Ehren-
ıche iſt?«
»Nimmermehr!« rief der Franzoſe, der e&
ihlte, daß er zu weit gegangen war, »aber fchon
est müflen Sie mir zugeftehen, daß unfere Ver:
ältniffe verfchieden find, daß alfo auch unfere
lichten, unfere Handlungsweiſe verfchieden fein
nüffen. Das abfolute Königthum ift für Frank⸗
eich eine Unmöglichkeit geworden. Ob wir Dies
ils ein Glüd, ald ein Unglüd für das and be-
rachten müffen, gilt hier gleih — die Thatfache
ft da. Die Revolution hat für alle Zeit der
Nation das Recht erobert, gefeßgebend und ſich
elbft vertretend neben dem Könige zu ftehen.
Kranfreich ift conftitutionell. Das Volk erkennt
n feinem Herrfcher den Schuͤtzer der Gefebe, es
chwoͤrt ihm Treue als folhem, aber es giebt da=
nit jein Recht nicht auf, über die Erhaltung der
334
Gefege zu wachen, fein Recht nicht auf, den Kö-
nig in ihrer Ausübung zu controliren, denn es
fteht als felbftändige Macıt neben dem Throne.
Der Eid in einem conftitutionellen Staate ift die
feierliche Unterzeichnung eines Gontractes, der nur
Dauer haben Fann, fo lange beide Theile ihn er-
füllen. Karl der Zehnte bat nach meiner Ueber:
zeugung den Contract gebrochen, er hat .die Ver:
faffung angetaftet, er — —«
»Wer ift der Richter über ihn?« fragte der
Baron mit dem Zone geringfchäßenden Tadels.
»Die Majorität der Volfövertreter, die öffent:
liche Meinung!x fagte der Graf beftimmt.
»Eine öffentliche Meinung, deren Allmacht aus
Millionen Fäuflicher Seelen und Millionen von
Nullitäten befteht, die wollen Sie, Sie Graf St.
Brezan! erkennen als Richter uͤber einen legitimen
Herrn?«
»Ich erkenne Die gfentliche Meinung vielleicht
mit Widerſtreben als meinen Herrn an, aber ich er⸗
kenne fie als legte Inſtanz fuͤr einen conſtitutio⸗
nellen Staat, und wollte ich es nicht, ich muͤßte
es thun — denn die Gewalt der oͤffentlichen
335
Meinung fieht ald Thatſache in Frankreich vor
und da. Hätte die Öffentliche Meinung fich gegen
mich in der Verwaltung meines Amtes ausge⸗
iprochen, fo hätte ich es verlaſſen müffen. Der
König felbft würde gezwungen worden fein, mich
zu entfernen, wäre er perfünlich auch von meiner.
Unfhuld überzeugt geweſen. Jetzt forderte bie
öffentliche Meinung feine Entfernung — und wie
er fich diefer Gewalt fügen müßte, füge ich mid)
ihr, ganz abgefehen davon, daß überhaupt von
Fuͤgſamkeit nicht mehr die Rede fein kann vor
der vollendeten Thatſache. Selbft der Arm eines
Titanen hält den Gang der "Weltgefchichte nicht
zurüd in ihrem Laufe. Folgerechte Ereigniffe haben
Napoleon zerfchmettert, Ludwig den Achtzehnten
erhoben, Karl den Zehnten geflürzt, dem Herzoge
von Orleans die Koͤnigswuͤrde in die Hände ge:
worfen — — auf wie lange, das wird die Zeit
uns lehren, das werden feine Handlungen bedin-
gen. Sekt verlangte das Volk, jekt verlangte
Frankreich nach dem Bürgerfönige Louis Philipp,
die Majorität ift zufrieden geftellt durch ihn, und
gegen dieſe jich aufzulehnen, das allein ift Mein—
eid in einem conflitutionellen Staate. Den Dienft
in folcher Kriſis zu verlafien, wäre Mangel an
ſich felbftverläugnender Waterlandeliebe, wäre
fruchtlod und unklug geweſen gegenüber dem
fait accompli!«
Er hatte mit Ernft und mit großer Wärme
geiprochen, nun wendete er fich Helenen zu und
fagte plöglicy mit ganz verändertem Tone: »Richt
wahr, theure Helene! Sie flimmen mir bei, und
die®ehre von dem fait accompli wird Ihnen ein-
leuchten, denn Sie giebt Ihnen unwiderftehliche
Waffen gegen mic in Handen. Wor dem fait
accompli werden Sie mich immer fügfam finden,
in der Ehe wie imStaate, und da Sie mir fort-
an alle Frauen der Welt erfeben, fo wird meine
fchöne Helene auch ewig der Majorität mir ge-
genüber ficher fein !« |
Er hatte, fo mächtig er des Deutfchen war,
die ganze Unterredung franzöfifch geführt. Das
gab ihm, ob gefucht ob zufällig, einen bedeuten
den Vortheil über feinen Gegner, denn die ferti-
gen Phrafen, welche das öffentliche, politifche Ze-
ben der Sranzofen erzeugt hatte, boten fich ihm
339
die Öffentliche Meinung nennt. — Die Öffentliche
Meinung!« wiederholte er nochmals fpöttifch mit:
den Achfeln zudend — und gegen Helene gewen-
det, fügte er hinzu: »Diefe öffentliche Meinung
wird alfo künftig auch Dein Richter werden!
Halte Dich aber lieber an die Zufriedenheit des
Grafen, das wird Dir und ihm in allen Fällen
das Erfprießlichere fein!«
Die Tochter Eüßte feine Hand, die beiden
anderen Frauen athmeten auf, ald wären fie einer
Angft entledigt, und der Graf, dem es überall
mehr auf die Erreichung feiner Abfichten, ald auf
den Sieg in einem Prinzipienftreite anfam, fuchte
mit der gefelligen Leichtigkeit, die ihm zu Gebote
ftand, ſich und die Anderen über dad Unbehagen
‚ fortzubelfen, dad die ganze Befprechung in ihnen
erregt hatte. Ihm felbft aber war der Vorgang
bei Helenen von dem größten Nutzen gemefen.
Die Eile, mit der er gefommen war, fich ihren
Beſitz zu retten, fehmeichelte ihr,. troß der Freude
mit der fie noch vor wenig Stunden an die Wie»
dererlangung ihrer Freiheit gedacht, und weil fie
mit dem Grafen von dem Falten Empfange ge-
nnw
338
rechnen. Niemand Eonnte ihn tadeln, er achtete
auch fremden Zadel nicht, wo es nach einer
Ueberzeugung zu entfcheiden galt — und doc
folgte er diefer Ueberzeugung nicht, weil die Nach⸗
theile, die Unbequemlichkeiten, welche ſolches Han-
deln für den Augenblic® herbeigeführt haben wuͤr⸗
den, fich ihm zu deutlich aufprängten. Der flarre
Bertreter unwandelbarer Grundfäße fügte fich zum
erften Male der ihm fo verächtlichen Lehre von der
Gewalt der erfüllten Thatfache, aber er that es
mit Schmer;.
»Frankreich hat fi nicht Gluͤck zu wünfchen,«
fagte er, »daß ed zu folchen Doctrinen feine Zu—
flucht nehmen muß, fi) vor der Wiederkehr der
Anarchie zu wahren, und ich beflage Sie, ich be-
Elage jeden Edelmann, der gezwungen ift, fie zu
den feinigen zu maden. Ich freue mid, daß
unferem Volke eine andere Straße vorgezeichnet
ift, denn ich für mein Theil würde mich Durch
Nichts in der Welt bewegen laffen, einem conſti⸗
tutionellen Staate zu dienen, und mich und meine
Handlungen dem beftechlich grillenhaften, millio-
nenköpfigen Phantome zu unterwerfen, dad man
339
— —
: Öffentliche Meinung nennt. — Die öffentliche
einung!« wiederholte er nochmals fpöttifch mit
n Achfeln zudend — und gegen Helene gewen—
t, fügte er hinzu: »Diefe Öffentliche Meinung
ird alfo künftig auch Dein Richter werden!
alte Dich aber lieber an die Zufriedenheit des
rafen, dad wird Dir und ihm in allen Fällen
is Erfprießlichere fein!«
Die Tochter küßte feine Hand, die beiden
aderen Frauen athmeten auf, als wären fie einer
ngft entledigt, und der Graf, dem es überall
ehr auf die Erreichung feiner Abfichten, als auf
en Sieg in einem Prinzipienftreite ankam, fuchte
zit der gefelligen Leichtigkeit, die ihm zu Gebote
and, fi) und die Anderen über dad Unbehagen
ortzuhelfen, das die ganze Befprechung in ihnen
rregt hatte. Ihm felbft aber war der Vorgang
yei Helenen von dem größten Nutzen geweſen.
Die Eile, mit der er gefommen war, fich ihren
Beſitz zu retten, fchmeichelte ihr, troß der Freude
mit der fie noch vor wenig Stunden an die Wie
dererlangung ihrer Freiheit gedacht, und weil fie
mit dem Grafen von dem Falten Empfange ge:
22 *
340
litten hatte, den ihr Water ihm bereitet, war. fie,
ohne daß fie ed wußte, auf die Seite St. Bre⸗
zan’d getreten, fo daß fie feinen Sieg ald den
ihrigen betrachtete. ’
Der erſte Augenblid ruhiger Ueberlegung hatte
eö ihr Elar gemacht, daß fie ihren. Herzenswuͤn⸗
fchen jest wie früher zu entfagen habe. Die er-
ften Umarmungen, die erflen Küffe des Grafen
hatten ihr mit dem Erfchreden über ihre Unfrei-
heit doch unmiderleglich dad Gefühl der Abhän-
gigkeit von ihm und feinem Willen aufgedrungen.
Das verbreitete den Ausdruck einer Weichheit,
einer Hülflofigkeit über ihr Wefen, der dem Gra-
fen fehr reizend war. So abhängig von frem-
dem Willen, fo unberührt vom Leben hatte er
fi feine Gattin ſtets gewuͤnſcht. Diefe Strenge,
bauslicher Zucht bei vollendeter Bildung für die
große Welt, hatte er ftetd als die Bürgfchaft
feines Glüdes angefehen. Von einer Kiebe in
dem Sinne der Jugend, von jener Leidenfchaft,
wie fie die Schönheit heißen Sinnen abgewinnt,
konnte bei dem Grafen nicht die Rede fein, der
‚alle Regungen, des Herzens, alle Genüffe des
end, wenn aud nicht erſchoͤpft, fo doch in
em Maaße gekoftet hatte. Er verbeiratbete
fih, weil er einer Hausfrau bedurfte, um fid
eine angenehme Ruhe, feinem Haufe eine liebens-
würbige Wirthin zu geben. Helenens Weſen
hatte ihn angezogen, ihre Schönheit erfreute ihn,
er wünfchte ſich Gluͤck zu ihrem künftigen Be⸗
fite, er batte zu feinen Freunden mit ſelbſtge⸗
fäligem Lobe von ihren Vorzuͤgen gefprochen,
und hätte fein Herz auch nicht eben fchwer da⸗
von gelitten, dieſe Heirath fcheitern zu fehen, fo
wäre ein folches Ereigniß gerade, für das Selbft-
gefühl des aͤltern Mannes ein ſchwer zu über:
windender Verluft gewefen. Diefe Rüdficht hatte
feine eilige Reife beftimmt. Sie ließ ihn den falten
Empfang, den Zabel des Barons nicht achten,
und die Eitelkeit, die fo oft als Stelivertreter
der Zugend die Handlungen der Menfchen be:
fimmt, erfebte in diefem Falle, was der Liebe
des Grafen an Wärme fehlte. Sie machte He:
lenen an eine Leidenfchaft glauben, Die zu em-
pfinden ihr Bräutigam feit langer Zeit verlernt
hatte.
342
Die politifchen Berhältniffe, welche dem Gra-
fen die Pflicht auferlegten, fo bald ald möglich
wieder auf feinem Poſten einzutreffen, die Ueber-
zeugung der Baronin, daß ed für den Seelenzu⸗
ftand ihrer Tochter eine Erleichterung fei, ihr
Schickſal möglichft ſchnell für immer zu entfchei-
den, und die nicht befeitigte Verſtimmung des
Barond gegen feinen künftigen Schwiegerfohn,
veranlaßten, dag man den Beſchluß faßte, die
Trauung ſchon nach wenigen Tagen auf dem
Gute vollziehen zu laſſen. Erft nach derfelben
wollte man in die Stadt gehen, um in einem Ab-
ſchiedsfeſte Helenens Bekannte noch einmal zu ver:
einen, ehe fie dad Vaterhaus verließ. Gleich nach
der Hochzeit follte dann auch Erich feine Reife
antreten, und beide Brüder wurden jest fchleu:
nig auf dad Gut hinausberufen, damit die Fa⸗
milie noch einmal vollzählig Leifammen wäre,
ehe die Lebenswege der Gefchwifter fich zu fren-
nen begannen.
Die Eltern ſowohl als die Kinder fühlten,
daß fie an einem Wendepunkte ihres bisherigen
Daſeins ftänden, und wie man gern noch ein:
335
Meinung fteht ald Thatſache in Frankreich vor
und da. Hätte die öffentliche Meinung fich gegen
mich in der Verwaltung meined Amtes ausge:
fprochen, fo hätte ich es verlaffen müffen. Der
König felbft würde gezwungen worden fein, mic)
zu entfernen, wäre er perfönlich auch von meiner.
Unfchuld überzeugt gewefen. Jetzt forderte die
Öffentliche Meinung feine Entfernung — und wie
er fich diefer Gewalt fügen müßte, füge ich mic)
ihr, ganz abgefehen davon, daß überhaupt von
Fuͤgſamkeit nicht mehr die Rede fein kann vor
der vollendeten Thatſache. Selbft der Arm eines
Zitanen hält den Gang der’ Weltgefchichte nicht
zurüd in ihrem Laufe. Folgerechte Ereigniffe haben
Napoleon zerfchmettert, Ludwig den Achtzehnten
erhoben, Karl den Zehnten geftürzt, dem Herzoge
von Orleans die Königswürde in die Hände ge-
worfen — — auf wie lange, dad wird die Zeit
uns lehren, das werden feine Handlungen bedin-
gen. Jetzt verlangte dad Volk, jekt verlangte
Frankreich nach dem Bürgerfünige Louis Philipp,
die Majorität ift zufrieden geftelt durch ihn, und
gegen diefe fich aufzulehnen, das allein ift Mein:
341
groß die Kluft fei, welche feine Weltanſchauungg
von der ihrigen, fein und Helenens Alter trennte
Mit richtigem Takte überließ er fie fich felbft.
Er verftand die Kunft zurüdzutreten, um ficherer
vorfchreiten zu können, er verftand ſich zu fügen
im Privatleben wie in der Politit, fobald es
feinen Zweden diente.
Gegen feine Vorausſetzung fand fich Georg
zu dem Grafen hingezogen. Er hatte erwartet,
in ihm einem Manne von ben frengen Grund⸗
fäben feined Waters zu begegnen und ſich ben
Strafen Ealt, höfifch gefchmeidig und abweifend
gedacht. Nun lernte er mit Ueberraſchung in
feinem Schwager dad gerade Gegentheil dieſer
Eigenfchaften Fennen. Weit davon entfernt, den
Unterfchied der Jahre zwifchen ihnen geltend zu
machen, oder, wie der Baron es that, von juͤn—
geren Männern ehrerbietige Unterordnung zu ver-
fangen, ftellte er feine Schwäger als gleichbe-
rechtigt neben fich. Erritt und jagte mitihnen, hatte
Theilnahme für alle ihre jugendlichen Intereffen
und ward für Georg fchon nach wenig Stunden
ein Gegenftand ber Zuneigung, weil alle Ergäb-
337
willig dar, und die anmuthige Galanterie, mit
der er von der Discuffion fich fchnell wieber zu
jeiner Verlobten zuruͤckwendete, machte auf dieſe
und auf die anderen Frauen einen angenehmen
Eindrud. Zum erften Male gefiel der Graf Hele-
nen, zum erften Male faßte fie Zutrauen zu ihm,
weil feine biegfame Weltanfchauung ihr neben der
Starrheit ihres Waters mild und verfühnlich vor:
Fam.
Sie reichte ihm die Hand, der Graf Eüßte
diefelbe, und während der Baron fich anfchidte,
mit den edeln, aber fchweren Waffen feines legiti-
men Glaubens dad Unrecht darzuthun, welches
in der Anerkennung des fait accompli liege, eben
weil ed ein ſolches fei, ſah er ſich gezwungen,
bier in feinem Privatleben, in dem ihm Nächften,
Theuerſten, in feiner Samilie, die Gewalt der er:
füliten, beftehenden Zhatfache gegen feine Anficht‘
gelten zu laflen. Er fühlte, er habe jetzt noch
die Möglichkeit feine Zochter dem Grafen, defien
Sefinnung ihm nicht zufagte, zu verweigern, er
Eonnte fogar auf ihren Gehorfam, auf die mehr
oder weniger fchnelle Fügfamteit feiner Gattin
Wandlungen. 1. 22
346
zen nicht vollkommen befriedigt find durch manche
Ihrer Verhältniffe, und kann ih — —«
„Nein! davon ift nicht die Rede,«“ fiel ihm
der Lieutenant in dad Wort, »und gerade in die—
ſem Augenblide merke ich doch zum erſten Male
an Ihrem »»daß Sie im Ganzen nicht vollfom-
men befriedigt find durch manche Ihrer Berhält-
niffe,«« daß Sie doch ein Diplomat find. Um es
denn Furz zu machen, ich hatte ein Vorurtheil,
einen wahren Haß gegen Sie!«
»Das ift fonderbar, da Sie mich nicht kann⸗
ten!« wendete der Graf lächelnd ein, und es lag
in feinem Tone Etwas, dad Georg verlegen
machte, weil ed urplöglih eine Schranke
zwifchen ihnen errichten zu wollen ſchien. Er
fühlte, daß er eine Unfchidlichkeit begangen habe,
und feine Befangenheit zu überfommen, wollte
er fich mit einem noch entfchiedeneren Worte be=
freien, ohne zu bedenken, daß wir den Knoten
nur fefter fchlingen, den wir gewaltfam zu löfen
trachten. »Die Diplomatie ift mir immer ſchreck⸗
lich zuwider gewefen,« rief er, »weil Dad ewige
Unterhandeln, Audgleichen und ermitteln den
XD
349
fchenvollen Stadt,« erklärte er. »Wohen Sie
ſich frei fühlen lernen, fo bewegen Sie ſich fo
vorfihtig in der Menge, daß Sie auf Ihrem
Wege vorwärtd kommen, ohne an bie neben Sh-
nen Gehenden zu floßen. Kraft und Rüdficht-
lofigfeit mögen $reiheit erfämpfen in ver Bar-
barei, in einem civilifirten Staate machen nur
Fuͤgſamkeit und Schonung gegen Andere uns
perfönlich frei!«
»So werde ich aljo unter die Barbaren ger
ben oder auf Freiheit verzichten müffen!« rief der
junge Offizier.
»Wielleicht werden Sie beides thun!« meinte
St. Brezan fehr ruhig.
Georg war ganz ernft geworben und fah
nachdenfend vor fich nieder. Da nahm der Graf
feinen Arm und mit der fcherzenden Anmuth,
die ihm zu Gebote ftand, fagte er, während fie
fi) dem Haufe wieder näherten: »Wenn Sie ſich
in ber Barbarei genug gethan haben werden,
lieber Freund, fo werden Sie denfbarer Weife
einmal einen Vermittler für Ihre Rüdkehr in die
Civilifation gebrauchen. Denken Sie dann an
348
ten die befannte Lehre an, daß en voyage l’es-
sentiel est d’arriver!«
Es entfland eine Paufe, die der Graf abficht-
lich verlängerte. Er wollte dem jungen Manne
feine Unſchicklichkeit fühlbar werden laffen, in-
deß er mochte niemald eine gewonnene günftige
Meinung einbüßen, und unberührt durch Die ju-
gendliche Uebereilung des Lieutenantd, war er es,
der die Unterhaltung wieder aufnahm.
»Es ift Schade,« fagte er, »daß Sie nicht in
Frankreich leben, Ihre Streben nach Freiheit — — «
»Ja! das würde dort Genügen finden !« un
terbrach ihn Georg.
»Das würde fich befchränfen lernen,« bedeu⸗
tete der Graf, »in einem Lande, in welchem Se-
dermnn Freiheit für fich felbft beanfprudt. Die
Freiheit, welche Sie zu wünfchen fcheinen, finden
Sie eher in Rußland ald bei und!«
Der Lieutenant fah ihn betroffen an, der Graf
merkte, daß der junge Mann ihn nicht verflan-
den hatte. »Eine Kanonenkugel, die grade aus
ihren Weg verfolgt, kann man eher in einer oͤden
Steppe dulden, als in den Straßen einer men=
N
351
bändeln, von Ehefcheidungen, von Abenteuern
aller Art in einer Weiſe fprechen hören, die ih-
nen vollkommen fremd war, und die fie auch an
ihm früher nicht gefannt hatten. Sie thaten
plöglich Blicke in eine Welt, in der die Leiden-
fchaften dem Gefebe Hohn fprachen oder es ger
[hit zu umgehen wußten, ohne daß das Geſetz
oder die Öffentlihe Meinung dafür Rache nah
men; aber dieſe Blicke waren fo kurz, fo flüchtig,
die erwähnten Gegenftände fo gefchickt verfchleiert,
daß Fein Bild fich ihnen flörend oder verleßend
aufbringen konnte. Sie waren vor dem erften
Schauen befremdet zurüdgewichen, hatten die
Augen davon abgemwendet und gelaufcht, ob die
Mutter, ob der Vater folhe Mittheilungen, die
fonft in ihrem Haufe nie geduldet worden waren,
nicht als Ungehörigkeiten tadelnd zurüdweifen
würden. Die leichte Art des Grafen, die Na
türlichleit, mit der er jene Verhältniffe ald alltäg-
licher Erfcheinungen flüchtig erwähnte, machten je-
doch daß er meift lange darüber fortgefchlüpft war,
ehe eine Entgegnung möglich wurde; und Außer:
ten die Eitern fich darüber, fo gefchah es nur
352
in einer Weiſe, die die Khatfache anerkannte und
fie mehr beklagte als verbammte. Ob died aus Ruͤck⸗
ficht für den Grafen, ob aus irgend einem an:
dern Grunde fo geſchah, machten die erftaunten
Mädchen fich nicht Bar. Sie fühlten nur, es
fei eine Schranke niedergeriffen zwifchen ihnen
und der Welt. Die Eltern, die Brüder felbft, haͤt⸗
ten vor ihnen bisher eine abfichtlihe Zuruͤckhal⸗
tung beobachtet. Diefe Alle kannten andere Seiten
des Lebens, Alle fchienen die Reize derfelben zu:
zugeben und Niemand tabelte fie fo firenge, als
man bisher die geringfie Abweichung von
den Regeln einer alö allein berechtigt aufgeftell-
ten Sitte, in ihrer Gegenwart verdammt hatte.
St. Brezan und die Zukunft, die er ihr zu
bieten hatte, gewannen dadurch einen geheimniß-
vollen Reiz für feine Braut. Ihre unentweihte
Phantafie ward aufgeregt. Es war ihr, ald um:
fange fie der beraufchende Duft fremder Wohl-
gerüche, als lode fie ein auftauchender Lichtglanz,
das leife Heranklingen einer Muſik, die und ge-
heimnißvoll ladend vorwärtöziehen, wenn wir inun-
feren Träumen die Schwelle eines myftifchen Tempels
3
betreten haben, und wie von einem Zauber be-
fangen, der ihr den Blid in die Vergangenheit
verhüllte, fah fie ihrem Hochzeitötage entgegen.
Am Borabende deflelben, ald man die lebten
Geräthichaften ihres Schreibtifches, die Portraits
und jene taufend Kleinigkeiten verpadte, die ihr
ald liebe Erinnerungen in die neue Heimath fol-
gen foltten, fielen ihre Augen auf ein Heft Ge-
dichte, die ihr Friedrich einft gegeben und die fie
noch immer zurüdbehalten hatte, um ein Anden
fen an ihn zu befiten. Sie fchlug ed auf, es
waren einfach gefühlte Lieder, wie fein files
Knabenleben fie erzeugt hatte, aber fie erfchienen
ihr viel reiner, viel ſchoͤner, ald je zuvor. Es
war ihr, alö läge die Zeit jenes friedlichen Em-
pfindens, jened begnügten Genuſſes an der Na⸗
tur, jened ahnungdvolle Hoffen auf Freundſchaft
und auf Liebe jahreweit hinter ihr. Ein Gefühl
von Bedauern gegen ſich und Friedrich, eine un⸗
beflimmte Reue und Sehnfucht nad) der Vergan-
genheit kamen über fie. Sie konnte es nicht ertra-
gen dieſe Blätter durchzulefen und doch zauderte
fie, fih von ihnen zu trennen. Endlich nahm
Bandlungen 1. 23
352
in einer Weife, die die Thatſache anerkannte und
fie mehr beklagte alö verdammte. Ob died aus Ruͤck⸗
fiht für den Grafen, ob aus irgend einem an
dern Grunde fo gefchah, machten die erftaunten
Mädchen fich nicht Har. Sie fühlten nur, es
fei eine Schranke niebergeriffen zwischen ihnen
und der Welt. Die Eltern, die Brüder felbft, hät:
ten vor ihnen bisher eine abfichtliche Zurudhals
tung beobachtet. Diefe Ale kannten andere Seiten
des Lebens, Alle fehienen die Reize derfelben zu⸗
zugeben und Niemand tadelte fie fo firenge, als
man bisher die geringfte Abweichung von
den Regeln einer alö allein berechtigt aufgeftell-
ten Sitte, in ihrer Gegenwart verdammt hatte.
St. Brezan und die Zufunft, die er ihr zu
bieten hatte, gewannen dadurch einen geheimniß-
vollen Reiz für feine Braut. Ihre unentweihte
Phantafie ward aufgeregt. Es war ihr, als um⸗
fange fie der beraufchende Duft fremder Wohl-
gerüche, als locke fie ein auftauchender Lichtglanz,
dad leife Heranklingen einer Muſik, die und ges
heimnißvoll ladend vorwärtöziehen, wenn wir in un-
feren Träumen die Schwelle eines myftifchen Tempels
353
haben, und wie von einem Zauber be-
der ihr den Blick in die Vergangenheit
, ſah fie ihrem Hochzeitötage entgegen.
Borabende deflelben, als man die lebten
haften ihres Schreibtifches, die Portraits
? taufend Kleinigkeiten verpadte, die ihr
: Erinnerungen in die neue Heimath fol-
en, fielen ihre Augen auf ein Heft Ge:
yie ihr Friedrich einft gegeben und die fie
mer zurüdbehalten hatte, um ein Anden:
ihn zu befiten. Sie ſchlug ed auf, es
einfach gefühlte Lieder, wie fein ftilles
eben fie erzeugt hatte, aber fie erfchienen
reiner, viel fchöner, ald je zuvor. Es
, alö läge die Zeit jenes friedlichen Em⸗
„ jened begnügten Genuffed an der Na-
«8 ahnungsvolle Hoffen auf Freundfchaft
Liebe jahreweit hinter ihr. in Gefühl
dauern gegen ſich und Zriedrich, eine un:
te Reue und Sehnſucht nad) der Vergan—
kamen über fie. Sie konnte es nicht ertra=
e Blätter durchzulefen und doch zauderte
von ihnen zu trennen. Endlich nahm
ıngen 1. 23
394
fie ein Band, das fie viel getragen hatte, ſchlang
es um das Heft, fchrieb dad Datum darauf, ver-
fiegelte ed, und als fie ed dann Cornelien gab,
mit der Bitte, ed Friedrich nach ihrer Abreife
zuzuftellen, ftürzten ihr die Thränen aus den
Augen und fie entfernte fich ſchnell.
Diefem Schmerze gegenüber fühlte fie Die
Nothwendigkeit, fich gegen den Grafen zu erflä-
ven, ihm zu fagen, wie fchwer ihr dad Opfer
ihrer Neigung geworden fei und fich vertrauend
an feine Bruft zu legen, denn ed war ihr, ale
bebürfe fie feines Beiftandes gegen fich felbft.
Schnell, damit der Muth ihr nicht entfchwinde,
eilte fie die Treppe hinab in den Salon, an beflen
Fenfter fie ihn Eur; vorher mit dem Lefen einer
Zeitung befchäftigt gefehen hatte, fo daß fie hoffen
durfte, ihn allein zu treffen. Ihre Rede, des Grafen
Antwort, die ganze Scene fehwebten ihr in fefter
Borftelung vor der Seele, als fie aber die Thuͤre
öffnete, war St. Brezan nicht mehr allein. Die
Baronin faß auf dem Sopha und fragte nad) einer
jungen Dame, die fie in Karlöbad gemeinjam ken⸗
‚nen gelernt und die fich feitdem verheiratbet hatte.
355
»Die Ehe war bald nach der Hochzeit nahe
ran unglüdlich zu werben! fagte der Graf.
»Wie dab ?« fragte die Baronin.
»O, durch eine falfche Sentimentalität von
iden heilen. Die Peine Garoline hatte eine
erzensgeſchichte gehabt, eine Liebe, wie jedes
aͤdchen fie mit fiebzehn Jahren für einen armen
yufin oder für irgend einen andern jungen Mann
me Auſſichten hegen zu müflen fcheint, damit
8 Herz Hopfen lernt. Diefe Liebe hielt fie fehr
ch, was ihrem Alter befier anftand, als der Er:
hrung ihres Mannes, der jened fchuldlofe Ge⸗
hl wie eine ernfte Sache anfah. Sie machte
onfidenzen, ihr Dann verlangte Schwüre, und
e Sache ward durch Mißverftiehen zu einem
rama erhoben, während fie faum den Stoff
: einem Vaudeville darbieten konnte. Indeß
ift Alles ausgeglichen und Caroline ift zufrie-
n, wie mir fcheint!«
Die Baronin hatte Helene flüchtig angeblidt,
er dad hatte genügt, die Wangen des Mäp-
end mit dunkler Gluth zu überziehen. Ihr
ntfchluß, ſich dem Bräutigam vertrauend mit-
36
zutheilen, war zerftört. Sie fehämte fich, ohne
zu wiſſen weshalb, und es duͤnkte fie leichter, das
Gefühl einer Unreblichkeit in fih zu tragen, als
von ihrem fünftigen Gatten belächelt zu fehen,
was ihr eine heilige Erinnerung war. Aber zum
erften Male beklagte fie es tief, daß der Graf nicht
jünger fei, daß er nicht mehr zu empfinden, zu
denken vermöge, wie fie felbft.
Endlich) kam der Tag der Trauung heran. Im
‚weißen bräutlichen Gewande, deflen Falten fehwer
herniederfloffen, den Myrthenkranz auf den dun-
fein Locken, fo führte die Mutter Helene in das
Zimmer ded Barond. Erich befand fich bereitö bei
ihm. Er follte bald nach Helenend Hochzeit
feine Reife antreten, und der Water hatte ge-
wünfcht, die beiden Kinder, welche faft zu glei-
cher Zeit fein Haus verlaffen follten, noch einmal
in befonderer Unterredung zu fprechen, ehe fie
fchieden. |
Die Zenfter des Gemaches waren geöffnet,
die legten Strahlen der Sonne fielen hinein. Ein -
flarter Blumengeruh drang aud dem Garten
empor, in den Blättern des Weinlaubed, das
N
357
fine Ranken bis in die Fenfter hineinbog, zwit:
ſcherten die Vögel. Sonft war Alles ftill, und die
Ihöne Einfachheit, mit der das Zimmer auöge-
fattet war, gaben ihm in diefer Ruhe das An:
fehen einer Kirche, während es zugleich einen
würdigen Hintergrund bildete für die edle Geftalt
feined Beſitzers, der in ſchwarzer Kleidung, die
Bruft mit Ordenzeichen bedeckt, der Tochter ent:
gegentrat, ihre beiden Hände erfaßte und fie ſchwei⸗
gend eine Weile mit liebevollem Ernft betrady-
tete. Dann wendete er ſich ab, umarmte ihre
Mutter und auf die beiden Kinder zeigend fagte
-r: »Du haft mir treulich geholfen, fie fo weit
Nu bringen, ich danke Dir!-
Die Baronin umarmte ihn und füßte dann
eine Hand, er ließ es ruhig gefchehen. »Noch
find fie unfer!« fprach er, »aber nur noch dieſe
Stunde! Noch find wir für fie verantwortlich!
Welch ein Zroft liegt darin, verantwortlich zu
AR für die Menfchen, die man liebt! Welch ein
Fr wſt, welch eine Erhebung! und ich darf es mir
U Dir in diefer Stunde fagen, wir haben Die
Wxgend unferer Kinder zu einer glücklichen ge:
358
macht. Nichts Unedles hat fie berührt, kein üble
Beifpiel ift ihnen gegeben worben. Mit edlem
Namen, mit reiner Ehre und mit reinem Herzen
entlaffen wir fie bei ihrem Eintritt in die Welt.«
Die Mutter weinte, Helene war vor dem
Bater niedergefniet, Erich ihrem Beifpiele gefolgt.
Da legte er feine Hände auf ihre Häupter, und
mit bebender Stimme fagte er leife: »Sei das
Gedaͤchtniß an Eure Eltern Eure Schugwehr ge-
gen jedes, Unrecht, und wo mein Auge Euch nicht
mehr erreichen, meine Hand Euch nicht mehr lei⸗
ten Fann, da fei Gott mit Eudh!«
Die Gefchwifter richteten fich empor, umarm⸗
ten die Eltern, umarmten einander. Es war
fi im Zimmer und der Friede der äußeren Na-
tur erhöhte die Feier dieſes Augenblickes.
Als die Erfchütterung ausgeklungen hatte,
feßte fich der Baron auf feinen Divan und nös
thigte die Anderen ebenfalld Plab zu nehmen.
»Ihr werdet nun Beide in wenig Tagen in eine
Melt gehen,« fagte er, »in der andere Anfichten,
andere Begriffe, ja eine andere Ehre herrfchen,
ald die, nach deren Grundfägen ich Euch erzog.
359
Der Ehrenbegriff der fogenannten großen Welt
it Ioder und dehnbar. Laßt ihn nie den Euren
werden. Wortbruch, Zreulofigkeit, Gefinnungs-
loſigkeit, Leichtſinn, Coketterie, ja jeder Werrath
laffen fich verbergen unter dem Deckmantel jener
Gefeltfchaftdehre, jener Gavalierehre, die ſich zur
wahren Ehre eines Edelmannes verhält, wie ber
Paradedegen eined Hofmannes zu ber feften Waffe,
die unfer Freund ift in der Stunde der Gefahr,
wie fremdes Lob zu unferm eigenen Bewußtſein.
Was Ihr nicht vertreten koͤnntet hier vor mir zu
ider Stunde, das ift fündhaft und ehrlos, und
wenn alle Welt das Gleiche thäte, und wenn
ale Welt Euch darum lobte. Ach, der ich Euch
erzog, der Euer Gewiffen bildete, ich bin und
bleibe Euer Richter, denn mir fchuldet Ihr den
Namen, den Ihr ald Eure edelfte Mitgift hinaus
nehmt in das Xeben, mir feid Ihr dafür verant-
wortlih. Erhaltet ihn rein, er ift der meine!
Gebt mir die Hand darauf!«
Helene that es fchweigend. Erich aber ftand
auf und feine Rechte in die des Vaters legend,
fagte er: »Ich fehwöre Dir, den Namen rein
360
zu erhalten, der mein Stolz ift und den ih Dir
ald mein hoͤchſtes Gut verdanke! Ich fehmäre
Dir's!«
»So werden Deine Kinder einſt Dich ſeg⸗
nen, wie Dein Dank mich ſegnet!« entgegnete der
Baron mit hoch erhobenem Haupte, umarmte
feine Kinder nochmals, und hatte fie freigeſpro⸗
hen zur WBanderfchaft in das Leben.
Zwanzigites Kapitel.
Während in folcher Weife das Schidfal feis
ner Geliebten und feines Freundes einen Wende⸗
punkt erreichte, hatte Friedrich eifrig darnach ge-
firebt, ein neues Ziel für fich zu gewinnen, und
der Umgang mit dem Doctor fchien ihm dafür
förderlich zu werden. Er hatte eined Tages
mit Friedrich plöglich. ohne alle Vorbereitung
über deſſen gefcheiterte Liebeshoffnungen gefpro-
«hen, um ihm auf feine Weiſe zu Hülfe zu kommen.
»Die meiften Menfchen,« hatte er ihm gefagt,
»find wie Kinder, fie wollen vergeilen, was ih—
nen unangenehm ift, und fie bedenken dabei nicht,
daß fie keine Errinerung verlieren können, ohne
23*
362
an ihrem eigenen Werthe einzubüßen, denn was
ift der Menfch anders, als das Reſultat feiner
Erfahrungen? Seine Leiden und feine Freuden
find ein Theil feines Weſens. Wer vergeflen,
wer die, Erinnerung an feine Schmerzen von
fih werfen will, ift ein thoͤrichter Verſchwender!«
„Aber das Leben hat der Schmerzen viel.
Die Laft muß fchwer werden, wenn man fie be-
ftändig mit fich trägt!« wendete ber Jüngling ein.
»Wer fordet das, mein Freund? Traͤgt denn
der Reiche fein Vermögen beftändig in der Taſche?
Wie der Erwerbende feine Capitalien zurüdlegt
und fie aufzeichnet in ficherem Regifter, während
er von ihren Zinſen lebt, fo follen wir unfere
Erfahrung fefthalten und zurüdlegen, ihre Leh—
ren und nubbar machen, und durch fie zu
neuen Erfahrungen zu gelangen fuchen. Ein per-
fönlicher Wunſch ift Ihnen fehlgeichlagen, Sie
hegen augenblidlich Feinen anderen, aber e& giebt
viel Wünfchenswerthes in der Welt, viel Erftre-
benswerthes und Nothwendiged für die Allge-
meinheit. Haben Sie Nichts zu erringen für
fi) felbft, fo helfen Sie den Anderen und machen
363
— — ——
e allgemeine Zwecke zu den Ihrigen! Arbeit
amt Ihnen Ihre Erinnerungen nicht, aber
legt ſie zuruͤck und macht ſie fruchtbar. —
beiten Sie!«
Er ſetzte ihm dann auseinander, wie ſeine
herigen Studien ihn im Ganzen dem Leben
)der Gegenwart entfremdet hätten, wie alle
ehrten Unterfuhungen nicht Selbſtzweck, ſon⸗
n nur Mittel zum Zwede wären, und wie
Kenntniß der Vergangenheit an fi voll-
ımen werthlos bleibe, wenn fie nicht für die
genwart und Zukunft nutzbar gemacht werde.
ſtellte die politifchen Ereigniffe in Frankreich
Revolutionen der Vorzeit gegenüber, und
te in Friedrich die Neigung zu biftorifchen
» philologifchen Studien zu erweden, während
feine Theilnahme zugleich auf die ftaatlichen
twidlungen der Gegenwart Ienfte.
Indeß fo fehr diefe Forfchungen und Ereig-
e ihn auch zu fefleln begannen, fo blieb der
danke an Helene doch übermädhtig in ihm.
ıchte er fih noch fo tief verfenken in das
idium alter Gefchichte und ihrer Jahreszah—
366
Mutter machten feinen Eindrud auf ihn, und
mit der Todesmaͤttigkeit des gehetzten Hirſches
brach er zuſammen vor dem unentfliehbaren Feinde,
vor jenem uͤbermaͤchtigen Schmerz, den nur tiefe,
ſtarke Naturen in ſich zu erzeugen vermoͤgen.
Er konnte ſeinen Zuſtand nicht verbergen und |
ging nad) feiner Wohnung. Es war neun Uhr.
Als die Wirthin ihm das Licht auf fein Zimmer
brachte, gab fie ihm einen Brief, der für ihn
vor zwei Stunden angefommen war. Er erfannte
Helenens Handfchrift. Mit bebender Haft riß er
das Eouvert auf. Der Brief lautete:
»Und gälte es meiner Seele Seligkeit, ich
muß es fagen, Einem muß ich es fagen, wie
elend ich bin, und der Eine bift Du!«
»Ich wußte nicht was ich that, ich Fannte
mich felbft, ich Fannte das Elend nicht, als ich
verfprach, Dich zu vergeflen, als ich verfprach, das
Meib eines Mannes zu werden, der mir fremd
ift, fremd bis tief in das innerfte Herz!«
»Weißt Du was das heißt, dad Weib eines
Manned werden, den man nicht liebt? — Kein
Mann, aud Du nicht, Fannft dies Entfeben ver-
365
— . .. » —
ermaͤhlten ein großer Ball im Hauſe
rn ſtattfinden werde.
der Abend herankam, litt ed Friedrich
feinen Büchern, nicht in feinem Zimmer.
e nicht allein bleiben. In feiner Qual
u Larfieny er war fchon zum Balle ge:
Er fuchte den Doctor auf und fand ihn
, ſich für denfelben Ball anzukleiden.
en Helene wieder fehen, ihm allein, ihm,
plöglich nach ihrem Anblid fchmachtete,
er leidenfchaftlicher nach ihr verlangte,
die Stunde rüdte, in der fie ihm für
ntzogen werden follte, ihm allein war
id verfagt. Eine aufreibende Unrube,
beflemmende Angft kamen über ihn. Er
ht, was er thun follte und wollte doch
tmas thun, um diefer Angſt, um feinen
ı und Schmerzen zu entfliehen. Zerftreut
yirrt langte er bei feinen Eltern an, ohne
igentlich vorgehabt hatte, fie zu befuchen.
ter hatte vor einigen Tagen einen Rüd-
en und lag. ſchwer darnieder. Aber felbft
ı Keiden des Kranken, die Klagen der
3666
Mutter machten keinen Eindruck auf ihn, und
mit der Todesmattigkeit des gehetzten Hirſches
brach er zuſammen vor dem unentfliehbaren Feinde,
vor jenem uͤbermaͤchtigen Schmerz, den nur tiefe,
ſtarke Naturen in ſich zu erzeugen vermoͤgen.
Er konnte ſeinen Zuſtand nicht verbergen und |
ging nach feiner Wohnung. Es war neun Uhr.
As die Wirthin ihm das Licht auf fein Zimmer
brachte, gab fie ihm einen Brief, der für ihn
vor zwei Stunden angefommen war. Er erfannte
Helenens Handichrift. Mit bebender Haft riß er
dad Couvert auf. Der Brief lautete:
»Und gälte es meiner Seele Seligkeit, ich
muß es fagen, Einem muß ich ed fagen, wie
elend ich bin, und der Eine bift Du!«
»Ich wußte nicht was ich that, ich Fannte
mich felbft, ich Fannte das Elend nicht, als ich
verfprach, Dich zu vergeflen, als ich verfprach, das
Meib eined Mannes zu werden, der mir fremd
ift, fremd bis tief in das innerfte Herz!«
»Weißt Du mas das heißt, das Weib eines
Mannes werden, den man nicht liebt? — Kein
Mann, audh Du nicht, Fannft dies Entieben ver:
LT
367
'e Qualen, diefe Selbftverachtung, diefe
j alles Heiligften im Weibe!«
zdeal wollte ich bleiben, es follte mich
r als reined Bild der Liebe, der Ent:
zufchweben — und ich bin mir felbft
jeworden!«
b mir! vergieb mir! ich wußte nidht,
it!« —
llte die Ehre unſeres Namens aufrecht
h habe gelobt, die wahre Ehre heilig
n, meinem Vater habe ich es gelobt,
e der Weltmenſchen verachtet. — Und
r Weltehre zu genügen, mich und meine
mit nie zu verlöfchender Schmach be-
Yahin hat mich der Wille meiner El—
hat meine Schwäche mich gebradht!« —
»hlte der Muth, Dein muͤhevolles Le—
ilen, ich verfehmähte die reine Ruhe
Herzen aus elender Feigheit. Jetzt
1e, ewige Reue eingetaufht um Glanz
Dich und mid), Dein Leben und das
ich zerftört. Ich verachte mich felbft
368
und Du wirft mich verachten, verachten was Du
einft geliebt haft!«
»Es ift gefchehen! es ift Alles zu Ende — ‚
Der Brief brach plöglic ab. Friedrich fant-
mit einem Schrei der Verzweiflung auf fein 2a
ger nieder. Aber ſchon im naͤchſten Augenblide
raffte er fi auf und flürzte auf Die Straße, dem
Heidenbrud’fhen Haufe zu.
Als er ed erreichte, fchallte ihm Muſik entge:
gen aus den hellerleuchteten Fenſtern. Es waren
tie Töne eined Walzerö, nach denen er oftmals Ä
mit Helene getanzt hatte. Wie brennende Dold:
ftihe bohrten fie fich in fein Gehirn. An den.
Vorhaͤngen ſchwebten die Schatten der Tanzen
den vorüber, Helene mochte unter ihnen fein.
Bor der Thuͤre hielten die Equipagen der Gäfte.
Er ftand ftille und fah fie in ftumpfem Hinbrü-
ten an, fo daß er vor fich felbft erfchraf und den
Platz verließ.
Und doch zog esihn in ihre Nähe. Er wollte
das Haus betreten, in dem fie jet zum letzten
Male weilte. Er wollte fie fehen um jeden
Preis.
. —e
Haus lag mit ſeiner Ruͤckſeite in einem
der ſich bis zu dem großen Teiche
‚ welcher die Stadt durchſchneidet und
n Privat- und Öffentlichen Gärten ums
ft. Nach einem der Lebteren wendete
Schritte, eilte an das Ufer hinab, nahm
t und ruderte über das Waſſer.
Himmel war dunkel, die Nacht warm,
ne fehimmerten aus dem Xeiche wieder,
er fiel kuͤhltropfend von den fchlanten Ru-
b. Die tiefe Stille, die Einfamteit, das
sirkten beruhigend auf ihn ein. Es war
; fei der legte Kampf vorüber und bie
:mattung ded Todesſchlafs ihm nahe.
das herabfinfende Ruder die dunkle
rtheilte, fo oft 309 es. ihn, fich in ihre
e zu verfenten, aber er hatte noch einen
einen Zweck — er mußte Helene jehen.
08 legte er dad Boot an der Xreppe
zu dem Garten ihres Haufes führte.
ne Gitter, das fie fchloß, war leicht über-
Fr fchritt die dunkle Allee empor, an de=
e der Lichtglan; der Fefterleuchtung
gen. 1. 24
370
fchimmerte. Jetzt war er am Ziele — und doch
wie fern von ihr.
Was hatte er denn gewollt? Sollte er: ſie
rufen laflen? Plöglich hineintreten? — Er lachte
über ſich felbft mit bitterm Spotte, er ſchalt fich
thöricht, finnlos, und ‚vermochte doch nicht von
der Stätte zu weichen. Bald ftand er ftil und
ſah nach den Fenftern hinauf, bald feßte er ſich
nieder, um fo ängftlich auf das Fallen eines
Blattes zu horchen, als erwarte er die Erſehnte.
— Aber das Blatt lag am Boden, die Luft
ſaͤuſelte leiſe durch die Zweige und Alles blieb
ſtill, und er war einſam wie zuvor.
Endlich erhob er ſich und ging dem Hauſe zu.
Als er aus der großen Hauptallee in eine der vier
Lauben bog, die im altfranzoͤſiſchen Geſchmacke aus
glattgeſchornen Hainbuchen gebildet waren, glaubte
er Schritte zu hoͤren. Er wich zuruͤck in den
Schatten. Die Schritte naͤherten ſich. Ein Licht⸗
ſtrahl aus dem Hauſe fiel auf ein helles Gewand,
eine leichte Figur trat in den Eingang der Laube.
»Helene!« rief Friedrich mit unterdruͤck⸗
ter Stimme, und beide Arme wie zum Dank—⸗
371
bet im Gefühle der Rettung erhebend, ftürzte
ihm entgegen und warf fich an feine Bruſt.
te fie bieher gekommen, wie fie fich gefunden,
ewußten, fie fragten e8 fich nicht. Jener dunkle
rieb hatte fie geleitet, der in entfcheidenden
ugenbliden oft fo maͤchtig in uns wirft.
Er preßte fie an fich, fie bing fi an ihn,
[8 wollte fie ihn nimmer laflen. Das war nicht
iehr die zagende Jungfrau. Es war ein Weib
ı feiner vollen Zeidenfchaft, in einer Xeidenfchaft,
ie der Juͤngling nicht gekannt hatte, und vor
er er erbebte.
»Und Du verachteft mich nicht?« fragte fie ihn.
Nur feine Küffe antworteten ihr.
»Kannft Du mich noch lieben?« fragte fie
vieder.
»Ich bete Dich an!«
»So laß uns feheiden!« rief fie, und wollte
ih feinem Arme entwinden, aber Friedrich hielt
ie feft.
»Ich muß fort!« flehte fie, und fchmiegte ſich
oh an ihn, »laß mich, Friedrich! ich muß fort!«
Aber er zog fie nur angftvoller an fein Herz.
24*
372
Da hörten fie ein Geräufch dicht neben fih. S
fuhren erfchredend empor.
»So fei Gott und gnädig!« rief Friebri
und brüdte einen letzten Kuß auf ihre Li
pen. Sie riß fih von ihm los — der Dock
ftand vor ihnen. Er hatte Helene in den Gartı
gehen fehen, und Sorge um fie hatte ihn getriebe
ihr zu folgen, ald man ihre Entfernung bemerkt
»Kommen Sie, Helene!« fagte er mit milde:
Tone, »der Graf vermißt Sie!«
Er nahm ihren Arm, drüdte Friedrich d
Hand, und führte die Gräfin in das Haus zuruͤ
Zwoͤlf Stunden fpäter fuhr ein eleganter R
fewagen dem Thore zu, dad gegen Süden fuͤh
Eine bleiche junge Frau lehnte thraͤnenmuͤd
den Kiffen an der Seite eines Mannes.
der Chauſſee fahen fie einen Juͤngling einfan
ner Straße geben. Als der Wagen fid
näherte, wendete er den Kopf, feine Blid
gen an der Gräfin, ihre kaum verfiegten
nen firömten wieder hervor, und fie v
das Gefiht. Der Wagen flog an ihm ı
373
»Kannteft Du den Menichen?« fragte ber
Graf gleihmüthig.
Die Gräfin antwortete nicht und er forfchte
nicht weiter. Er ließ fie ruhig weinen, denn er
hatte es oft erfahren, wie leicht die Jugend es
überwindet, von der Deimath zu fcheiden.
Einundzwanzigſtes Kapitel.
Wenn das wilde Feuer ausgetobt hat, wenn
die praſſelnden Flammen erloſchen ſind, deren
Gluthen in ſturmgefachter Eile die Habe eines
Menſchen verſchlangen, wenn Angſt und Hoff-
nung, wenn die Moͤglichkeit der Huͤlfe und die
durch ſie wach erhaltene Anſpannung der Seelen⸗
kraͤfte voruͤber ſind, dann iſt die Stille, welche
dem Werke der Zerſtoͤrung folgt, noch grauen⸗
voller, noch herzzerreißender als felbft der Vernich⸗
tungskampf. Alles, was der Menfch befeflen hat,
ift dahin. Was er geliebt, was er gejchaffen und
gepflegt, die Stätte feiner Ruh, feiner Arbeit
find nicht mehr. Kalte, graue Afche, zerbrödelnde
375
Trümmer liegen vor ihm, und er kommt fich fpuf-
haft vor, weil er dasjenige überdauerte, was er fich
gewöhnt hatte, als zu fich gehörend zu denken,
als fein Eigenfied zu empfinden. Noch vor we-
nig Stunden wäre er ſich beflagenöwerth erfchie-
nen, hätte man ihm die Hälfte feines Beſitzes
geraubt — und wie reich würde er fich duͤnken,
fände er jebt unter den Truͤmmern nur dad Ge-
tingfte wieder! Wie ängftlich fucht er, irgend ein
Etwas zu entdeden, dad er hinüber tragen könnte
in Die neue, ach, fo leere, arme Zukunft. !
Friedrich fühlte fich wie vor folcher Stätte der Zer⸗
ftörung. Die Geliebte war ihm entriffen, entriffen
in der furdhtbarften Weife, von Selbftverachtung
bedroht, hinausgefchleudert in eine ihm fremde
Melt, die ihm jest feindlicher und verberbensvoller
Duͤnkte, als je zuvor. Erich hatte die Stadt verlaffen,
Und fich felbft glaubte Friedrich ‚verloren zu haben.
Er kannte fi) nicht wieder. Ein wil-
ded , verzehrendes Verlangen brannte in fei-
nen Sinnen. Er begehrte nach Helenens Be:
fit, nad dem Weibe eines Andern, und fie
felbft, die er wie eine Heilige geliebt in reiner
376
Anbetung , hatte dieſe Gluth in feine Sinne,
den verbrecherifhen Wunſch in feine Seele ge-
fhleudert. Wie hätte er es ihr gedankt, waͤre
fie ihm unnahbar geblieben, das leuchtende Ideal
ſeines Lebens! Und doch liebte er fie mehr als
jemalö, denn fie war ihm menſchlich näher getre⸗
ten, fie war ihm wnauflöslich verbunden durch
dad Verbrechen geiftigen Ehebruchs, deſſen Schwere
der gewiſſensſtrenge Süngling doppelt tief em-
pfand. Brütend über feinem Schmerz, über
einer Schuld, die er ſich nicht weg zu läugnen
wußte und deren Unfreiwilligkeit anzuertennen er
fih firaubte, zog er fich in fich felbft zuräd,
um aus ben Zrümmern feiner Vergangenheit
fich eine rettende Stüße zu fuchen.
Er vermied ed, den Doctor zu fehen, oder
Larffen und Georg zu begegnen. Er fcheute den
Erftern, und fürchtete Helenend Namen von den
Anderen zu hören... In ſolchen Krifen, in denen
der Menſch irre wird an fich und feinem eigenen
Werthe, treten die natürlichen Verhältniffe und
Gefühle ald unfere Errstter auf. Dad Bewußt-
fein, daß fein Leben feinen Eltern theuer, daß
377
ihnen nothwendig, und ihre Liebe auch dem
rirrten unverloren fei, hielt ihn aufrecht. Der
bante, Pflichten gegen fie zu haben, gab ihm
th und Faſſung. Sich zur Pflichterfüllung
eben, heißt ſich das Anker bereiten, das uns
Sturm der 2eidenfchaften vor dem Unterge:
bewahrt.
Als wichen die Dämonen von ihm, fo erleichtert
(te der Sohn ſich in der Nähe feiner Eltern.
: Trennung, welde die WBerfchiedenheit ihrer
ldung zwilchen en aufgethan hatte, ward
t durch das gegenfeitige Beduͤrfniß, Liebe zu
fangen und zu gewähren, auögefüllt: und die
ner bedenflicher werdende Krankheit des Va⸗
; erflärte den Eltern die faft unausgeſetzte
mwefenheit des Sohnes an dem Schmerzendla-
bed Greifes.
Obſchon der Doctor nicht ohne Hoffnung für
e Herftellung war, glaubte der Meifter felbft
en Tod nahe und fah ihm ruhig entgegen.
it er es aufgegeben hatte, an die Ruͤckkehr zur
yeit zu denken, war ed, als ob er fih zum
en Male Ruhe günnte, ald ob er dieſe ge-
378
zrwungene .Ruhe genieße. Es war ein Behagen
über feine Züge auögebreitet, wie ed der Arbei-
ter in der wohlverdienten Raft des Feierabends
empfindet, und mit Freude fah er den Sohn oder
den Doctor an feinem Bette verweilen, fich in
langen Unterhaltungen mit ihnen zu ergehen.
In des Vaters Krankenftube hatte der Doc⸗
tor Friedrih zum erſten Male nah dem Ab⸗
ſchiede von der Gräfin wiedergefehen, und war
betroffen worden durch das veränderte Aeußere
de8 jungen Manned. SeingStirne war bleicher
geworden, ein fehwermüthiger Ernft hatte fich
um Mund und Augen gelagert, wenige Tage
ihn um Sahre reifer und älter werben laffen.
Als der Doctor fich entfernte, nöthigte er
Friedrich ihn zu begleiten, und fragte ihn, wes⸗
halb er ihn fo lange vermieden habe?
»Sie wiſſen ed!« antwortete ihm derfelbe.
»Anderen unfere Gefellfchaft aufzudringen, wenn
wir und felbft zur Laſt find, ift fo Demüthigend!«
»Im Gegentheile, lieber Freund! Es liegt
ein großer Egoidmus darin, feine Schmerzen
allein tragen zu wollen aus falfchem. Hochmuth.
379
Ber die rechte Liebe zu den Menichen, das rechte
3ertrauen zur Gutartigkeit ihrer Natur hat, dem
jiderfirebt es nicht, fich mitzutheilen und Mitge-
ihl zu fordern,« fagte der Doctor. »Zu dem
Spruche ihres Heilandes: Was Du nicht willſt,
ad Dir die Anderen thun, dad thue ihnen aud
icht, gehörte von Rechtd wegen der Nachſatz: und
08 Du Dich fähig hältft den Anderen zu leiften,
ad fordere von ihnen und nimm von ihnen
hne Rüdhalt und Bedenken an!«
»Ich würde das auch thun — aber Sie kön:
im mir nicht helfen!«
»&8 Fame darauf an!« meinte der Doctor.
»Ich bin mit mir zerfallen!. fagte Friedrich
epreßt. »Der Boden, auf dem ich fland, hat un-
er mir gewankt. Die Elemente meines bis-
erigen Lebens und Glaubens beginnen aufge-
ft und haltlos um mich herum zu wirbeln.
Bas ich ald Verbrechen tadeln müßte, fühle ich
ls unfreiwillige Schuld, ald ein Werk des Zu:
3, eines Zufalls, vor dem id) irre werde an
r Vorſehung. Wohin aber fommen wir, wenn
380
wir unfere Handlungen nicht mehr ald freies
Thun erfennen?«
»Zunaͤchſt zu der Frage: was ift Schuld?«
erlärte der Doctor, »und nah ihr zu dem
Schluffe, daß dasjenige, was wir bei ernfter Prü-
fung nicht als Schuld empfinden, feine Schuld
für ung iſt.«
»Aber ed giebt eine pofitive Schuld, eine po⸗
fitive Sünde!« behauptete Friedrich.
»Pofitiv ?« wiederholte der Doctor. »Vie—
lee, was man Schuld, Sünde, Verbre⸗
chen nennt, ift ein Widerfprud gegen die Ord⸗
nung der Dinge, welche eine auf falfchen Grund-
fäßen fußende Weltanfchauung erzeugt bat, und
welche die Ausgeburten diefer falfchen Weltan-
ſchauung, die richtende Kirche und der abfolute
Staat, zu ihrer eigenen Erhaltung fortdauernd
als Verbrechen darzuftellen fich gezwungen fehen.«
»Das Gewiflen des Menfchen flimmt ihnen
aber beil« wendete der Juͤngling ihm ein.
»Weil die Erziehung die Gewiſſen nach vie-
len Seiten hina bfichtlich mit falfchen Grundfägen
mißleitet hat. Es ift bequemer, das Gewiflen der
381
Menfchen über ihr angeborned Recht zu vermwir-
ren, ald den Staat und feine falfchen Einrichtun-
gen fo zu entwirren, Daß das angeborne Recht
des Menfchen in ihm feine Geltung findet!«
Der junge Mann antwortete ihm nicht. Der
Doctor fand das in der Ordnung. Er fchritt ru⸗
big neben ihm ber. Erft als fie auf den Punkt ge-
kommen waren, auf dem ihre Wege fich trennten,
lagte er: »Das Eine übrigens halten Sie feft,
en Schwerbeladener kann ſich und Anderen Nichts
näben. Wollen Sie wirken, fo ftreben Sie nad)
jener Erkenntniß, die den Menfchen einfest in fein
Recht und ihm das ewige Schuldbewußtfein eines
gegen unvernünftige Geſetze fich empörenden Skla⸗
ven nimmt. Kein Sklave, kein Schuldbewußter
bat je Großes geleiftet — und Chriftus, duͤnkt
mich, nahm alle Schuld der Menfchheit nur da⸗
rum über fich, damit fie fich frei fühle, fich zu
Thaten aufzurichten !«
Diefe legten Worte überrafchten Friedrich. Sie
leuchteten ihm ein, weil fie feinem Bebürfniffe
entgegenkamen. Man könnte den Menfchen meift
Vie Wahrheit fchnell und ficher zugänglich machen,
382
‚wüßte man ſtets den Augenblid zu finden, in
dem fie auf diefelbe durch eine innere Nothwen⸗
digfeit hingewiefen werden. Zum erften Male fchraf
der Juͤngling nicht vor den ffeptifchen Anfichten:
des Doctors zurüd, fondern begann weiter auszu⸗
denken und in ſich zu entwideln, was Sener in
ihm angeregt hatte. Zum erften Male gab er
es fich zu, daß neben: der orthodor= dogmatifchen
Auffaflung des Chriftenthbumes eine andere Deu-
tung, eine menſchlich fombolifche zuläffig fein
tönne, ja Daß gerade diefe unter Berhältniffen
höheren Troſt, größere Ermuthigung zu geben
vermöge, ald jene. Es dämmerte in ihm auf,
daß ed Erhebung und nicht Zerknirſchung fei,
was eine erlöfende Religion dem Menfchen bie-
ten müffe, um fruchtbar zu werben. Er hatte
bisher fich audfchlieglich die Studien und For-
fhungen Anderer auf dem Gebiete der Xheologie
zu eigen zu machen geftrebt, jetzt kam ihm ber
Gedanke der Selbftprüfung und der Quellen-
ſtudien.
Mit neuem Eifer wendete er fi) dem He⸗—
bräifchen und den alten Sprachen zu, und Die
383
— — —
erſuchungen über die Gnoſtiker brachten ihn
Alterthume, den alten Philofophen näher.
- Genußfreudigkeit, der Schönheitsfinn der
echen erquicdten ihn. Sie machten ihn begierig,
Kunft verfiehen zu lernen, in ber die ganze
ensfuͤlle jener Zeit und jenes Volkes zur Blüthe
ymmen war, und die geiftligen Elemente ber:
zufinden, an welche fpäter ſich als ihre Fort:
vidlung Das Chriſtenthum anſchloß. Aber
t dem Gedanken an eine ſolche Folgerechtig⸗
t der Erkenntniß war er im Grunde ſchon der
suptlehre ded Chriftenthums, der Lehre von der
ttlichen Offenbarung, zu nahe getreten, ohne
5 er fich deſſen bewußt ward, und er wäre
Neicht fchnell auf dem begonnenen Wege fort:
hritten, hätte nicht die wachſende Beforgniß
ı Seinen Vater ihn mehr und mehr beanfprucht
d feine Studien unterbrochen.
Denn des Meifterd Empfinden hatte ihn nicht
aufcht, fein Leben näherte fi) dem Ende, und
felbft war es, der die troftlofe Frau mit dem
danfen an ihre Vereinfamung auszufühnen
'bte. j
384
Eines Abends, ald Mutter und Sohn an fei-
nem Lager faßen, hatte der Vater Fieber gehabt,
und in der beängftigenden Unruhe deffelben bald
diefes, bald jenes gefordert, fich heftig beflagend,
daß man ed ihm nicht recht zu machen wifle.
Dann war er eingefchlafen, und ruhiger erwacht,
fah er die Seinen freundlidy an und fagte: »Wie
ih fo einfchlief, war mir's ordentlich lieb, daß
ih Euch nicht mehr zu quälen brauchte. Du,
Mutter, wirft es brauchen koͤnnen, daß ich Dich
in Rube laffe!«
»Menn Du nur erft gefund wärft!« ſeufzte
die Meifterin, putzte dad Licht, um an der
dunklen wollenen Sade fortzuftriden, die ihn warm
halten follte, wenn er aufftand, und fügte hinzu:
»Das Licht brennt auch fo elend, ed will mit
meinen Augen nicht mehr fort. Vor'm Jahre
hatte ich noch Regine, wenn mir eine Mafche
hinfiel. Nun muß ich fehen, wie ich mit ber
Brille fertig werde!«
»Ich habe oft an die Regine gedacht,« fagte
der Meifter, »wenn ich fo ftil lag dieſe letzten
Tage. Es ift fehade, daß fie fort find. Ihr hät:
385
tet zufammenziehen können, das wäre billig ge-
wein, und der Alte war gut zu leiden, man
fonnte gut durchfommen mit ihm.«
»Er ift auch viel krank geweſen, fchrieb er
ia zulekt dem Fritz!«
»Um fo beffer koͤnnt' er Dich gebrauchen, denn
Dir wirb’8 fehlen, wenn Di Niemand pladt,
wie ich.«
»Du wirft noch fo lange vom Sterben reden,«
fagte die Mutter, »bis —«
»Bis ich fterbe!« fiel ihr der Water in’s
Wort. »Aber fo feid ihr Weiber! Vom Win-
ter, der fommen fol, und von Allem, was noth
ift für den Winter, da koͤnnt ihr den ganzen
Sommer reden und euch darum forgen und Ei-
nen darum plagen, und vom Tode, der ebenfo
gewiß kommt und der feine Sorgen hat fo gut
wie der Winter, davon mögt ihr Nichts hören,
wenn er noch fo Dicht vor eurer Thuͤr fißt. Und
der Tod geht nicht vorbei wie fo ein Winter.«
Die Mutter war aufgeflanden und hinausge-
gangen, fich in der Küche auszumeinen. Der Mei:
fter fah ihr nad und fagte dann zu Friedrich:
Bandlungen I. 25
886
»Wenn ich's ihr nicht vorhalte von früh bis ſpaͤt,
fo ift nachher Fein Ausfommen mit ihr. Du
wirft fie aber nicht verlaflen!«
Friedrich reichte ihm die Hand und bat, er
möge fih für den Fall feined Todes um ber
Mutter Schickſal Feine Sorge machen.
»Ich thue ed auch nicht, aber ich weiß doch
nicht, wie es werben fol. Nähen Bann fie nicht mehr
viel, auf Arbeit gehen und ſich heut da, morgen
dort von Fremden chifaniren laſſen — das würd’
ihr hart anfommen!« —
»Es fol ihr an Nichts fehlen, Water! ver:
laffen Sie ſich darauf,« verficherte der Sohn.
»Nichts fehlen? Arbeit muß fie doch finden,
was fol fie denn fonft? Sol fie fißen und ſich
drum haben, daß ich tobt bin? Sie muß es
doch verarbeiten und vergeffen, wenn fie auch
denkt, daß man fich wiederfieht!«
»Und glauben Sie das nicht?« fragte Friedrich.
»Narr!« antwortete der Alte, und zudte mit
den Achfeln.
»Sie glauben nicht < an die Unfterblichkeit un-
ferer Seele, Bater?« wiederholte Friedrih im
Tone eines ſchmerzlichen Erfchredend, „nicht an
unfere Fortdauer nach dem Tode ?«
»Fritz!« fagte Der Meifter, und verfuchte ſich muͤh⸗
am aufzurichten, »fpiel nicht Comoͤdie mit mir,
wie die Pfaffen auf der Kanzel Dazu hab’ ich Dich
nicht fludiren laflen, daß Du es machſt wie fie!«
»So wahr Gott lebt, ich glaube an unfere
Unfterblichkeit!«
»Schlimm genug für Dich!« meinte der Alte,
und legte ſich auf die Seite zurüd, dad Geficht
gegen die Wand gewendet.
Friedrich war bis in dad Innerfte erfchüttert.
Was in ihm ald heilige Ueberzeugung lebte, was
ihm eine Richtfehnur, eine Stüße gewelen war
im Leben, was ihn trüftete am ÖSterbebette fei-
ned Vaters, von diefem mit kaltem Spotte ver-
worfen zu fehen, gerade jebt, wo der Greid vom
Leben fcheiden, und die Hoffnung auf ein Wie:
derfehen im Jenſeits die ficher verbindende Brüde
zwijchen den Lebenden und Todten bilden follte,
zerriß ihm das Herz. Es zog ihn, feinen gan
zen Glauben audzufprechen, aber der Doctor hatte
ed verboten, den Kranken irgend wie aufzuregen,
388
und Friedrich mußte alles in fich gewaltfam zuruͤck⸗
drängen, was ihn bewegte und beängftigte.
Der Meifter lag ruhig da, ald die Mutter
wieder Fam. Sie brachte die Wafferfuppe, welche
fein und der Seinen Abendbrod ausmadıte. Als
fie gegeflen hatten und das Geräth fortgeräumt
war, meinte die Mutter, Friedrich koͤnne ihnen
wohl einmal Etwas aus dem Gefangbuche vor-
lefen, wie er es in früheren Jahren oft gethan.
Er lehnte. es ab, aber der Vater felbft fagte ihm:
»Ja! Lied Doch, Friß!«
Er hörte den on der Gleichgültigkeit in
den Worten, mochte aber nicht widerfprechen.
»Was ſoll ich lefen?« fragte er.
»Laß die Mutter ausfuchen!«
Sie nahm das Buch, blätterte, wählte ein
- Auferftehungslied und legte ed dann vor Frie-
drich nieder. Er hatte es ihr ald Kind oftmals
vorlefen müffen, ed war von je ihr Lieblingslieb
gewefen und aud das feinige geworden. Es
hatte der fterbenden Frau Reyne Erhebung ge
währt, und noch in ihren legten Augenbliden hatte
N
389
fie es leife vor ſich hingefprochen. So bewegte
ihn auch jeßt wieder dad alte Klopftod’fche
Gedicht:
Auferſtehn, ja auferſtehn wirſt du
Mein Staub nach kurzer Ruh';
Unſterblich Leben
Wird, der Dich ſchuf, Dir geben! Halleluja!
Aufzublühn werd' ich geſaͤet.
Der Herr der Ernte geht
Und ſammelt Garben
Uns ein, uns ein, die ſtarben. Halleluja!
Tag des Danke, der Freudenthraͤnen Tag
Du meines Gottes Tag!
Wenn id im Grabe
Genug geſchlummert habe,
Erweckſt Du mid! Halleluja!
Mie den Träumenden wird’s dann une fein.
Mit Jeſu gehn wir ein
Su feinen Freuden;
Der müden Pilger Leiden
Sind dann nit mehr. Halleluja !
Ad, in’s Allerheiligite
Führt mich mein Mittler,
Dann leb' ih im Heiligthume
Zu feines Namens Ruhme. Halleluja!
Aber je weiter er lad, je mehr ihn der Gedanke
ergriff, dieſen Auferftehungstroft am Sterbebette
390
feines Vaters zu fprehen, um fo marternder
ward ihm das Bemwußtfein, daß fein Vater fei-
nen Troſt in dieſem Liebe finde, daß er gering-
ſchaͤtzend auf ihn und die Mutter herabfehe, die
daraus Beruhigung fehöpften, daß er ihnen bie
Erbauung gönnte, wie man dem Kinde die Luft
an feinen Spielen gönnt, welche ihren Werth für
und verloren haben. Es fchnürte ihm den Hals
zu, er hätte weinen können, wäre fein Empfin-
den nicht zu mächtig gewefen für die Thraͤne.
Die Mutter aber. weinte ftil vor fich hin, und
der Meifter lag ruhig da und ganz unbewegt.
Als das Lied beendet war, ftand Friedrich auf,
und bot den Eltern gute Nacht, er mußte mit
fih allein fein. Jene geheimnißvollen Fragen,
vor denen der Glaube fich befcheidet, und die er
fi) gewöhnt hatte, ald durch die Offenbarung
gelöft zu betrachten, drängten fich ihm mit AU-
gewalt auf. Der fcharfe prüfende Verſtand des
Doctord, des Vaters fehlichter Sinn verwar:
fen den Glauben, fie hatten Beide gezweifelt,
Beide den Zweifel überwunden, ohne zum Glau⸗
ben zurüdzufehren, und Beide waren ruhig in
u
391
gefaßte Männer, jeder in feiner Art. Barum
uderte ihn denn, dieſen Glauben aufzugeben ?
rum mochte er dem Zweifel nicht in's Auge
n? Er konnte es fich nicht verbergen, ihm
te der Muth dazu, ihm fehlte die Feſtigkeit,
che ohne alle Stuͤtze in fich felbft zu beruhen
nag. Er fah ed ein, daß der Glaube eine
rlaͤßliche Stübe für den Schwachen fei, er
te gewünfcht, ihn entbehren zu koͤnnen, aber
tonnte ed nicht. Er fühlte fich gebrungen
: dem Empfinden feft zu halten, was fein Ver⸗
ıd zu bezweifeln begonnen hatte.
Fruͤh am andern Morgen war fein erfter
ng fich nach dem Vater zu erkundigen. Es
r ein Sonntag. Die Gloden läuteten zur
sche, die Straße war feiertäglih ftil. Ein
red Herbftimorgenliht ſchien in die Senfter
ein, die Mutter hatte das Zimmer aufgeräumt,
gut ed geben wollte, und der Meifter, der
e unruhige Nacht gehabt, hatte fi am Mor-
; umbetten lafien. Darnad hatte er Ruhe
unden und ein Paar Stunden gefchlafen.
Als Friedrich eintrat, erwiederte er auf deſſen
392
Frage um fein Befinden, es gehe ihm beffer als
feit langer Zeit. »Mir thut Nichts weh!« fagte
er, »und fo ift der Menſch! nun ich Woch' über
Nichts mehr arbeite, will ich doch noch meinen
Sonntag haben. Ich hab mich wachen und rein
anziehen laffen, und wenn Du bier bleiben kannſt,
fol die Mutter in die Kirche gehen. Sie hat
all/die Zeit darnach gejammert !«
Der Sohn erklärte fich bereit, deö Vaters zu
warten. Die Mutter ließ fich nöthigen, feßte aber
endlich doch die gute Haube auf, nahm ihr gu-
ted Tuch um, widelte das Taſchentuch um das ab-
gegriffene Gefangbuch ımd machte fich auf den Weg.
»Bleib’ nur ruhig bis zum Aufbieten und
Abdanken,« rief der Vater ihr nach, »ich brauche
Dich nicht !« Denn zu wiffen, wer fich verheirathete,
wer Frank und des Gebete bebürftig fei, hatt
immer zu ben fpärlichen Genüffen der Meifteri
gehört.
Als fie fortgegangen war und der Meift
fi mit dem Sohne allein fand, fagte er: »S
hab’ fie fortgefchicdt, denn ih muß mit Dir
den, Fritz! heut geht's mit mir zu Endel«
393
» fehr er darauf gefaßt fein mußte, ers
: der Sohn vor diefem Ausfpruch, und fich
roͤſtend, erinnerte er den Vater daran, daß
ſich wohler und Eräftiger fühle, als feit
Zeit.
jerade darum!« antwortete der Kranke.
hab’ ed oft erlebt an Anderen, zuletzt
Ruh.«
e vollkommene Faſſung, mit der er von
Aufloͤſung ſprach, hatte etwas Ueberwaͤlti⸗
. Friedrich vermochte den Gedanken nicht
en, daß diefe felbftbewußte Kraft nun plöß-
loͤſchen, noch weniger, daß fie für immer
n bleiben follte mit dem Zode. Es war
18 müffe auch er fterben, wenn der Vater
d, dem er fein Leben dankte, — welken
'e Blätter, wenn der Stamm gefällt wird.
der Meifter ließ ihm nicht Zeit zu feinem
neen und Empfinden.
8 ift mir geftern fchwer auf's Herz ge⸗
< fagte er, »wie Du gefprochen haft vom
Leben und vom Senfeitd nad) dem Tode.
Nichtd damit. Ich hab’ ed auch geglaubt,
394
vor langen Jahren, wie ich jung war, aber es
iſt Nichts damit!“«
»Ein Troſt im Sterben iſt es jedenfalls!«
rief Friedrich — »und der Tod iſt — —«
»Mir gar nicht ſchwer!« unterbrach ihn der Alte.
»Ich hab mein Theil gethan, Du kannſt Dir ſelber
helfen und der Mutter auch, muͤd' bin ich, ob
ich da ein Paar Jahre laͤnger eſſe und trinke,
iſt mir gleich! In der Jugend da mag's an-
ders fein!«
Er hielt inne, fuhr aber nad) kurzer Zeit zu
reden fort. »Sie vertröften unfer Einen auf das
andere Leben, das ift billig, und wir haben es
zu unferm Schaden lang genug geglaubt. Das
folteft Du ihnen fagen, dazu wollt’ ich Di) zum
Prediger machen, zum Prediger für die armen
Leute. Pfaffen, die da fagen: »hungert und dul-
det gelaffen, ed kommt dort befler,« die haben
wir genug! Aber ed kommt Nichtd und Nir-
gende was befler von felbft, und fie find Narren,
die ſich's weiß machen lafjen.«
»Wie haben Sie Ihr mühfelig’ Leben ertra-
| 385
gen, Vater? wie haben Sie ed ausgehalten ohne
den Glauben an eine Vergeltung Gotted?«
»Was ift da zu vergelten? ich hatte den Pro-
ft davon, wenn ich meine Schuldigfeit that,
und that ich's einmal nicht, fo kam mir's bald
zu Haufe!«
Jedes Wort ded Waterd that dem Sohne
weh, und Doch mußte er ihn bewundern, wie er
da lag in feiner vollen Klarheit. Endlich glaubte
Sriebrich zu bemerken, daß des Kranken Stimme
almählich fehwächer werde. Er ſchien fi) au
angegriffen zu fühlen, denn er fchwieg meift und
bielt Die Augen gefchloffen. Als er fie nach einer
Biertelftunde wieder Öffnete, glaubte er lange
ſchlafen zu haben, und verwunderte fich, daß
I noch Tag fei. Dennoch fam er von felbft
ieder auf die frühere Unterredung zurüd.
»Wenn der Wurm das alte Holz zu Staub
rfreffen hat,« fagte er, »bringt's feine Macht
sehr zufammen. Sind wir was Andered, wenn
ir Staub find? Glaub’ doch fo was nicht!«
„Vater!« rief Friedrich, feiner nicht mächtig,
baben Sie denn Feine Sehnfucht fortzudauern?
386
»Menn ich’ ihr nicht vorhalte von früh bis fpät,
fo ift nachher Fein Auskommen mit ihr. Du
wirft fie aber nicht verlaffen!«
Friedrich reichte ihm die Hand und bat, er
möge fih für den Fall feined Todes um ber
Mutter Schidfal Feine Sorge machen.
»Ich thue ed auch nicht, aber ich weiß doch
nicht, wie ed werden foll. Nähen ann fie nicht mehr
viel, auf Arbeit gehen und fi) heut da, morgen
dort von Fremden chitaniren laſſen — das würd’
ihr hart anfommen!« —
»Es fol ihr an Nichts fehlen, Vater! ver-
laffen Sie fi) darauf,« verficherte der Sohn.
»Nichtd fehlen? Arbeit muß fie doch finden,
was fol fie denn fonft? Sol fie fißen und fi
drum haben, daß ich tobt bin? Sie muß &
doc verarbeiten und vergefien, wenn fie aud
denkt, daß man fich wieberfieht!«
»Und glauben Sie das nicht ?« fragte Friedrich.
»Narr!« antwortete der Alte, und zudte mit
den Achfeln.
»Sie glauben nicht an die UnfterblichEeit un
ferer Seele, Bater?« wiederholte Friedrih i
387
———— 0.
ne eined fchmerzlichen Erfchredend, »nicht an
jere Fortdauer nach dem Tode?«
»Fritz!« fagte der Meifter, und verfuchte ſich muͤh⸗
ı aufzurichten, »fpiel’ nicht Comoͤdie mit mir,
: bie Pfaffen auf der Kanzel Dazu hab’ ih Dich
’t fludiren laffen, daß Du es machſt wie ſie!«
»So wahr Gott lebt, ich glaube an unfere
terblichkeit!«
»Schlimm genug für Dich!« meinte der Alte,
) legte fich auf die Seite zurüd, das Geficht
en die Wand gewendet.
Friedrich war bis in das Innerfte erfchüttert.
8 in ihm alö heilige Ueberzeugung lebte, was -
; eine Richtfchnur, eine Stuͤtze geweſen war
Leben, was ihn tröftete am Sterbebette fei-
Vaters, von diefem mit altem Spotte ver-
fen zu fehen, gerade jebt, wo ber Greid vom
en fcheiden, und die Hoffnung auf ein Wie⸗
ehen im Senfeits die ficher verbindende Brüde
hen den Lebenden und Todten bilden follte,
iß ihm das Herz Es zog ihn, feinen gan⸗
Glauben auszufprechen, aber der Doctor hatte
verboten, den Kranken irgend wie aufzuregen,
398
werben ?« dachte fi. Es fielen ihr lauter Aeußer=
lichkeiten, lauter Kleinigkeiten ein, weil fie dem
großen Gedanken der Vernichtung ihres Mannes,
dem Schmerz über ihre Verlaſſenheit nicht in’
Auge zu fehen vermochte. Kleine Naturen wer-
den darum von Leiden fo zerfchmettert, weil fie
ihnen immer unerwartet, unbegriffen kommen,
mögen fie noch fo lange und fo nahe über ihrem
Horizont geftanden haben. Ihre Herzensangft
. wurde immer größer, fie hielt es nicht aus, fo
wartend da zu fiben. Sie mußte etwas zu thun
haben. Mit der einen Hand faßte fie des Soh—⸗
ned Linfe, die andere legte fie leife auf des
Mannes Stirne. Inſtinktmaͤßig hatte fie nad
einer Stüge gegriffen, fih zu halten, hätte fie
die Stirne Falt gefunden.
Unter diefer Berührung ſchlug der Vater bie
Augen auf. Er hatte nicht gefchlafen, nur er:
ſchoͤpft geruht. Mit ftiler Freundlichkeit reichte
er Frau und Sohn die matten Hände. »So
lang Ihr an mich denkt, fo lang bin ich unfterb-
lich!« fprach er und ein mildes Lächeln, wie bie
Seinen es nie an ihm gefehen hatten, glitt über
399
ige. Dann legte er fich wieder in bie
urüd.
> Stunde verging nach der andern, er
ich; aber er bewegte fich nicht mehr. Um
fam der Doctor. Er faß lange an dem
ald er fortging fagte er: »Das wird ein
od nach fchwerem Leben. Er hat ihn
l«
ed ſechs Uhr war und der Tag fid
athmete der Greis dreimal tief auf, der
ng ganz befonders. Sie bebten zufammen,
fich über ihn, — eö war ftill geworden in
ft. Weinend fielen die Weberlebenden fich
Irme.
— — — — — — — —
i Tage darauf trugen ſie den Meiſter
ı fchönften Sonnenſchein zur Ruhe Er
h vor langen Jahren fchon felbft den Sarg
rt, in dem er begraben werden wollte,
be hatte Friedrich ihn in der Bodenfam-
yen fehen. Der Meifter hatte fi Alles
danken wollen. Die übrige Begräbniß-
400
Ausſtattung ward von der Beerdigungskaſſe be⸗
ſtritten, zu der Friedrich ſeit Jahren auf der
Mutter Wunſch die Beitraͤge gezahlt hatte. Es
fehlte Nichts. Sie hatte ein neues ſchwarzes
Kleid und eine ſchwarze Haube, das Begraͤbniß
war anſehnlich, des Predigers Rede von der
Auferſtehung ſehr erbaulich fuͤr ihr glaͤubiges
Gemuͤth.
Den Nachbarn, die zum Gefolge eingeladen
waren, hatten ſich der Doctor, Larſſen und Georg
freiwillig angeſchloſſen. Des Lieutenants volle
Uniform war der Mutter Stolz und Troſt. Auch)
die Nachbarn meinten: »Schade, daß der Meifter
die Ehre von den drei Herren nicht erlebt hat!«
Als Friedrih am Mittage in feine Wohnung
kam, war ihm als fei er jetzt ganz allein in der
Welt. Er hatte Alles verloren: die Geliebte,
den Vater und die Zuverficht in feinen Glauben.
8 andlungen.
.
— — — — —
—— Tan ar
andlungen.
von
Fanny Lewald.
In vier Bänden.
Zweiter Band.
Braunſchweig,
k und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn.
1853.
Erftes Kapitel,
— — ——
Noch war kein Jahr verfloſſen, ſeit die beiden
ten Kinder des Barons aus dem Vaterhauſe
ieden waren, ald auch in dieſem ber Tod fein
r gefordert hatte, Die Baronin war nad)
m SKranfenlager geftorben, und das fonft fo
te, gaftliche Bamilienleben dadurch für immer
rt worden. Bei der Unterordnung, in welcher
Baron felbft die von ihm innig geliebte Gat⸗
u halten gewohnt geweien war, hatte er nie
et, welch fegensreichen Einfluß fie auf ihn
reuͤbt, wie nöthig ihm ihre Milde gewefen,
vie Starrheit feiner Grundfäge mit den An⸗
ber und Borderungen des Lebend zu vers
WR. Dlungen. II. 1
2
— —
mitteln. Jetzt, da ſie ihm entzogen war, empfand
er es um ſo tiefer, je mehr die Wendung, welche
die oͤffentlichen Zuſtaͤnde in Europa genommen
hatten, ſeinen Ueberzeugungen widerſprach.
Den franzöfifchen Julitagen waren die Revo
Intion in Belgien und die Erhebung in Polen |
gefolgt, ganz Süpdeutfchland befand ſich in leb⸗
hafter GAhrung, das Hambacher Feſt hatte es
dargethan, wie verbreitet der Wunſch nad) einer
ftändifchen Vertretung, wie weit er eingedrungen
fei in bie arbeitenden Volksklaſſen. Die Namen
Börne’d, Siebenpfeifer's, Wirth’d waren in je
den Munde und der Unparteiifche konnte es fih
nicht verbergen, daß «8 in Hambach nur an mt
fchlofjenen Führern gefehlt habe, um die dort ver .
fammelten Maffen zu einem Unternehmen für bie
Befreiung Deutſchlands von der abfoluten Herr⸗
Schaft zu bewegen. Auch in der Literatur gab
fi) eine neue frifhe Richtung Fund. Boͤrne,
Heine, Wienbarg ftachelten jeder auf feine Weile
das erwachte Bewußtfein ded Volfes zur Empfindung
feiner Knechtfchaft auf, andere Talente trugen ben
Gedanfen der Freiheit in die gefellfchaftlichen und in
3
Verhaͤltniß ber Gefchlechter zu einander über,
forderten, wenn auch oft in mißverftandener
fe, die Wiebereinfegung des Menfchen in
ı freieren Genuß ber Erbenfreuden.
Man wollte nicht mehr entbehren und ent-
ı, man wollte befiten und bed Beſtitzes froh
en, man war ed müde, in mülfigem Welt
erz darüber zu Flagen, daß die Wirklichkeit
Ideale Hohn fprah, man wollte fie ibealis
geftalten, aber man hatte fein allgemeines,
fittlihes Ideal, und Jeder verfuchte fich feine
len oder Xeidenfchaften zum Ideale zu erheben,
Literatur der Selbftbeipiegelung und mit ihr
Selbftverfchönerung begann. Neben ber tiefs
und reinften Poeſie machte der Cynismus ſich
felerregender Weife breit und verlangte Anbe-
vom Volke, weil er individuell und dag
ber Individualität nicht länger zu beftreiten
Tagebücher, Reifefkizzen und eine große An-
Yhantaftifcher Productionen überrafchten und
rrten dad Publikum, feffelten die Einen
fend und zur Nachahmung reizend, fließen
‚nberen eben fo lebhaft ab, und wie immer
*
6
baren memento mori, war ganz dazu gemadt,
ernfte Gemüther grade im Gegenfage zu der neuen
Schule der Genußfordernden in eine dem Genuß
entfagende Richtung zu treiben.
Das war Eorneliend Fall gewefen. Der
Tod der Baronin hatte ihr plöglich eine neue Stel:
lung, neue Verpflichtungen gegeben, und das Beſtre⸗
ben, dem Water die treue Gefährtin zu erfegen, fie das
hin gebracht, dem Verkehr mit ihren Alterögenofien
faft gänzlich zu entfagen. Die Bälle und andere der
artigen Xuftbarfeiten waren in ihrem Vaterhauſe
meift um Helenens willen veranftaltet worden, ihre
Entfernung und das bald darauf folgende Trauer:
jahr hatten ihnen ein Ende gemacht, und da Cor⸗
nelie feinen Werth darauf legte, hatte man aud)
nad) dem Ablaufe der Trauerzeit die zur Gewohn-
heit gewordene ftillere Lebensweiſe beibehalten.
Der Stimmung des Barond gereichte bad
nicht zum Vortheil. Er vermied ed, zu feinem
fleinen Kreife Berfonen zuzulaffen, welche nicht
feine Anfichten theilten, und konnte bald nicht
mehr den leifeften Widerftand gegen diefelben oder
bad freie Ausfprechen einer abweichenden Mei
5
9 oder in Askeſe. Mochten Menfchen
arfien fi) auch behaglich dehnen in ber
onne dieſer falfchen Aufklärung, mochte der
des Lieutenantd Alles mit Leidenfchaft er-
, was ſich gegen bie beftehende Ordnung
, fo ſchuf es in foldhen Naturen doch nichts
‚» Wo aber Jugend und Unfchuld mit die
hren in Berührung kamen, da entftand
ns ein Raufch, von dem der Emft des Le⸗
fie bald wieder ernüchterte und zur Beſin⸗
brachte.
ben dieſen zum Lebensgenuſſe ladenden
aten, mahnte aber jene Zeit auch vielfach
t Ernft des Daſeins und an die Vergaͤng⸗
des Irdiſchen. Das Schidjal der zum
ı Male geftürzten franzöfifchen Dynaftie, bie
und die Verbannung, welche die Mehrzahl
nifchen Adels getroffen hatten, von dem
durch Preußen geflohen waren, während
» dort in tiefer Zurüdgezogenheit lebten,
id un den Tod der Shrigen und Stärfung
in der Religion, dad Alles, und endlich)
‚ereinbrechen der Cholera mit ihrem furcht⸗
8
niffen nicht leicht, So jung fie bei dem Tote
ihrer Mutter geweſen war, "hatte diefe gewuͤnſcht,
dag Feine Fremde zur Verwaltung des Hauſes
und zur Erziehung der beiden Pflegefinder in bie
Familie aufgenommen werben möge, während bie
Tochter int Vaterhauſe weilte. Ihr allein hatte fie
die Sorge für Auguftend Fortbildung übertragen,
während Richard der Aufficht des Herm von
Pleſſen übergeben worden war, ohne daß berfelbe
als Gouverneur ded Knaben in dem Hauſe
lebte.
Bon dem Plane, ihn durch Friedrich erziehen
zu laffen, war der Baron zurüdgefommen, nads
dem er fein Berhältniß zu der Tochter Fennen
lernen, aber kurz nach der Abreife der Neuver
mählten hatte die Baronin felbft mit einem freund-
lichen Schreiben ihn zu fic) entboten und ed war
zu einer Erklärung zwifchen ihnen gekommen.
Sie hatte ihm ausgeiprochen, wie fehr fie und
der Baron fein ehrenhaftes Berhalten, feine freis .
willige Entfagung zu ſchätzen gewußt, wie hod)
er in ihrer Freundfchaft geftiegen fei, und bie
wahrhaft mütterliche Zuneigung, welche fie ihm
7
ohne Mißmuth neben fich ertragen. Die
Sreunde ded Hauſes, wie der Doctor, ſchon⸗
ihn und hüteten fich ihn zu verlegen,
de, welche eine folche Ruͤckſicht nicht zu neh⸗
nöthig fanden, wurden ihm allmählich immer
er, er verweigerte es, neue Bekanntfchaften zu
en, und fchon nad) zwei Jahren befchränfte
jein näherer Umgang, foweit er nicht den von
Jhochgehaltenen Bamilienverbindungen galt,
: ausschließlich auf den Doctor, auf Pleſſen
>» auf Sriebrih, und auch mit dieſen war er
ſtens unzufrieden. Hatte er früher ben Anders⸗
kenden gegenüber die Milde gehabt, welche
> dem Gefühl der eigenen Unfehlbarfeit gegen
Irrenden hervorgeht, den man früher ober
ter zu überzeugen hoffen darf, fo fühlte er fich
ch die Zeit und ihre Forderungen jegt gedrängt,
ie Weltanfchauung, feine aus ihr hervorgehen-
; vielfach angefochtenen Rechte zu vertheidigen,
) died mit Strenge zu thun, mußte einem
arafter wie dem feinigen, als Pflicht er-
inen.
Eorneliend Lage war unter dieſen Verhaͤlt⸗
10
Der ftetö regen Beobachtung bed Lebteren hatten bie
religiöfen Zweifel nicht verborgen bleiben Fönnen,
welche Jenen beivegten, und weit entfernt, ihm Eins
wendungen zu machen gegen bie Bhilofophie des Doc
tor oder gegen ben Unglauben feines Vaters, hatte
er fi) ftetd damit begnügt, Friedrich die Beſeli⸗
gung auszudrüden, welche er felbft durch feinen
Glauben in ſich trage, und ihn darauf hinzuwei-
fen, welche Früchte der Glaube, welche Früchte
der Unglaube an den Berfonen wirfe, deren Les
ben man beobachtend verfolgen konnte. “Diefer
Beobachtung zu genügen, wußte er ihn für feine
Armenpflege zu gewinnen, und bald ſah ſich Frie⸗
drich in eine ihm ganz neue Thätigfeit hineinge⸗
zogen,
Noch vor der Berheirathung ihrer Tochter
hatte die Baronin von der Regierung die Erlaub-
niß nachgeſucht und erhalten, eine Armenfchule
zu begründen, an der fie felbft, ihre Töchter, Herr
von Pleffen und einige ihnen befreundete Frauen
und Männer den Unterricht ertheilten. Selbft die
lebensfrohe Helene Hatte eine Oenugthuung an
dem Berfehre mit den Kindern’ gewonnen, und ed
9
ies, die achtende Anerkennung, mit der ber
on ihm begegnete, würden ihm eine Genug⸗
ing, eine Erquidung geworden fein, hätte er
ihnen gegenüber unter folchen Berhältnifien
t doppelt gebrüdt gefühlt durch die Art feis
legten Begegnens mit der Gräfin,
Er Hatte lebhafte Theilnahme bei ihnen ges
en für den Tod feines Vaters, er war oft
en legten Lebendtagen der Baronin noch an
: Seite, und fie felbft war ed geweſen, bie
von Zeit zu Zeit Nachrichten über dad Er-
n ihrer Tochter mitgetheilt. Aber diefe Nach»
en hatten ihn nicht beruhigt, denn fo hoch
bie Außeren- Lebensverhältniffe Helenend aud)
fchlagen, jo oft fie der Vorzüge und Genüſſe
3 Dafeind erwähnt, niemals hatte die Baro-
es audgefprochen, daß Helene glüdlich fei,
yon Friedrich ihr gefagt, welch ein Troſt es
ihn fein würde, fie fi) mit ihrem Looſe aus⸗
hnt und befriedigt denfen zu fönnen.
In dem engen Kreife, welcher feit dem Er-
fen der Baronin fich um diefelbe verfammelt,
en Friedrich und Pleſſen fich näher getreten. —
12
Schnitte wählte. Allmaͤhlich entfland auf biele
MWeife für die Familien, welche man in Obhut
genommen hatte, eine Art von gleichmäßiger
Tracht, welche Ddiefelben, wenn auch durch
kaum bemerfbare Unterfchiede, von ihren Rad
barn abfonderte, wie die Erbauungsftunden an
den Sonntagsabenden, ihre Beichüger von einem
Theile ihrer gewohnten Gefelligkeit abzutrennen
begannen.
Der Menfh aber hat einen doppelten Zug
in feinen Naturanlagen, und wie ihn eine Seite
feines Weſens zum Anſchluß an die. Menfchen
zieht, jo macht die andere ihn geneigt, fich in
der Maſſe gruppenweife zu ifoliren. Darin bes
ruht das geiftige Geheimniß der Ariftofratien und
Gemeinden,
Die Befriedigung, welche die Baronin und
ihre Tochter in der neuen Thätigfeit und an ben
Gedeihen ihrer Schüglinge fanden, machte bie
ihnen befreundeten Brauen geneigt zu gleicher
Wirkſamkeit. Man fah plöplic ein, daß man
muͤſſig gewefen fei, daß man feine Zeit für fi
und Andere nüglich verwerthen könne, und mit
11
nahe genug, Friedrich zur Uebernahme der
errichtöftunden zu bewegen, welche die Geliebte
t ertheilt. Bon. ber Beichäftigung mit den
bern war man zur Beauffichtigung ihrer haus—⸗
a Berhältnifje übergegangen. Man hatte ein-
hen, wie unmöglich oft für die außer dem
eufe arbeitende Mutter der fonntägliche Beſuch
: Kirche werde, da grade dieſer Ruhetag ihr zur
forgung ihres Hausweſens dienen muß, und
ın war zu der Errichtung einer Betftunde am
nntag Abende gefchritten, zu der man die El⸗
n berjenigen Kinder verfammelte, welche in die
menfchule aufgenommen waren.
Noth und Elend der Bamilien, mit benen
in in fo vielfältige, nahe Berührungen fan,
ınten den Vorftehern der Schule und der Betr
nde nicht verborgen bleiben, welche die Mittel
sagen, ihnen rathend und helfend beizuftehen.
an pflegte die Kranken, man forgte für die
öchnerinnen, man hielt darauf, die Geſunden
ıber gekleidet zu fehen, und wo die Mittel dazu
Iten, fhaffte man ihnen Kleidungsftüde, zu denen
m die tüchtigften und einfachften Stoffe und
12
—
Schnitte wählte. Allmählich entftand auf diefe
Weife für die Bamilien, weldhe man in Obhut
genommen hatte, eine Art von gleichmäßiger
Tracht, welche diefelben, wenn auch durch
faum bemerkbare Unterfchiede, von ihren Nady
barn abfonderte, wie die Erbauungsftunden an
den Sonntagsabenden, ihre Befchüger von einem
Theile ihrer gewohnten Gejelligkeit abzutrennen
begannen. |
Der Menſch aber hat einen doppelten Zug
in feinen Naturanlagen, und wie ihn eine Seite
feines Weſens zum Anfchluß an die. Menfchen
zieht, jo macht die andere ihn geneigt, fich in
der Maſſe gruppenweife zu ifoliren. Darin bes
ruht das geiftige Geheimnig der Ariftofratien und
Gemeinden.
Die Befriedigung, weldye die Baronin und
ihre Tochter in der neuen Thätigfeit und an dem
Gedeihen ihrer Schüßlinge fanden, machte bie
ihnen befreundeten Frauen geneigt zu gleicher
Wirkſamkeit. Man fah plöglih ein, daß man
müſſig gewefen fei, daß man feine Zeit für ſich
und Andere nüglic) verwerthen fönne, und mit
13
Jahl der zum Wohlthun geneigten Theil
‚er, jchritt gleichmäßig die Ausdehnung ihrer
ternehmung fort. So lange die Baronin ge
t, hatte man bie urjprüngliche freie Tchätigfeit
einzelnen Mitglieder fortbeftehen laſſen, und
war doch ein gewifier Zufanımenhang in ‚ders
en geblieben, da das Alter und die Stellung
Baronin fie zur gemeinfamen Beratherin ber
Ichiedenen Theilnehmer gemacht hatte. Nach
em Tode machte fich aber bald die Nothwens
feit einer feſten Organiſation geltend, follten
mannigfachen Beftrebungen der Einzelnen ſich
yt Freugen und dadurdy hemmen.
Es war unerläßlih, daß man Gonferenzen
die mannigfach nöthigen Befprechungen anords
e, die Zahl der verforgten und beauffichtigten
milien war auch fehon zu groß geworden, um
Abenderbauungen im Heidenbruck'ſchen Haufe
tzufegen, und mit Erftaunen faft wurde man
gewahr, daß fich innerhalb der Kirche eine
meinde gebildet hatte, die durch ein ftreng ges
elted und bald auch gegenfeitig übermachtes
en, fih von der Allgemeinheit fchied. Als
14
man zu überlegen anfing, was man zu beginnen
babe, fah man fi) gezwungen, fidy mit faft allen
Fragen um die Einzelheiten der Armenpflege an
Eornelie zu wenden, die als beftändige Gehülfin
ihrer Mutter die befte Auskunft und Anleitung
zu geben vermochte, und ehe man noch zur Wahl
einer Borfteherin des fogenannten Armenvereined
gefchritten war, Hatten die Thatkraft und Ents
fhiedenheit des jungen Maͤdchens Cornelie dazu ers
hoben, fo daß gar nicht mehr die Rede von einer
folchen Ernennung war, fondern man, wie. früher der
Mutter, fo jest der Tochter, die wefentliche Lei:
tung überließ.
Der Eindrud aber, den cine foldhe Be
pflihtung auf die Mutter und auf die Tod
machte, war ein fehr verjchiedener. Hatte |
barin nur die Ausdehnung ihrer bisherigen S
falt für die Familie auf einen größeren Kreir
blidt, ohne fich davon in ihrem perfönlichen
pfinden anderd geftimmt zu fühlen, fo mar
für dad junge Mädchen einen Lebensa'
aus. Sie trat die Nachfolge ihrer Mut
dein Bewwußtfein an, einen neuen ernften 2
15
ehmen, deſſen werth zu fein fie fich erft heis
müffe, und die erfte Handlung, welche
sübte, beftand darin, daß fie fich eine jüngere
din ihrer Mutter, die Gräfin Wöhrftein,
Mitvorfteherin erbat, der fie fich unters
ıen befchloß, um mit einer That der Selbfts
Ahung. zu beginnen.
Die Gräfin, eine bochbegabte, fchwärmes
e und babei thätige Natur, war früh, nad)
e fehr glüdlichen Ehe, Wittwe geworden, und,
erlos und unbeichäftigt, eine der Erften gewefen,
fich, durch Pleſſen angeregt, den Beltrebungen
Baronin angefchloffen hatte. Ihre Schwärs
i fah in Corneliens Entfchluß einen Fingers
bed Himmels, ihre Thätigfeit ergriff mit leis
haftlihem Eifer die neue Wirkſamkeit, und
ihre jüngere Breundin hielt fie Selbſt⸗
gung für die erfte Bedingniß, follte das Un-
ehmen einen gedeihlichen Fortgang haben.
An jeden Morgen, ehe fie an ihr Tagewerf
jen, Eamen die beiden Frauen zu einer bejon-
n Andachtöftunde zufammen. Sie lafen religiöfe
rke, fie unterfuchten ihr eigenes Innere, jeder Ge⸗
— — — — —
danke, den man gehegt, wurde einer gemeinſamen
Pruͤfung unterworfen, und bald hatten Beide die
Wolluſt einer erfünftelten Reue, und ben Gr
nuß der Erhebung nad der Selbftzerfnirfchung
in beraufchender Weiſe kennen lernen, ohne daß
Eine von ihnen gewußt hatte, wie diefer ganze Sees
lenzuftand ein freiwillig erzeugter fei. Mit uns
erbittlicher Strenge hielten fie ſich gegenfeitig
ihre Mängel vor. Corneliens fcharfe Urtheils-
weife, die Liebe der Gräfin für Schönheit und
Eleganz der Außeren Erfcheinung, waren Gegen-
ftände des wechfelfeitigen Tadels, und wie bie
Eine fich zu einer ihe fremden Milde des Urtheils
und des Ausdrucks zu erziehen ftrebte, fo kamen
Beide dahin überein, daß ed unpaßlich fei, in ber
fchinudreichen Tracht der Weltmenſchen an den
Stätten des Xeidend zu erfcheinen, und machten
fi eine Kleidung zur Pflicht, wie man fie an
ben Herrnhutherinnen und Quäferinnen zu fehen
gewohnt war.
Dem Baron entgingen diefe Thatſachen nicht,
aber er ließ die Tochter gewähren, weil faft der
ganze Kreid der DVerbundenen aus Frauen und
17
nern ber Ariftofratie beftand und es feinen
dſaͤtzen entſprach, daß gerade dieſe fich zur
Ithäterin und rzieherin der Armen und
feidenden machte, während ber bürgerliche
alismus in den fortdauernden politiſchen Kris
ich gegen ben Adel ausſprach, und unter dem
‚eben, für Freiheit und Aufklärung des Volkes
impfen, felbftfüchtig für den eigenen Vortheil
itete. Breilich war dem Baron perfönlich das
riöfe Gewand nicht zufagend, in das fich jene
tigfeit verhüllte, aber dem in Schriften aller
. gepredigten Unglauben gegenüber, hielt er
das Volk die Firchliche Zucht und bie ftete
weifung auf Gott, auf feine Vorſehung
fein jenfeitiged Richteramt für unerlaͤßlich.
: wenn Gornelie ihm zu weit zu gehen fehien
ihrer Selbftverleugnung, wenn er fie an ben
nfenbetten ihre eigene Geſundheit gefährden,
n er fie mehr und mehr fich von ben befte
ven Berhältniffen der Wirklichfeit abwenden,
au ihr Augenmerf auf einen neu zu fehaffen-
‚ idealen Zuftand des Lebens richten fah,
e er warnend einzufchreiten und au hemmen
Wandlungen. II.
18
verfuht, aber ed war vergebend geweſen. Eine
ftärfere Hand hatte fich ihrer Zeitung bereits be-
mädhtigt.
Gezwungen für die ©emeinde nach einem
Derfammlungsorte zu fuchen, und duch die Ges
ſetze gehindert, ohne beſondere Erlaubniß und Con⸗
ceſſion einen eigenen Betſaal zu erwerben, war
man uͤbereingekommen, an ben Sonntag Nach—⸗
mittagen den allgemeinen Gotteödienft in einer
ber ftäbtifchen Hauptficchen zu bejuchen, beren
Prediger durch feinen reinen Lebenswandel eben
jo geachtet, ald bewundert um feine Rebegabe
ward, Da er feit langen Jahren neben dem
Sonntagscultus alwöchentlih an einem beſtimm⸗
ten Tage, eine freilich nur wenig befuchte Yrüb-
predigt gehalten hatte, fo entſprach er boppelt
dem Bedürfniß des Vereines, und die beiden
Grauen, welchen er bereit in feiner amtlichen
Thätigfeit vielfach begegnet war, führten ihm ihre
jammtlihen Freunde und Schüslinge zu, ſich
jelbft feiner Seelforge anvertrauend.
Dadurch gewannen die Verhältniffe eine neue
Geftalt. Der Prediger, ein fchöner, majeftätifcher,
Er wollte demſelben entfprechen, fein
zmus für das Chriſtenthum, fein Glaube
ſittliche und politifche Bedeutſamkeit, fein
die Wahrheit dieſer feiner Ueberzeugung
aktifhe Erfolge zu bethätigen, machten,
ch mit leidenfchaftlicher Begeifterung dem
inſchloß. Pleſſen, welcher bis dahin der
der Frauen gewefen war, mußte bald
te Kraft des Prediger anerkennen, und
Erſtaunen den Einfluß gewahr, welchen
nd die beiden Freundinnen wechſelſeitig
iber übten.
täglichen Morgenandachten der Frauen
ich dem Zutritt des Prediger in Erbaus
ven umgewandelt worden, zu melden
an zwei Abenden in jeder Woche bei
* unten « Kun an.
bir
Er
20
halten, er als eine füttliche Pflicht feiner Freunde
bezeichnete.
Als Friedrich fich zum erften Male mit Pleſſen
zu der Andachtſtunde begab, fand er die drei Anderen
fchon beifammen in einem Cabinette, das er nie
zuvor betreten hatte. Der Schönheitsfinn und
bie Künftlernatur der Gräfin, die fi nur ſchwer
von ber neuen Lebensauffafiung unterbrüden ließen,
und fich bei jeder Gelegenheit immer wieber gel-
tend machten, hatten das Fleine Gemach zu einer
Art von Eapelle umgeftaltet,
Obſchon es noch) Tag und die Sonne eines
Schönen Aprilabendes eben erft im Sinfen war,
verhüllten bereits ſchwere Vorhänge von einem dun⸗
felblauen Wollenzeuge, mit dem aud) die Wände
tapezirt waren, bie beiden Benfter, und eine Am⸗
pel, über deren Flamme eine mild buftende Effenz
verdampfte, hing von der Dede herab, einen
Ecce homo zu beleuchten. Möbel von altem gedie⸗
genen Holzſchnitzwerk vollendeten die Einrichtung.
Die Gräfin, eine ftolge, hohe Figur, deren
fchöne Züge einen feften Charafter verriethen,
während die feelenvolle Glut ihrer großen blauen
21
ven alle Blicke an fich fefieln und jeden Willen
r den ihrigen beugen zu wollen fohien, faß,
Pleſſen die Bortiere aufhob und mit Friedrich
a8 Zimmer trat, auf dem Sopha der Thüre
enüber. Ihr blondes Haar war einfach ges
itelt, und fchmüdte in prächtigem Kranze ben
f. Ein Schwarzes Seidenkleid, dad hoch zum
fe beraufging und über dem ein fein gefältel-
Kragen herabficl, hob in feiner Schmudlofigs
den Abel ihrer Erfheinung um fo Leutlicher
or, Bornelie, in faft gleicher Art gekleidet,
zu ihrer Rechten, der Prediger an ber linfen
te des Tifched, und fo wenig berechnet es war,
ber Augenblick doch ein vollftändiges Bild
‚ in dem felbft die fchönen, über ber Bibel
enden Hände der Gräfin, und Eorneliend nach⸗
fend auf den Arın geftübted Haupt die Ges
mtwirkung erhöhten.
Da es bei diefen Zuſammenkuͤnften mehr auf
emeine geiftige Erhebung als auf einen eigents
n Gotteödienft abgejehen war, fo machten das
einfame Gebet und die Vorleſung eined Kas
[8 aus der Bibel nur die Einleitung zu dem
22
Geſpraͤche, aber es fchien Friedrich, als Habe er
jeit Jahren nicht mehr fein Herz fo tief vom Ge
bete ergriffen gefühlt, al& in dieſem engen Kreife,
da die Gräfin, das Baterunfer gleichſam paraphra⸗
firend, in freier Rede ihre Gedanken fammelte.
Es lag etwas Meberwältigendes darin, den Aus
druck anbetenden Dankes, inbrünftig liebender Hin,
gebung gegen Gott, von Lippen fließen zu hören,
bie nie dur ein hartes Wort entweiht zu fein
dienen, und die Sehnſucht nad) dem Hörhften,
nad) dem Senfeitd von einem Wefen zu vernehmen,
das faum eine harte, rohe Berührung ber Erben,
welt erfahren haben Eonnte, ®
Friedrich ſprach dad gegen die Anweſenden
aus, und der Prediger ftimmte ihm bei. „Die
Menſchheit,“ fagte er, „ift durch die Erbſünde
fo verblendet worden, daß fie Jahrtauſende braucht,
um zu ber Wahrheit zurüdzufehren, die urſprüng⸗
lich in ihr lag, und die die Offenbarung hervorges
hoben hat, wie der Bergmann aus lang verfchüt-
tetem Schachte dad Gold zu Tage fördert, aber
jelbft dies Gold zu erkennen und zu würdigen
hat unfere Herzensverberbniß und zu fihlecht ges
23
acht. Die Heiligkeit des Weibes ift leider Feine
abrheit unter ung, weil wir es entweihen mit
feren finnlichen Begierden, weil wir es Falt und
dachtslos zum Werkzeug unferer Fleiſchesluſt ers
drigt haben, flatt und ihm zu nahen in gemein,
n anbetender Hingebung an den Schöpfer und
ben Ebenbildern des Weibes, das in reiner
mgfräulichfeit einft unfern Heiland zur Welt
yoren hat, den fchönften und mildeften Aus-
ick alled von Gott Erfchaffenen zu ehren. Die
it des priefterlihen Weibes hat noch erft zu
namen!“
„Und doch,” wendete Pleſſen ein, „ift die
fenntniß fchon fo Häufig aufgetaucht. Das
ittelalter, das im Eultus der Ritterlichfeit die
au verflärend anbetete, das ihr als Oberhaupt
fterlicher Gemeinden eine große geiftige Gewalt
erantwortete, die Quaͤker, Herrenhuther, Menos
ten, welche die Prieſterſchaft des Weibes in
en Gemeinden anerkennen, und grade jegt wie⸗
in unferer Zeit die St. Simoniften, fie Alle
tfjen mehr oder minder dad Bewußtſein der
ahrheit und defien, was und Noth thut, empfuns
9 -
— — — —
den haben. Woran liegt es nun, daß dieſe
Wahrheit ſich noch nie rein und voll aus ihrer
Mitte herauszugeſtalten vermochte ?*
„Woran es Liegt?” rief Eornelie, „an ber
Unvollfommenheit des Weibes liegt es? Wir
Alle wollen noch Etwas fein, um unſerer felber
willen, wir verlangen nody Dank, noch Anerfen-
nung, noch Liebe für und allein, für bie Förper
liche Wefenheit, die wir unfer irbifches Selbft
nennen. Aber das Weib, das als Heiliger Prie⸗
fter Gottes verehrt werben fol, das darf fein
Ich befigen, dad muß felbftlo8 fein und Nichts
begehren um fein felber willen. Es muß Gott
banfen in jedem Augenblide, daß ein Theil feines
Geifted in ihm Fleifch geworden ift, e8 muß fein
leiblich Theil unterdrüden durh Buße und Ent
fagung, damit der Geift Gottes um fo freier in
ihm walte, fih um fo reiner in ihm zur Erfcei-
nung bringen könne, Und erft wenn wir bienft-
bar geworden find Jedem, ber Noth leidet, wenn
wir mitgetheilt haben Alles, was wir an leibli-
hem und an geiftigem Gute befigen, wenn wir
Nichts mehr unfer eigen nennen, ald das Herz
25
I ewig unfterblicher Liebe zu dem, der und ges
affen Hat, dann koͤnnen wir würdig werben
ı zu preifen, dann fönnen wir aufbliden und
chen: walte in mir heiliger Geiſt der Gnade,
ß ich dich erfenne und dich verfünde, als ein
ned Werkzeug deiner Liebe in ber Gemeinde
iner Heiligen! Dann wird der Geift Gottes auf
8 hernieberfinfen, und dann wird das Weib die
riefterin ber allwaltenden Liebe werden, bie alle
ebe in fich fchließt auf Erden! Und daß wir
es erringen, dazu helfe und der Allhelfende, das
ich laſſet und ftreben, dazu uns ftügen und ans
sern als Brüder und Schweftern in unferm
ern und Heilande Jeſu Chrifto !“
Sie war aufgeftanden, hatte ihre Arme betend
npor gehoben, und reichte, da fie in hoher Ber
:ifterung geendet hatte, ihre Rechte, als fordere
: einen Eid, dem neben ihr figenden Pleſſen dar,
r fie ergriff, und vor ihr niederfnieend, ihre
and auf fein Haupt legte. „Laß Deinen Ser
en über und walten Du reined Herz! Du liebes
olle Seele!" rief er, „laß Deinen Segen und
ar machen und zu erheben zu dem, was wir
26
fein wollen und follen von biefer Stunde ab,
eine brüberliche Gemeinde der Heiligen, ein Sas
menkorn in ber allgemeinen Verderbniß, auöges
ftreut durdy Gottes Vaterhuld, daß von ihm aus-
gehe die Sehnfucht nach Licht und Gnade. Und
auf meinen Knieen ſchwoͤre ich Dir, die ich vers
ehre ald ein &Ebenbild der Gebenebeiten, daß ich
Nichts verlangen will in biefer Welt, als ben
Geiſt Gottes zu verkünden allerwegen, daß ich
nicht achten will bie Bande ber Blutöverwandt-
ſchaft, daß nicht Vater, nicht Mutter, nicht Bru⸗
der oder Schwefter, daß nicht Amt und Würbe
mich Fetten follen an fih, und daß ich fortan
Nichts achten und anerfennen will ald die Bande,
bie mich binden an die Gemeinde der Heiligen,
und daß Fein Geſetz mich leiten fol, als der Geift
Gottes, der ihr Führer fein fol und ihr Geſetz.
Daß wir aljo würdig werden wollen der Gnade
Gottes, durch Hingabe an die hingegebene Selbfts
lofigfeit in der Geftalt ded reinen Weibes, das
laßt und fchwören vor Gott dem Allmächtigen,
und dazu verhelfe und ber Heiland!‘
Seine Stimme hatte in dieſer tiefen Erre⸗
27
ven fanft -vibrirenden weichen Klang, der
alle Herzen bringen machte, feine Augen
en in mildem Glanze, obfchon die Thränen
en zitterten, und verklärten dad bleiche Ans
defien Ausdruck der Kränklichkeit feinen
noch rührender machte. Er glich den
ı fterbender Heiligen, deren Seele fich frei
egeiftert der erfchauten Himmelsglorie ents
hwingt. Corneliend Herz wallte über in
Bewegung, "und fih mit Thränen zu dem
ben bernieder neigend, breitete fie die
gegen ihn aus, und fhloß ihn an ihr
e Handlung war eine unwillfürliche ge-
faum aber hatte fie fie vollzogen, al8 bie
inheit der ihr anerzogenen Sitte in ihr rege
Sie fühlte ſich befhämt, und ihre Vers
g zu verbergen und der Umarınung das Ges
iner befonderen Gunft zu rauben, umarmte fie
e beiden anderen Männer, während die Graͤ⸗
ber die religiöfe Begeifterung ben Takt der
ıme nicht vermindern Fonnte, ihr zu Hülfe
ndem fie ihrem Beifpiele folgte,
28
Diefer Vorgang, ber die Frauen durch feine
Plöglichfeit und Ungewohnheit außer Faſſung
brachte, und fie verftummen ließ, begeifterte die
Männer. Sie fühlten fid) wie zu einem Myſte⸗
rium geweiht, und zum erften Male tauchte verfüh-
rerifch in dem Prediger der Gedanke auf, aus dies
fer Gemeinfchaft frommer Seelen, für die man
fortan die von Cornelien gewählte Bezeichnung,
ber Gemeinde der Heiligen, annahm, eine wirt
lihe Gemeinde, eine Sekte u gründen. Eine
Wiedergeburt des Chriſtenthumes zu feiner ur
jprünglichen Reinheit durch diefe Sekte zu bewir⸗
fen, erfchien ihm nicht unmöglich, fondern ald das
lang geahnte Ziel feined Lebens und Wirkens.
Die frühere Erwähnung der Bedeutung,
welche die Frauen in einigen der chriftlichen Sek⸗
ten genoffen, bot den Anlaß, ven Geift jener Sek
ten zu prüfen. Man fam alfo überein, bei ben
nächften Zufammenfünften die Werfe des Grafen
Zinzendorf zu fludiren, für deſſen Ideen bie
Gräfin immer eine gewiffe Neigung gehabt hatte,
während der Prediger und Friedrich anerkannten,
daß in den Inftitutionen‘, auf deren Grundlage
29
: Brübergemeinfchaften gegründet worden, jene
ee der allgemeinen Gleichheit wefentlich vertres
; fei, aus der feit der erften franzöfifchen Revo⸗
ion mehr ober weniger alle politifchen Bewe⸗
ngen hervorgegangen waren, unb bie zur Gel
ig zu bringen, alfo bie Aufgabe ber Zukunft
ı werde,
Pleſſen betheiligte fich bei biefen Eroͤrterun⸗
; in feiner Weife. Er war ftill in fich verfuns
‚und auch Eornelie war ſchweigſam. Erſt als
r das Gabinet verließ, um in einem andern
ımer die Abendmahlzeit einzunehmen, welche
Prediger mit Gebet einfegnete und befchloß,
den jene Beiden ihre gewohnte Yaffung wieder,
) das Gefpräch wendete ſich nun erft der praf-
hen Thätigkeit ded Vereines, dann Gegenftän-
| von allgemeinem Intereffe zu, wobei die Bes
tung der Kunft für die Erhebung der Seele
Gott, in vielfache Betrachtung kam, weil die
äfin fie zu den geiftigen Elementen zählte, bie
: unter und anzubauen und zu pflegen hätten,
hrend Cornelie fie, als der Sinnenwelt ange,
end, verwarf, und darauf beftand, daß man
30
das Ehriftusbild aus dem Betcabinette entfernen,
und höchftens ein einfaches Kreuz an feine Stelt
fegen folle, denn es ftehe gefchrieben: „die ihn
anbeten, follen ihn im Geifle und in der Wahrheit
anbeten. “
Die ganze Art der Unterhaltung aber hielt
die Theilnahme der Freunde unabläfftg in würdi
ger Weiſe befchäftigt, und Friedrich Eehrte am Abende
mit einer Yülle amregender Gedanken in feine
Wohnung heim, in ſich befriedigter als er es ſeit
langer Zeit gewefen. In einer Firchlichen Ge
meinfchaft, die rein menfchlichen und focialen
Zweden diente, und fihb auf dem Boden bed
Chriſtenthumes zum Erklären, Läutern und Ber
wirklichen deſſelben vereinte, hoffte er gefunden zu
haben, was er fo lange gefucht hatte. Die abs
ftracte, fpeculative Bhilofophie entfprach feinem
inneren Bebürfniffe nicht, ihre Terminologie war
ihn ein Stein, ben man ihm für dad Brod des
Lebens hinreichte, nach dem er fehmadhtete, ihr
zerſetzendes Weſen entwurzelte ihn felbft, und doch
hatte er die Unbefangenheit feines früheren Glau⸗
bens feit dem Tode feined Vaters nicht mehr
31
rt gewonnen. Sept aber wähnte er, jenen
n Glauben an das Ehriftenthum durch dieſe
poetifche und myftifche Exaltation für dafielbe
h erjegt zu fühlen. Er hatte ſich es oft ges
daß eine andere Form gefunden werden müffe,
r das ideale Streben der Menfchennatur fi
| zu thun vermöchte, und fich nach einer
Religion gefehnt, weldye die geiftigen und
ben Elemente nicht vereinte, (denn er bes
:te fie als gefonderte, ja einander feindliche
), fondern ihnen innerhalb ihres Kreifes den
nöthigen Spielraum gönnte, nad) einer
on, bie, wie der Monotheismus der Juden
er Mahomedaner, Gott zum Lenfer und
em Geſetzgeber auch auf Erden machte, Die
ung ber Religion und ihrer Vorſchriften
en ftaatlichen Geſetzen fah er als eine Duelle
r meiften Uebel an, und fchon lange hatte
der Gedanfe an eine neue Reformation vor
seele gefchwebt, durch welche die Religion
ad Staatsgeſetz in fich einig und unzertrenn»
erden follten, fo daß die Prieſter zugleich
ter des Geſetzes, und der von ihnen ertheilte
32
Religiondunterricht die Erziehung für dies eine
untheilbare Geſetz werden mußte. Diefe Ideen
ben Freunden mitzutheilen, fie mit den ihren aus⸗
zutaufchen und zu berichtigen, lag ihm fehr am
Herzen, und wie man in bem engvertrauten
Kreife fi dem Studium der Zinzendorf’fchen
Werke überließ, fo wendete er feine ganze Aufs
merffamfeit den Schriften St. Simon’s und Fou-
rier's zu, um ihre auf Theofratie gegründeten Vor⸗
fhläge zu einer neuen Gefeßgebung und Umge⸗
ftaltung der ſocialen Berhältniffe im Intereſſe der
Gemeinde der Heiligen kennen zu lernen.
Zweites Kapitel,
Bährend die Freunde ſich auf folche Weiſe
re religiöfen Uebungen verfenften, und ihre
gfeit immer weiter in die Allgemeinheit aus⸗
en, verödete dad Familienleben des Barons
Tag zu Tage mehr. Gornelie fing an den
ichen Beruf der Frau als Nebenſache gering»
sen, und uneingedenf der Wahrheit, daß
Iefammtheit am Beften geholfen werde, wenn
an feinem Platze feine nächfte Schuldigfeit
nur in dem Wirfen für die Gemeindemits
r ihre Oenugthuung zu finden.
Vie Aufficht des Haufes fiel dadurch Augus
u Theil, und Cornelie, welche es vergebens
MWandlungen. U. 3
34
verfucht hatte, die nun ganz erwachfene Goufine
für die Richtung ber ©emeinde zu gewinnen,
legte ihre um fo ruhiger jene ‘Pflichten auf, als
Augufte felbft die größte Befriedigung darin zu
haben ſchien. Lange ald Kind behandelt, wie es
den jüngften Mädchen in den Bamilien zu geſche⸗
hen pflegte, in denen ältere und obenein begabtere
Töchter vorhanden find, fühlte fie es als eine
Wohlthat, nicht mehr gehorchen zu müſſen, ſon⸗
dern anordnen und befehlen zu fönnen, und ohne
Anlage oder Neigung für geiftige und Fünftlerifche
Beichäftigung, dabei aber thätig von Natur, ward
ihr dad Arbeiten und Schaffen im Haufe zu
einer Nothwendigkeit, wollte fie nicht die Lange⸗
weile des Müffigganges empfinden.
Daß fie nicht. Helenend Anmuth, nicht Cor⸗
neliend Bedeutung befige, daß ihre Anfprüche an
bad Leben denen ihrer Eoufinen nicht gleich fämen,
hatte fie von Jugend auf fowohl an dem Bench
men der Gäſte, ald an dem der Dienerfchaft er-
meflen fönnen, wenn die Liebe ihrer verftorbenen Ä
Tante und die Güte ber ganzen Familie fie auch
als Kind ded Hauſes behandelt hatten, und die
35
fe ihres Vaters hatten nur dazu beigetragen,
daran zu erinnern, daß fie eine Fremde fei,
ihre Zufunft nicht bie ber Heidenbruckſchen
der ſein werde.
Dieſer Vater, der Bruder der Baronin, war
h feinen Leichtſinn früh in ſchlimme Händel
gikelt, und in Folge einer Heirath mit einem
ebildeten Mädchen niederen Standes zum Aus-
aus dem Regimente genöthigt worden, in dem
18 Lieutenant gedient. hatte. Durch die Vers
elung ſeines Schwagerd hatte er eine Stelle
Eubalterns Beamter bei dem Zollamte einer
nzſtadt erhalten, und dort fih, nachdem Aus
end Mutter bei der Geburt diefed ihres eins
ı Kindes geftorben war, zum zweiten Male
nählt, ohne eine befiere Wahl zu treffen.
ner zweiten Ehe war eine zahlreiche Familie
proffen, und da Noth und Sorge, die Folge
yranfter Verhältniffe und übler Wirthfchaft, fich
e und mehr jenes Haudftanded bemächtigten,
e die Baronin das ältefte Kind, Augufte, zu
genommen, und fid) zur Verforgung deſſelben
ten, während fie, fo weit ed in ihrer Macht
3%
36
geftanden, dem Mangel und ven Wirmifien ihres
Bruders redlich abgeholfen hatte. |
Nur vierteljährig waren Briefe zwifchen ihrem
Bater und Auguften gewechfelt worden, fie hats
ten aber hingereicht, einen Schatten über ihr Les
ben zu werfen, und ihre Augen auf Zuftände zu
richten, von denen ihre glüdlicheren Couftnen un:
berührt geblieben waren. Jedes Schreiben ihres
Baterd hatte von feinem Mangel geſprochen, je
bes der Kleinen vorgehalten, wie gut fie ed habe
im Vergleiche zu den Ihrigen. Immer waren offene
oder verſteckte Forderungen darin enthalten gewefen,
deren Gewährung zu erwirfen, fie direct oder ins
direct die Weifung empfangen, und niemals hatte
bie Ermahnung gefehlt, ſich nicht an die Pradıt
und Herrlichkeit ihres jetzigen Lebens zu gewöhnen,
fondern ſich ftetS zu erinnern, daß ihr Vater von
Rang und Reichthum zum Elend berabgefunfen
fei, und daß man auf Nichtd weniger zu rechnen
habe, als auf die Beftändigfeit irdifchen Beſitzes
und auf die Treue der Menfchen.
Hatte die Baronin um Auguftend Willen dad
Abbrechen dieſes brieflichen Verkehres oft ges
37
ht, fo Hatte der Baron fich dieſer Anficht
erjegt, weil Fein Menfch auf Erden das Necht
, einem Vater, ber nicht für bürgerlich ehrlos
irt worden fei, bie Anrechte an feine Kinder
entziehen, ja er felbft hatte die Hand dazu
ten, als der Vater einft das Kind zu fehen
zu dieſem Zwecke die Hauptitadt zu befuchen
ünfcht. Indeß jene Begegnung war für die
als vierzehnjährige Augufte eine durchaus
theilige gewefen. Das fchon von Natur nicht
Wefen ihres Vaters hatte fich in dem langen
ammenfein mit einer rohen Frau und in dem
kehre mit ungebilteten Menfchen erniedrigt,
Kinder find bei der Lebhaftigfeit, mit ber
frifchen Einne die erften Eindrüde empfan⸗
ſcharfe Beobachter und firenge Richter. Der
rfchied in der Erfcheinung des Zollamtscon⸗
eurs und ded Baron, die Scheu, mit ber bie
ne Schwelter ihn behandelte, der Zwang, wels
. die Üebrigen ſich auferlegten, ihm rüdfichtd«
als einem Berwandten zu begegnen, vor
m aber die Geringichäbung der Dienerfchaft,
en ihr nicht entgangen, und hatten ihr einen
38
unauslöfchlichen Eindruck gemacht. Sie fürchtete ſich
vor dem Vater, fie ſchaͤmte fich feiner. Es duͤnkte fi,
als ob alle Augen mitleidig auf fie blickten, als ob
jeder gewohnte Beweis der Zärtlichfeit ihrer Tante
fie entichädigen folle für dad Unglüd, bie Tochter
eined folchen Vaters zu fein, und als ob dad -
Mädchen, das zu ihrer Bedienung angewieen
war, fie von Stunde an nicht mehr wie fonf, Ä
fondern mehr wie ihres Gleichen anfähe und be |
handelte, worin fie ſich nicht täufchte. |
Ein Gefühl unverdienter Demüthigung, eine
mißtrauifche Angft, man könne fie an ihren Vatet
erinnern wollen, blieben ihr davon zurüd,. und |
während fie felbft faft niemald von ihm fprad,
hegte fie doch ein unaufhörliches Mitleid mit feir :
ner und ber Seinigen Bebrängniß, wenn fie :
des Ueberfluffes gedachte, der fie umgab und ben ;
fie theilte, Weil ihre fchmerzlichften Erfahrungen :
fidh an ihren Vater knuͤpften, wähnte fie, alles
Leid könne den Menſchen nur von diefer einen
Seite fommen, und aus diefem Empfinden hatte |
fie einft an Friedrich, als fie ihn an jenem Weib
nachtöabende fo niedergefchlagen mitten in ber
39
meinen Freude erblickt, die Frage gerichtet,
er noch einen Vater habe?“
Eine frühreife Einfiht in bed Dafeind
ngfale, eine gewiſſe trodene Altklugheit und
trauriger Zwiefpalt in ihrem Empfinden, was
bie Folgen diefer Verhältniffee Die Vorforge
Baronin hatte fie nicht zu befämpfen vermodht,
nad) dem Tode der Tante, ald dad Mädchen
mehr und mehr auf fich felbft gewieſen ſah,
en biefe Fehler nur um fo tiefer in ihr Wur⸗
jefaßt.
Sie hatte die heitere Gefelligfeit nicht ver-
n, welche früher das Xeben ihrer Goufinen
hönt. Da aber weder der Onkel in feiner Zus
jezogenheit, noch Cornelie in ihrer wachfenden
tentfremdung daran dachten, ihr einen gleichen
endgenuß zu bereiten, fo beftärfte fie diele
zachläffigung in dein Gedanken, daß es für
in Unglüd geweien, in Berhältniffen erzogen
verben, für die fie nicht beftimmt fei. Halb
Nefignation und Vernunft, halb aus trogen-
Verletztheit, befchloß fie alfo, ſich nicht mehr
ein gleichberechtigtes, fondern als ein dienft-
40
bares Mitglied des Haufes anzufehen. Iene Be
forgungen, bie fie bisher aus freier Neigung
übernommen, behandelte fie jetzt als ihr obliegende
Pflihten, welche zu erfüllen fie fi als eine
That der Dankbarkeit und Selbftverleugnung
anrechnete, und während der Baron und die nädj-
ften Sreunde des Haufes, Augufte um ihrer magd⸗
lichen Dienftbarfeit willen liebgewannen und prie
fen, entwidelte fich in ihr ein befchränfter Hoch⸗
muth, der die eigenen haͤuslichen Leiſtungen als
das Weſentliche, alles geiſtige Streben aber als un⸗
weſentlich für eine Frau betrachtete. Unfaͤhig He
lene oder Gornelie in ihren Vorzügen zu erreichen
oder bdiefelben vergeffen zu machen, bildete fie in
ſich mit dem nie fehlenden bewußtlofen Inſtinkte
enger Frauenſeelen jene Eigenfchaften aus, weldye
bei den Coufinen niemald in Anfchlag gekommen
waren, und in denen fie ohne Nebenbuhlerin und
ohne Bergleihung dad Feld behaupten konnte.
Sie ward Hausfrau aus Gelbfterhaltungstrieb
und eigenfüchtig aus demfelben Grunde; benn ber
Egoismus ift die Waffe, dad Horn, der Stachel,
ben die Natur dem Menfchen mitgegeben hat. Er
41
in dem großen Charakter Bedingung und
bei feiner Wirkfamfeit, in dem Fleinen Noth⸗
r, und diefe NRothwehr des Schwachen wird
feich der Widerftand für den Starken, damit
as Material, in und mit dem er arbeitet, nicht
ſchnell verbrauche. Beichränfte Menfchen find
ım meift von einer zähen Ausdauer, an ber
Energie von Riefenfräften ftumpf und mübe wird.
Auf ſolche Art fanden der Baron fowohl, als
hard und Georg ſich auf Augufte angewieſen.
h die Hausfreunde gewöhnten ſich daran,
junge fiebenzehnjährige Mädchen als bie
rtbin des Haufed anzufehen, bie überall aus⸗
chend, vorforgend und vermittelnd, fich Allen
ntbehrlihh zu machen wußte. Vor Allen
rde dem Lieutenant ein Bedürfniß, der die Eins
nigfeit des Baterhaufes im hohen Grade
end fand, während die alte Familienordnung
boch nöthigte, die Abende fo viel als thun⸗
in demſelben zuzubringen, und der Wunſch,
ı Baron die beginnende Bereinfamung des
erd weniger cınpfinden zu laflen, ihn von felbft
u vermochte. Rückhaltslos Hatte er bei allen
42
Gele genheiten e8 Eornelien zum Vorwurf gemadht,
daß fie über ihrer perfönlichen Genugthuung, über
ihre neuen Freunde ihre natürlichen Pflichten und
ihre Familie vergefle. Er hatte fie getabelt, daß fie
Auguftend Jugend ohne alle Freude dahinſchwin⸗
ben laffe, und wie er ſich dadurch bie Schwefter
entfrembete, war in dem Herzen ber Goufine eine
dankbare Hinneigung zu ihm erwachlen, bie alle
jene Borforge, welche fie den Anderen aus Pflicht⸗
gefühl bezeugte, für ihren Beichüger mit freudiger
Liebe übernahm. Sie Iernte feine Ideengänge
fennen, fie wußte, wann ber Augenblid gefommen
war, die Unterhaltungen zwifchen Water und
Sohn mit irgend einem Scherze zu unterbrechen,
ehe fie den Punkt erreichte, auf dem die Anfich-
ten der Männer ſich feindlid) entgegen traten, und
faft fein Tag verging, an dem fie Georg nicht
auf irgend eine Weife zu verpflichten wußte,
Ueberlegt, vorfichtig und fparfam, befaß fie gerade
die Eigenſchaften, welche dem Lieutenant fehlten,
der fie bald zur Bertrauten der Verlegenheiten
machte, in bie fein heftiger Eharafter ihn verwidelte.
Genöthigt, Zerftreuung außerhalb des Haufes
43
ſuchen, wobei der Umgang mit Larfien ihm
rberbli) war, hatte zugleich die fortfchreitenbe
reiheitöbewegung im Südweſten des beutichen
saterlandes ihn in ihre Kreife gezogen, und bie
nfichten des Doctord in ihm einen gelehrigen
nd enthuftaftifchen Schüler gefunden, ber ſich
arin geftel, die neu erworbene Einftcht der ftets
eundlich zuhörenden Augufte und dem herans
achſenden Richard zugänglih zu machen, um
ch lehrend ber erworbenen Erfenntniß deutlicher
mußt zu werben.
Bei Mädchen und Frauen gilt aber bie Theil
ahme für eine Idee häufig nur dem Manne,
er fie vertritt, und fo vermochte Augufte den
jeiprächen ihres Vetters mit Freude zuzuhören,
ine Hoffnungen und Befürchtungen zu den ihren
u machen, objchon fie die vollftändigfte Gleich⸗
ültigfeit hegte für die Fortfchritte des Conſtitu⸗
ionalismus, während der jüngere Richard das
Hedeihen deſſelben als einen Triumph der englis
hen Geſetzgebung über die deutſche anfah, und
ih dafür begeiftern Fonnte. Kaum zmölf Jahre
it bei dem Tode feines Vaters, Hatte der Stolz
44
auf die Nation, der er angehörte, fchon fo tiefe
Wurzel in dem Knabenherzen geichlagen, daß
die fpätere Erziehung in Deutichland in ihm
das Selbftgefühl des freigebornen Engländers nicht
mehr zu unterdrüden vermochte, und mehr, als
der Kieutenant e8 gewahr wurde, ftachelte des Kna⸗
ben ftetd mit Entzüden gefprochenes: „ich bin ein
englijcher Bürger! * die Unzufriedenheit Georgs mit
feinen eigenen Berhältniffen auf.
‚ Wißbegierig, wie Richard ed war, fand er in
Plefiend Vorliebe für England auf ihren tägli-
hen Spaziergängen Gelegenheit, fich über bie
Gefege und Zuftände des Landes zu unterrichten,
dem er angehörte, und in dad er zurüdzufchs
ten gedachte, fobald feine Schulbildung beendet
und cr in dad achtzehnte Xebensjahr getreten fein
würde, Sein Vater Hatte es angeordnet, daß
dad Handlungshaus in Liſſabon bid zu des
Sohnes erlangter Großjährigfeit fortgeführt wers
den und ihm dann die Beſtimmung freiftehen
ſollte, ob er es auflöfen oder ald Chef in bafjelbe
eintreten wolle, wie benn auch die Wahl feines
Berufes ihm vollfommen freigeftellt und übers
45
upt nur die unerläßlichfte Bevormundung für
ı feftgefegt worden war. Nach einer ausdrüds
en Beitimmung des Teftamented hatte Richard
feinem vierzehnten Geburtstage erfahren, daß
ber Erbe eined großen DBermögens und ber
ie Herr feines Willens fei, während ihm zu
icher Zeit ein Schreiben ſeines Vaters uͤber⸗
ben worden war, das ihn in den einfachften
db männlichfien Ausdrüden erinahnte, bie ihm
wordenen Borzüge würdig zu brauchen. „Du
teft ohne die Nothmwendigfeit der Dienftbarkeit
bad Leben,” fchloß es, „es ift Niemand ba,
: Dir zu gebieten hat, Du ftehft allein unter
3 Geſetzen Deines edlen Baterlandes, fobald
u aus der Bormundfchaft Deines Onfeld ent
fen fein wirft. Benuße beine Jugend, Did)
f zu madjen für das Leben, und bebenfe, daß
rade Deine Unabhängigkeit Dir die Pflicht aufs
egt, fie ald Mann, als Engländer und als
entleman würdig zu gebrauchen!” "
Diefe Erziehungsweife, fo fehr fie fih im
egenfate zu den Anfichten des Barond befand,
Berte auf Richard die günftigfte Wirkung. In
46
einem Alter, in welchem die Knaben in Deutich-
land faft noch ausſchließlich mit den Spielen ber
Kindheit befchäftigt find, blidte der junge Eng⸗
länder, wenn er fi) mit Luft der Gefellichaft ſei⸗
ner Kameraden überlafien hatte, hinüber zu dem
mächtigen Injelvolfe, von deſſen weltbeherrſchen⸗
der Macht, von defien freien Bürgern zu bören,
ihn tiefer erfchütterte, ihn gewaltiger erhob, ale
die Gefchichtderzählungen aus der Borzeit es ver⸗
mochten. Die Begeifterung, welche und aus ber
Bergangenheit quilit, ift unfruchtbar gegen ben
fortzeugenden Enthufiasmus, ‚den eine würbdige
Gegenwart in und erregt. Bon Jugend auf zu
wifien, daß auf jedem Punkte der Erde feine
Perſon unverleglich fei, fo lange er durch Fein
Verbrechen fich des Schutzes der Gefjege unwerth
mache, zu wifien, daß die mächtigfte Nation der
Erde, in ihrer Geſammtheit, jede ihm zugefügte
Unbill räche, dad waren Gedanfen, welche ber
Knabe mit freudeftrahlenden Augen ausſprach;
und auf dem Boote, das er ſich nad) einem engli=
fchen Mufter hatte bauen laffen, umher zu ru⸗
dern, die englifche Flagge über feinem lodigen
47
Haupte, das flößte ihm eine Wonne ein, unter
fein junges Herz fich in ſtolzen Ecylägen fchwellte,
So ftanden die PVerhältniffe im Haufe, als
Maskenball, der im Anfange des Winters
tfinden follte, die allgemeine Theilnahme ers
te, weil man mit demfelben die Anweſenheit
es der Prinzen zu feiern gedachte. Der Baron,
ſich in diefem Falle den Fefte nicht entziehen
ınte, hatte der Tochter erklärt, dem Balle
wohnen und fie und Auguſte hinführen zu
Üen, war aber bei @ornelie auf Widerftand
toßen. Sie wendete ihm ein, daß fie feit dem
de ihrer Mutter von dergleichen Zerftreuungen
wöhnt fei, fie entfchuldigte fi) mit ihrer Uns
t an denfelben, ald jedoch der Baron auf feinem
unfche beharrte, und ihr vorbielt, daß es ihre
licht fei, fich feinem Willen und dem Bergnü-
t der ſtets bdienftfertigen und felbftlofen Cous
e zu unterordnen, da brach Cornelie verftums
nd in Thränen aus.
„Was fol das?“ fragte der Baron, „Du
ißt, daß ich an meinen Kindern die Schwäche
Weinens nicht ertragen mag!”
38
unauslöfchlichen Eindrud gemacht. Sie fürchtete fich
vor dem Vater, fie ſchaͤmte fich feiner. Es dünfte fie,
ald ob alle Augen mitleidig auf fie blidten, als ob
jeder gewohnte Beweis ber Zärtlichkeit ihrer Tante
fie entichädigen folle für das Unglüd, die Tochter
eined ſolchen Vaters zu fein, und ald ob das
Mädchen, das zu ihrer Bedienung angewieſen
war, fie von Stunde an nicht mehr wie fonft,
fondern mehr wie ihred &leichen anfähe und bes
handelte, worin fie fich nicht täufchte.
Ein Gefühl unverdienter Demüthigung, eine
mißtrauifche Angfl, man könne fie an ihren Vater
erinnern wollen, blieben ihr davon zurüd,. und
während fie felbft faſt niemals von ihm ſprach,
hegte fie doch ein unaufhörliches Mitleid mit fei-
ner und ber Seinigen Bedrängniß, wenn fie
des Ueberfluffes gedachte, der fie umgab und den
fie theilte, Weil ihre fchmerzlichften Erfahrungen
fich an ihren Vater Inüpften, wähnte fie, alles
Leid Fönne den Vienfchen nur von biefer einen
Seite fommen, und aus diefem Empfinden hatte
fie einft an Friedrich, als fie ihn an jenem Weih-
nachtöabende fo niedergefchlagen mitten in ber
39
weinen Freude erblickt, die Frage gerichtet,
e noch einen Vater habe?“
ine frühreife Cinfiht in des Dafeins
yfale, eine gewiſſe trodene Altklugheit und
auriger Ziwiefpalt in ihrem Empfinden, was
e Folgen diefer Verhältniffe. Die Vorforge
aronin hatte fie nicht zu befämpfen vermocht,
ad dem Tode der Tante, ald dad Mädchen
ehr und mehr auf fich felbft gewielen fah,
biefe Fehler nur um fo tiefer in ihr Wur⸗
faßt.
ie hatte die heitere Gefelligfeit nicht ver»
‚ welche früher das Leben ihrer Coufinen
int. Da aber weder der Onfel in feiner Zus
wogenheit, noch Eornelie in ihrer wachfenden
ntfremdung daran dachten, ihr einen gleichen
dgenuß zu bereiten, fo beftärfte fie Diele
hläffigung in dem Gedanken, daß «8 für
ı Unglüd geweſen, in Berhältniffen erzogen
ben, für die fie nicht beftimmt fei. Halb
Tefignation und Vernunft, halb aus trotzen⸗
erletztheit, befchloß fie alfo, fich nicht mehr
n gleichberechtigtes, fondern als ein dienſt⸗
50
werben würben, was dem Reichen gegen ben Ars
men, bem Glüdlichen gegen ben Leidenden zu thum
obliege. Der Berein follte in biefen Zeiten ber
Verwirrung und bed Hafles der Stände, ein aus⸗
fühnendes Bindemittel zwifchen ihnen berftellen,
und der Adel ald die Stütze bed Thrones follte,
dad war mein gegen Deine Mutter ausgeſproche⸗
ner Grundfag, ohne Anfprud auf Anerfennung
im Stillen daran arbeiten, ven fittliden Boden
zu befeftigen, auf dem allein der Thron in fichrer
Ruhe fih erhebt.“
„Diefer fittlihe Boden grade, mein Vater!“
fiel ihm Cornelie in’d Wort, aber der Baron
ließ fie nicht enden.
„Unterbridy mich nicht!” fagte er fireng und
fuhr dann fort: „Ich billigte ed, daB Du bie
Oräfin an die Epibe,ded Unternehmens ftellteft,
denn Du Fannteft meine Anficht, daß es einem
Mädchen nicht gezieme, mit ihrem Namen in die
Deffentlichkeit zu treten. Ich geftattete Dir, in Deiner
Lebensweiſe einfachere Gewohnheiten, in Deiner
Kleidung größere Schlihtheit anzunehmen, weil es
in unferen Zeiten nüglich ift, fich bebürfnißlos
51
adyen. — Aber ich verbiete Dir von Dies
Stunde ab bie Theilnahme an dem Hülfe-
te, denn ich fehe, was ich bereitö vermuthet,
br auf Abwege gerathen feid, daß ihr euch
ligiöfe Spielereien verfenkt habt, die ich mißs
e und denen id ein Ende gemacht Haben
weil fie Deinen gefunden Sinn, weil fie
Urtheil, dad wir klar erzogen haben, bereits
veit verwirrten, daß Du Deine nächfte und
jest einzige" Pflicht vergeffen Eonnteft, bie
ht des Gehorfamd gegen mid. Du haft
andere, . Erfülle fie, Cornelie!“
Sr gab ihr bei diefen Worten die Hand,
> Erfolges gewiß und alfo zum Berzeihen
Borhergegangenen bereit, aber er hatte ſich
iſcht, denn er hatte nicht auf die Kraft in
elien gerechnet, die der Fanatismus verleiht.
Meine einzige Pflicht ift der Gehorfam gegen
!* fagte fie feft, „und wenn ich geftellt werde
yen Menfchenwillen und den Willen meines
pfers, darf mein Herz nicht fehwanfen. Du
‚ mein DBater! haft mich durch das Sacra-
der heiligen Taufe zur Nachfolge des Hei⸗
4
52
landes geweiht, wie darfft Du mich hindern ihm
nadyzuftreben?”
„Laß die Phrafen, Eornelie!* rief der Baron,
„fie mögen Bewunderung erregen vor den Ohren
Deiner Freunde, mir find fie leeres MWortgepränge.
Du fennft jegt meinen Willen. Du entjagft von
heute ab der Theilnahme an dem Vereine und
Du begleiteft Augufte zu dem Balle! Es wird
Dir leicht werden, Deine Verblendung zu erkennen,
fobald Du Dich wieder in dem Dir zufommenden
Zebendgleife bewegen wirſt.“
„Das werde ich nicht, mein Vater!“
„Cornelie!“
„Ich werde und ich darf es nicht, mein Va⸗
ter!“ wiederholte ſie.
„So werde ich Dich zwingen es zu thun!“
„Zwingen?“ fragte Cornelie, „wie iſt das
moͤglich, Vater?“
„Du verläſſeſt von heute ab nicht ohne mein
Wiſſen das Haus, und empfaͤngſt keine Beſuche
ohne meinen Willen.“ |
„Die Einfanfeit ift eine Gnade für den, mit
dem ber Geift des Heilandes if. Er wird bei
53
in und mein Troſt allezeit; ich danfe Dir,
Vater!“ fagte fie, Tüßte dem Baron bie
und verließ dad Zimmer, befeligt durch das
ztſein eined Märtyrihums.
er Baron blieb zurück mit dem Gefühle
Mannes, der die Grundpfeiler feines Haus
t wanfen fehen. Ein Herrfcher, an deſſen
fein Volk die Hand gelegt, mag fid) immer⸗
och ferner von Gottes Gnade nennen, der
Hlaube an feine Höttlichfeit ift doch verloren.
hoffte der Baron zu fiegen, aber daß er es
Nothwendigkeit eines Sieges fommen lafs
rftörte in ihm das Bewußtſein der Unfehls
, in der das Geheimniß feiner Kraft ges
Er hatte fein Kind auf falfhem Wege wan⸗
offen, er war nicht die Borfehung feines
3 gewefen, dad gab Cornelien dad Recht,
höhern Willen ald den feinen zu verehrten.
e bereute die Mebereilung, mit der er fich zu
Drohung hinreißen laffen, welche er auszu⸗
; weder gefonnen, noch im Etande war.
lange konnte er dieſe Claufur über feine
r verhängen? Sie von dem Orte zu ent
54
fernen, würde er ſich um fo weniger entſchloſſen
haben, je mehr er fie feineg Leitung bebürftig
glaubte, und fie zwingen, fich den gefelligen Freu⸗
ben und ben früheren Lebensgewohnheiten wieder
zu überlafien, war unmöglicdy, denn der Zwang
fann Bieled hindern, aber Nichts beförbern, wenn
er nicht zu phyfifchen Gewaltmitteln feine Zuflucht
nehmen will. Dem Auge feiner Freunde, dem
Auge der Dienerfchaft den Zwielpalt funbzugeben,
der fi zwifchen ihm und feiner Tochter aufger
than, hieß für ihn eine Niederlage eingeftehm
und fich der gewohnten Waffen freiwillig beraus
ben. Wenn er anderfeitd Comelien die Genug⸗
thuung des Xeidend für ihren Glauben gewährte,
erhob er ihr Selbftbewußtfein und ihre Bedeu⸗
tung in der Werthfchägung ihrer Sinneögenoffen.
Zum erften Male entfchloß er fich zu einem Wider⸗
rufe, aber fein Schritt dünfte ihn wanfend, als
er dad Zimmer feiner Tochter betrat, und tiefe
Bläffe lag auf feiner verbüfterten Stirne.
Cornelie war mit weiblicher Arbeit befchäftigt.
Sie erhob fich bei feinem Eintritt mit einer Foͤrm⸗
licheit, die ihn Falt berührte, weil fie ihm zeigte,
55
ß es Worte und Handlungen giebt, die bem
rigſten Verhaͤltniß einen nie mehr auszugleichen,
ı Schaden zufügn. Mit dieſer erzmwungenen
werbietung hatte noch Feines feiner Kinder je
e ihm geftanden. Sie erfchütterte ihn auf das
effte, und mit bewegter Stimme fprady er:
Ih fomme, Dir zu fügen, daß ich meinen
fa ändere. Ich will Deiner Einficht nicht
ewalt anthun, aber ich fordere von Dir ftrenge
rüfung beflen, was Du Deinen Glauben
nnft, und ich werde Dir Gelegenheit bieten,
: zu üben. Du bift Herr Deined Kommend und
ehens wie zuvor, ich dispenfire Dich für dies⸗
al von dem Balle, denn Du bedarfft allerdings
e Sammlung, um Dir Ear zu machen, wohin
u Di verirrt haſt. Komm zum Thee ber
iter.“
Damit wendete er ſich ab und ſchritt langſam
e Thuͤre zu, auf einen Dank, wie auf ein zus
gendes Wort der Tochter rechnend. Es ward
ht gefprochen. ornelie felbft erfchraf vor ih⸗
m Schweigen. Es war öde und kalt in ihrem
nern, und mit herazerreißenver Klarheit empfand
56
fie, daß man den nicht lieben kann, der unum⸗
ſchraͤnkte Macht hat über und. Bor ter Gewalt,
auch vor der edelften, vermag ber felbftbewußte
Menſch allenfalls Ehrfurcht zu fühlen, aber Liebe
erwaͤchſt und befteht nur in der Freiheit. Men⸗
fchen und Bölfer, die ihren unbefchränften Herrn
zu lieben fähig find, geben dadurch ein Zeuge
niß ihrer Unreife und Unbeftänvigfeit. Der Bas
ter und die Tochter empfanden ed, daß fie in
biefer Stunde ſich an ber Orenzicheide ihres bis⸗
herigen Berhältnifies befanden, und daß fie über-
fchritten fei. Indeß Nichts verriet) Außerlich den
Bruch mit der Vergangenheit, ja es trat jene
Schonung zwifchen ihnen ein, weldye bie fehlende
Sicherheit bezeichnet, und als ob gar Nichts vor⸗
gefallen wäre, wies ber Baron feine Nichte an,
bie Vorbereitungen zu dem Magfenfefte für. fid)
allein zu treffen.
Augufte hatte ftetd einen felbftquälerifchen Ges
nuß darin gefunden, von ben Luftbarfeiten fprechen
zu hören, an denen fie nicht Theil nahm. Jetzt,
da ber Onfel ihr freigebig eine namhafte Summe
zur Verfügung ftellte, ihre Garderobe zu beſchaf⸗
57
n, lehnte fie das reiche Anerbieten mit ter Er⸗
rung ab, fie wünfche Fein Eoftüm anzulegen,
deſſen Herrlichkeit fie fich felbft wie eine Maske
infen würbe, und da man eine Reihenfolge von
eutfchen, italienifchen und franzöfifchen Opern
arzuftellen beabſichtigte, bat fie den Lieutenant,
ie nöthigen Schritte zu thun, damit ihr die Rolle
es Afchenbrödel überlaffen werde.
Die fpielende Weife, in ber fie den Wunſch
usſprach, ftand ihr fo vortrefflich, als fpäter die
erwählte Tracht. Das fchlichte graufeidene Ges
wand, dad Käppchen von ſchwarzem Sammet
paßten vollfommen zu ihrem weichen blonden Haare,
zu ber mehr frifchen und fräftigen ald eblen Ges
ftalt, und als fie am Abende des Feſtes zu dems
felben gefchmücdt, in das Zimmer trat, rief Richard
gegen Georg gewendet mit Verwunderung aus:
„Sieh doch, Georg! Augufte ift ja wirklich Hübjch
Auch der Lieutenant bemerfte es zum erften
Male, fo daß in Auguftens Freude über die Bes
wunberung ihrer Vettern ſich ein Fränfendes Ges
fühl über die Nichtbeachtung mifchte, ber fie feit
bem Tode ihrer Tante anheimgefallen war. Ihr
58
Stolz empörte fi) dagegen, und während das
bunte Getreibe eines Maskenballes fie umwirbelte,
während der Glanz, die Luft, die ſich bewegenden
phantaſtiſchen Geftalten ihre Sinne aufregten und
verwirrten, Fam ihr urplöglich der Gedanke, dem
Schickſal abzutrogen, was der jugendliche Leicht-
finn ihres Vaters ihr entzogen hatte — Uab⸗
hängigfeit und den Genuß bed Lebens,
Jede neue Erfcheinung in der Gefellichaft,
wenn ihr der Reiz der Jugend zu Hülfe kommt,
hat den Borzug, die Aufmerffamfeit der Männer
zu erregen, und das junge Mädchen fah fich in
einer Weife gefucht, an der die Theilnahme des
Lieutenants fid, entzündet. Was man gefchäßt
fieht, wird erftrebenswerth, und fremdes Urtheil
beftimmt für die Mafle den Preis der Dinge wie
ben eigenen Werth. Georg huldigte ber Goufine
mit dem vertraulichen Anrecht ihres gefchmifter-
lichen Lebens, aber Augufte hielt fi) zurüd.
Das machte ihn ungeduldig, er ward dringender,
fie ſah es und lachte über ihn, denn fie erfannte
die Macht, die jedem Weibe innewohnt und be-
ſchloß fie zu benugen. Sie fchien hingeriffen von
59
‚ae ungewohnten Freude, aber ihr Sinn war fo
mädtig auf einen Punkt gerichtet, daß Nichts fie
davon abziehen, Nichts fie zerftreuen konnte von
dem einen Plane. Sie wollte nicht mehr die Dies
nende Vertraute ihres Vetters fein, fie wollte
fein Weib werben, er follte ihr die Stellung und
ben Genuß bed Lebens geben, die fie begehrte.
Und war es nicht ſtets unbewußte Liebe geweien,
bie fie für ihn empfunden hatte? Bedurfte er ih-
rer nicht? fo fragte fie fih, während ihre Blicke
heiter leuchteten, als läge jeder ernfte Gedanke
ihr in weiter Ferne, als fühle fie nicht, welchen
Erfolg fie gehabt, als hätte dieſer erfte Sieg fie
nicht zu neuem Siegenwollen aufgeftacdhelt.
Aber in ihren Träumen, ihren Wünfchen. und
Planen ward fie durch eine ungewöhnliche Bes
wegung unterbrochen. Man trat in Gruppen
zufammen, man lachte, es wurden Worte ber
Mißbilligung laut, dann plöglid hatten eine
große Anzahl von Perfonen, Alle faft zu gleicher
Zeit, geichriebene Blätter ausgetheilt erhalten,
bie in wisigen Epigrammen bald die Empfän-
ger felbft, bald andere Perſonen geißelten. Je⸗
60
dem waren fie durch einen Zettelträger überges
ben, und zwar an ben verſchiedenſten Stellen bes
Saales und in allen Nebenzinimern auf einmal; fo
daß viele Perfonen in ber gleichen Maske fidy dem
Geichäfte unterzogen haben mußten, überall fand
man noch Blätter auf dem Boden liegen, und
Eines überbot das Andere in witiger Spötterei,
in bitteren Surfasmen. Eine Menge befannter und
doch nur ungern preiögegebener Verhaͤltniſſe war
in den Epigrammen bloßgelegt, Privat⸗ und öffent
liche Zuftände fanden ihren Richter, und während
fie die allgemeinen Inftitutionen vom Standpunkte
einer fehr radicalen Anfchauungsweife, der fpot-
tenden Kritik anheimgaben, geißelten fie unbarm⸗
herzig die höchften Beamten der Verwaltung und
des Militairs,
Die allgemeine Beftürzung mußte den zu bie
fem Unternehmen Berbündeten die Zeit gelafien
haben, zu entfommen, Niemand hatte vorher
bie Maske eined Zettelträgerd wahrgenommen,
dann war fie an allen Enden aufgetaucht und
eben fo fpurlo8 verſchwunden. Selbft dem Prin⸗
zen hatte man ein Epigramm zuzuftellen gewußt,
61
ihm bie empfangenen Huldigungen als eine
: erlafiener Befehle verdächtigte, und die all-
ine Mipftimmung ward noch dadurch um ein
s gefteigert, daß dieſes Ereigniß grade in
nwart des jungen FBürftenfohnes Statt gefun«
hatte. Dean verfuchte über die Störung fort«
iimen, aber e8 war nicht moͤglich. Der Prinz
6 ben Ball, der fommanbdirende General,
befonderd heftig angegriffen war, begleitete
andere Perſonen, welche ähnliche Unbill er-
n hatten, folgten Jenen, nach furzer Zeit
der Ballfaal verlafien, das Felt beendigt.
118 Augufte fih endlich in ihrem Schlafcabis
‚ dad Herz vol Wünfche, den Geift vol
‚e, zur Ruhe nieberlegte, trug fie Vermuthung
ch, die fie nur fich felbft geftand.
Drittes Kapitel,
Der Vorgang auf dem Balle brachte die ganze
Stadt in Bewegung, überall ſprach man von ben
Spigrammen, und felbft in den Kreifen, welde
ven Theilnehmern an dem Feſte fern flanden,
fannte man ſchon am nächften Tage den Inhalt .
der Spottgedichte und recitirte fie an allen Eden
und Enden. Noch- in der Nacht des Ballce
hatte man den Hauswart und die aufmartende
Dienerfchaft vernommen, man hatte an den fols
genden Tagen die Lohnkutſcher verhört, die Epi⸗
gramme waren gefammelt, die verjchiedenen Hand⸗
ſchriften derfelben verglichen worden, ohne daß es
zu irgend einer Spur geleitet hätte, Trotz dem
63
ſtellte fich die allgemeine Vermuthung bahin
daß ber Streih von Militairperfonen qus⸗
ngen fein müffe, weil es beſonders bie uns
ünftige Strenge des Kamafchendienftes, ber
rdrüdende Einfluß der Disciplin und die Eins
zloſigkeit, Pebanterie und fonftigen Mängel
öheren Offiziere gewefen waren, die ber Spott
härfften hervorgehoben und gegeißelt Hatte.
Schon lange war man darauf aufmerffam ,
rden, daß ſich eine Anzahl jüngerer Offiziere
yaar Mal wöcentlih, angeblich zu wiſſen⸗
tlichen Vorleſungen verfammelte, die aber
; in wilden ©elagen ihr Ende fanden, Georg |
ber Stifter diefed Vereines, Larfien ber Lec⸗
yeffelben, und Vorträge über alte Gefchichte
Poeſie Anfangs allerdings ber Zwed ders
n geweien. Indeß nach furzer Zeit waren die
mäßigen Vorlefungdftunden in freie Unterhal-
en verwandelt worden, und Larſſen's Beleuch⸗
en ber antifen Welt, hatten die Köpfe ber
en Männer mit einem Gährungsftoffe ange
‚ ber in ben engen Schranfen der Disciplin
den Raum zu abflärender Entwidlung fins
64
ben Eonnte, und ſich alfo in vielfahen Maßlo-
figfeiten, in ohnmaͤchtigem Trotz und unmwilligem
Sehorfam Fund gab. Dur Mittelofigkeit und
Rückſichten mander Art im Dienfte feftgehalten,
fi) gegenfeitig fteigernd in ber Unzufriedenheit
mit ihrer Lage, und wie bie meiſten Menſchen
geneigt, lieber die Härte des Schickſals als bie
eigene thatenſcheue Schwäche anzuflagen, warb
‚eine Theorie der fpottenden Weltverachtung,, jes
ned wüften Weltfchmerzes, unter ihnen Mode und
Lord Byron ihr Held.
Feder von ihnen liebte ed, fi) mit dem Dich⸗
ter, dem fürftlichen Grafen, dem freigeborenen
Engländer zu vergleichen, der trog ber Vorzüge
jeined Genies, feiner Verhältniffe und feines Va⸗
terlandes, ſowohl an den eigenen Mängeln als
an ben Borurtheilen feines Volkes untergehen
mußte, und Niemand bebachte, wie fo gar feine
Aehnlichfeit obwalte zwifchen dem wüften Unbes
Hagen eined Seconbelieutenantd in einer beutfchen
Garnifonsftabt, und dem Lebensfchmerze eines
fürftlihen Genies mitten in dem Strom ber
Welt und feiner Zeit. Träume von idealen Zu-
65
en, in denen ber freien Manneskraft feine
ranke die Entfaltung wehren follte, wurden
e der Zucht einer Disciplin verfündet, gegen
je von den jungen Herren felbft eine um
; Viertelzolles längere Haarlode ald ein Ver⸗
en angefehen wurde, bad zu begehen fie
wagten. Welt» und Menjchenverachtung,
tt gegen alle beftehende Ordnung waren in
Munde, während man die Avancementliften
'Altig verfolgte, und jene Entfittlichung, welche
ausbleiben kann, wo die Außeren und inneren
yaltniffe des Menfchen fi) durch feine Schuld
:genftehen, hatte fo tief unter den jungen Offi⸗
n Play gegriffen, daß man es ihnen wohl
men durfte, fich felbft und ihre Lebenslage
nädtig in anonymen Padquillen zu vers
en.
Des Barond Widerwille und Verachtung ges
die Urheber dieſes Vorganges Eonnten den
ven nicht verborgen bleiben, und der Ge⸗
e, Georg könne Theil daran haben, Fönne
Zorn feines Vaters auf ſich ziehen, ließen
uften feine Ruhe, Sobald fie fih an einem
Wandlungen. U. 1»)
66
ber folgenden Tage allein mit ihrem Better fah,
trat fie vor ihn hin, nahm feine Hand und fagte:
„Sch habe eine Frage auf dem Herzen, Georg,
bie ich nicht wagen würde, Eönnte ein Anderer fie
Dir thun? Kann ich Dir nicht helfen?“
„Mir Helfen? und wozu?” entgegnete ber
Lieutenant.
„Haft Du Nichts auf dem Herzen, Georg?“
forfchte fie weiter, während mädchenhafte Befan-
genheit ihre Stimme beben ließ, denn fo fehr
fie das Alleinfein mit dem Better auch gewohnt
war, machte ed fie heute verlegen, weil fie es ges
fucht hatte.
„Auf dem Herzen habe ich Nichts, Augufte;
aber ich glaube wahrhaftig, idy habe im Herzen
was für Di, ich glaube, ich habe mich neulich
auf dem Balle Knall und Fall in Dich verliebt!“
„Scherze nicht, ich bitte Dich,” rief fie, wäh
rend eine dunfle Röthe ihre Wangen fürbte, „ich
bin in Todesangft um Di. Haft Du dad Pas-
quill gemacht?”
„Hältft Du mich für ſolchen großen Dichter?
Das jchmeichelt mir, denn ich finde es prächtig!”
67
Haft Du das Pasquill gemacht?“ wieders
fie dringender.
Kein!" antwortete er ihr.
Da fei Gott dafür gedankt! das wäre bed
{8 Tod gewefen und — —“
Sie ſah den Lieutenant an, er war blaß ges
en. „Du haft es gemacht!” rief fie er
fen.
Und wenn dad wäre, thörichtes Kind?”
Dann würdet Du caffrt — —“
Und ich wäre freil” unterbrach fie der Lieute-
mit Falten Tone.
Aber der Vater! der Vater!“ mahnte das
hen. |
Des jungen Manned Stirne verdüfterte fich
7, Augufte weinte. „Du bift fehr gut, Au⸗
“ fagte er.
Dich caffirt, Dich im Gefängniß zu wiffen,
ie, „das überlebte ich nicht!”
der Wehruf tiefen Schmerzes fchlug an das
bed Dffiziered. Er war im Zimmer umber
ıgen, jest blieb er plößlich vor dem Mädchen
ı und fah es betroffen an. Sein forfchendes
y*
68
Auge verwirrte die Aufgeregte bis zum Unertrag-
baren, und in dem Gefühle, fich feinem Blicke zu
entziehen, warf fie fi) an feine Bruſt, fafſungs⸗
[08 die Worte wiederholend: „ich überlebe ed nicht!”
Er hörte ihr Herz an dem feinen Flopfen, bie
ſchoͤne Geftalt hing an feinem Halfe, und als
entzünde ihn plöglich ein eleftrifcher Funke, fo
fett ſchloß er fie an ſich. „Liebſt Du mid, Aus
gufte?” fragte er.
Sie antwortete nicht, aber fie weinte und
hatte feinen Kuß gebulbet, als fie Schritte im Vor⸗
zimmer hörten. Der Better ließ fie los und fie
entfchlüpfte, während ed an bie Thüre bes Ge-
maches Flopfte und Larſſen hereintrat,
„Hört uns hier Jemand?” fragte er. Der
Lieutenant verneinte. „Ich komme von Deinem
Vater, der mich rufen laffen, und habe Dir eine
Mittheilung zu machen. In einer Stunde fine
deſt Du mich zu Haufe, fei aber pünktlich!“
Damit entfernte er ſich, als wolle er nicht in
ber Gefellfchaft des Lieutenantd gefunden werden
und verließ dad Haus.
Georg folgte ihm um die angegebene Zeit.
69
» Larfien im Schlafrod audgeftredt in
Iten Lehnftuhl liegen, den er, wie das
Robiliar, aus dem Schiffbruch feines frü-
bend gerettet hatte, und deſſen funftreiches
igwerf auffallend gegen das hie und da
n berabhängende Leder contraftirte, aus
nwand und Roßhnar durcheinander her⸗
en. Auf der Marmorplatte feines Tijches
und lagen leere Bierflafchen und Bücher,
und Haarbürften umher, fo daß der Ein-
die peinlihe Ordnung, welche ber Bes
feinem Zimmer fonft feft zu halten pflegte,
vermißte,
en hatte fih eine Pfeife geftopft und
ie Rauchwolken behagli in bie Luft.
Bater ift ein fonderbarer Mann!” das
ie Worte, mit denen er den Offizier em«
nd ohne ihm Zeit zu einer Trage zu lafs
te er hinzu: „Ich denfe fchon die ganze
über diejenigen Elemente der Menfchen-
ih, aus denen dad Weſen der Racen be-
yenn ed ift etwas Myſtiſches um die Ras
find unzerftörbar!*
*
70
„Aber was hat das mit meinem Vater ges
mein?“ fragte der Andere gefpannt.
„Ich ſage Dir ja, daß er mid) grade erft dar⸗
auf gebracht hat, liebes Kind! Die Raceneigen-
thümlichfeit ift unzerfiörbar, Dein Vater ift bie
Probe von dem Factum. Das gefällt mir an ihm.“
„Was gefällt Dir?” rief der Lieutenant noch
eifriger, „überwinde Deine contemplativen Schrol⸗
len, Zarfien! Was ift vorgegangen ?”
„Es liegt in der ganzen Ariftofratie noch Et⸗
was von dem ritterlichen Geifte des: la bourse
ou la viel und Dein Bater hat diefen Zug in
einer Weife, die mir Achtung einflößt. Aller
Radicalismus hat etwas Reſpectabeles!“
„Du bift unerträglih, Larſſen!“ fehalt der
Andere, aber Jener ließ ſich nicht aus feiner Ruhe
bringen. Mit hoͤchſtem Behagen ftopfte er bie
Pfeife nah, dehnte fih in feinem Seſſel und
meinte: „Weil ich endlih ein Mal die Luft ges
nieße, die aus dem Nichtbefigen entfpringt, weil
ich zum erften Male mich der philofophifchen Un-
abhängigfeit mit Freude bemußt werde, zu ber
mein Leben mich geführt hat, und weil ich nicht
71
bereit bin, dies wohlthuende Gefuͤhl um
twillen aufzuopfern, ſchiltſt Du mich uner⸗
ch. Das Gluͤck erzeugt gleich Neider! —
ic könnte Dir in dieſer Stunde wie Dioge⸗
agen: „geh mir aus der Sonne!”
ein ganzed Geſicht lächelte in dem Ausdruck
er Zufriedenheit, indeg Georg unruhig im
er auf und niederging, wohl wiflend, baß
Larfien in folhen Stimmungen gewähren
muͤſſe. Auch rauchte er noch eine Weile
fort, ehe er, gegen den Lieutenant gewendet,
ınhob: „Heute Morgen, wie id) eben aus
Schule fomme und die Erercitienblicher meis
tinderchen vor mich hinlege, kommt Euer
ann und beftellt mir, Dein Vater wolle mich
en und zwar wo möglich gleich. Ich ziehe
nur den Schulrod aus und begebe mid)
fhuldigft auf den Weg!" —
ırffen machte paffend und rauchend eine
, ©eorg trommelte vor Ungebuld mit den
m auf der alten politurlofen Marmors
des Tiſches. „AB ich hinkomme,“
Jener dann fort, „finde ich Deinen alten
72
Herren allein. Er hatte feine ganze landftaͤndiſche
Phyfiognomie angenommen, und ed ift wahr, ed
liegt dann etwas Princieres in feinem Weſen.
Er nöthigte mich zum Sopha, das fiel mir auf,
und fagte dann ohne alles Preambuliren: „Sie
wifien, lieber Larfien, weshalb ich Eie fommen
laffen. Die Sache mit den Pasquillen ift mir
fehr fatal. Georg ift, das fteht bei mir feft, das
rin betheiligt, aber und Beiden ift ed befannt,
daß er nicht Verſe machen fann. Die Berfe find
von Ihnen!”
„Run?“ fragte Georg.
„Run,“ entgegnete Zarfien, „ich fand biefe apo⸗
biktifche Verhoͤrsweiſe fehr auffallend, ſo fehr, daß
fie wirflich nahe daran war, mich perpler zu mas
hen. Indeß nod) während ich mich befann, vor
welchem Richterftuhle der alten ober der neuen
Melt eine foldhe Art ded Verfahrens vorgefoms
men fein Fönnte, fchnitt er meine Betrachtung
plöglih ab, „Sch laſſe die Sache an und für
fi) ganz dahingeftelt fein. Ich erlaube mir auch
nicht, Ihnen meine Anficht darüber auszusprechen,
jagte er, ich verlange nur, daß Sie ſich willig
73
n laflen, fie zu applaniren, denn mich bünft,
ald der ältere Dann, ald der Erzieher meis
Sohnes hätten ſich zu ſolchem Unweſen nicht
tlaffen follen!“
tarfien fuhr fih, als er fo weit gekommen
‚ mehrmald mit der Hand durdy dad Haar,
die Weſte zurecht, Flopfte die Pfeife aus und
» fi, fie neu zu ftopfen. „Und das Ende
Liede?“ drängte Georg.
‚Das läßt fi ohne die Zwifchenglieder gar
geben, lieber Sohn} und Du kannſt es ab»
n, da es Did Nichts angeht. *
Da e8 mid Nichts angeht? Ach denfe, Du
ſt, wie nahe es mich angeht?“
eines Weges! warte nur das Ende ab, —
inte Deinem Vater im Grunde nicht fo Uns
ben, ich glaube fogar, ich fühlte eine Ans
g von Neue oder gar von Scham, aber
fie nicht auffommen in mir, denn Spi⸗
Recht, die Scham ift eine Schwäche.
n ed Deinem Vater gar nicht auf meine
ıgen anzufommen, fondern nur auf meine
Er ift coneret in folden Dingen.
7A
„Wie die Sachen liegen, fagte er, ift es, da viele
Perſonen um den Srevel, fo nannte er es, wiſſen
müflen, unzweifelhaft, daß die urfprünglicen
Thäter, die Urheber und Berbreiter dieſer Epi⸗
gramme, in kürzeſter Zeit befannt werden. Sit,
als Privatperfon, trifft dabei nur eine gewoͤhn⸗
liche Geld» oder Feſtungsſtrafe, die Offiziere aber
fommen vor das Kriegögericht, und bei der Frech⸗
heit, mit der die Pasquille ſich gegen bie Vorge⸗
festen, ja felbft gegen die Regierung äußern, droht
den Theilnehmern des Complots eine weit: fchwer
tere Etrafe, wo nicht Baffation. Zu biefer Au
fiht haben Sie Georg verholfen!" — Ich fah
ihm an, daß bie princiere Phyfiognomie mit
ber väterlichen Kränfung, ja felbft mit Ruͤhrung
fampfte, und daß ich Dir es Furz geftehe, ver
Menfh hat wunderbare Momente, es Fam eine
Rührung auch über mid, Dein Bater that mir
leid, man fieht ed, daß Gornelie ihm Kummer
macht, ich fam mir miferabel vor, daß ih Dich
nit abgehalten, in diefe Patſche Hineinzulaufen.
Es war mir opferburftig zu Muthe und idy fragte,
was ich für Dich thun könne?“
75
Es handelt fich nicht allein um meinen Sohn, *
er, „die Söhne mehrerer angefehener Yamis
find von gleicher Strafe bedroht. Eie ha-
mir vor längerer Zeit den Wunſch ausge⸗
yen, in Paris zu leben. Gehen Sie nad)
z1u
Was Fannn das helfen, Ercellenz?” erlaubte ich
ju fragen.
Es rettet alle Mebrigen!” —
Wie das, Ercellenz?“
Man ift, ich weiß es, nicht begierig, den
hen Geift zu documentiren, der unter ben
ieren Platz gegriffen bat, und fo ftrafbar
verdammendwerth die Sahe war, würde
ficher den Eclat einer maffenhaften ftrengen
afung ber Offiziere vor den Gemeinen gern
eiden. Indeß die Gerechtigkeit und die Ges
yaft fordern ein Opfer, und Sie follen es ihr
en!”
Diefe Intention war klar und deutlich aus-
ochen, bündig auch, aber noch immer ver-
ich nicht, wie dad mit meiner Reife nad)
3 zufammenhängen Fönne, bis Dein Vater
76
— — — —
mir ſagte: „Lehnen Sie die Autorſchaft der Epi⸗
gramme nicht von ſich ab. Man iſt auf Ihrer
Spur und wird Sie zum Verhoͤre ziehen. Laͤug⸗
nen Sie nicht, decken Sie die Anderen und gehen
Sie vor der Entſcheidung nach Paris. Sie haben
geſagt, mit zweitauſend Franken getrauten Sie
fi) in Paris zu leben. Ich garantire Ihnen die
Summe für zwei Jahre!”
Da der Lieutenant überrafcht war, hielt der Andere
inne, „Nicht wahr,“ fagte er, das „confternirt Dich
auch. ES ging mir ebenfo, — — Der Vorfchlag
leuchtete mir ein, aber id) Eonnte ihn nicht gleich fo
faffen, wie man feinen gewohnten Bierfrug an⸗
faßt, ich mußte mir erft Paris vorftellen und
mich in Paris. Aber da war ed, wo dad ebels
männijche la bourse ou la vie! dann plößlich
burchbrach in dem Alten. Er war ganz ruhig
und gelafien gewefen all die Zeit. Nun fuhr er
auf: „Sie Haben zwei Alternativen, fagte er,
hier dad ©efängniß, denn die Geldftrafe würde
zu hoch fein für Ihre Mittel, und in Folge des
GSefängniffes die Unmöglichkeit des fpäteren Wies
bereintrittes in die Schulen, an denen Sie unterrid)s
n
77
— — — — —
— dort für zwei Jahre, an dem Orte Ihrer
hnuſucht, eine geſicherte Eriftenz und die Moͤg—
‚feit, fih in neuen Berhältnifien eine ehrenvol
— er fagte nicht ehrenvolle, merfe daß,
fi) eine ehrenvollere Zufunft zu begründen.
ihlen Sie!”
„Und Du haft?“ — — rief ber Lieutenant.
„Ih Habe mir Bebenfzeit ausgebeten!“ ant«
rtete Larſſen, fih an der Verwunderung feines
ıgen Freundes ergößend, während dieſer felbft
ı über fein perfönliches Empfinden faum Res
nfchaft zu geben wußte.
MWie man dazu gekommen war, ben erften
danfen zu dieſen Spottgedichten zu faffen, wie
an bie Einfälle des Einen die Maßlofigfeit
db Tollfühnheit des Anderen gefteigert hatten,
b Keiner vor dem Unternehmen zu warnen ges
‚gt, aus Furcht für muthlos angefehen zu wers
i, dad Alles wußte er fich nur theilweife klar zu
hen. Es Liegt in ſolchen Handlungen eine
treißende Kraft, die und fchnell vom Urfprung
ſeres Wollens entfernt und und immer über
fer Ziel hinaustreibt. Dieſe Epigramme und
18
das Bertheilen derfelben, worauf man fo großen
Werth gelegt und von denen man fidy eine Auf
fehen machende und felbft nachhaltige Wirkung
veriprochen hatte, wurden im Publifum fchon nach
wenig Tagen von den Einen als ftrafbare Frech-
heit, von den Anderen als ein thörichter Jugend-
ſtreich angeſehen, ohne daß irgend Jemand ih-
nen eine tiefere Bedeutung beizulegen dadjte. Der
Doctor, an beffen Urtheil dem Lieutenant vor-
zugsweife gelegen war und von dem er Lob zu
hören erwartet, tadelte den Leichtfinn, Petarden
abzufeuern vor dem Angriff und den Feind zu
alarmiren. Georg felbft aber war zu gut erzo-
gen, um nicht Reue zu fühlen über die, gegen den
fürftlichen Befucher verübte Tactlofigkeit, und über
den Bruch des Gaftrechted gegen denſelben. Ob
der Lieutenant ſich damit gefchmeichelt, man werde
die Verfaſſer nicht entdeden, was er fich übers
haupt gedacht, mochte er fich jegt nicht eingefte-
hen. Die gewollte und die vollbradyte That fe-
hen fich in dem Auge des Thäterd oft gar nicht
mehr gleih. Er fchämte fi vor feinem Bater
der Rolle eines PBasquillanten, ald hätte er einen
79
uchelmord begangen. Selbſt die oft auöges
ychene Behauptung, er wolle der Entdedung
) fein, wenn fie ihn nur befreie aus dem
ange des Soldatenlebend und ihn aus feiner
terftadt entferne, bünkte ihn jetzt Vermeſſenheit,
er eine den Sohn entehrende Beftrafung über
ı Haupte feined Vaters ſchweben fah, und
juſtens Liebe ihm plögli das Verweilen in
Heimath wuͤnſchenswerth gemacht hatte, |
Dennoch fträubte ſich fein Ehrgerühl ebenfo
dagegen, die Schuld auf fremde Schultern
wälzen, als ihn die Art verwundete, in wel-
der Baron, gleich einer allmaltenden Vorſe⸗
g, fih der Sache bemeiftert hatte. Er ver:
hier ihm feine Sorgfalt nicht zu danfen., Es
fte ihm leichter die eigene Schuld zu büßen,
ſich willenlos wie ein Knabe, durch das Zus
n eined Anderen, vor der Strafe bewahrt zu
n, und bies letztere Gefühl behielt Die Oberhand,
„Sch hoffe, Du wirft nicht gehen!” rief er
, ald Larſſen fchwieg.
Diefer ſah ihm befremdet an. „Weshalb
t?“ fragte er.
80
„Alfo wirft Du gehen?“
„Das babe ich nicht gefagt! Denn daß id
Dir es ehrlich geftehe, es reizt mich grade, fo
die Wahl zu haben!“
Georg zudte die Achfeln, Larfien beadhtete
ed nit. „Ich habe mir immer gebacht, wenn
id) einmal dad große 2008 gewönne”, fprady er,
„9 würde ich erft mit dem Bewußtfein meines
Reichthums einen Tag noch ganz in der gewohnten
Weife leben, um mir des Unterfchiebes zwiſchen
meiner Gegenwart und Zufunft recht fcharf bes
wußt zu werden. Dann würde ich mich in Chams
pagner betrinfen, mich jchlafen legen und mit dem
tefpectabelen Bemwußtfein jedes reihen Mannes
mid) am andern Morgen als ein ehrbarer Menſch
von meinem Lager aufrichten. Laß mich heute
noch der alte Larfien fein, ich werde Dir mors
gen weiter Antwort jagen!”
„Keiner von Allen nimmt es an, Did) fort:
ſchicken und fi) fo begnadigen zu laſſen!“
„Ohne Weiteres Seder!” meinte Larfien.
„Beftände mein Vater nicht darauf,” rief der
Lieutenant, „ich Fönnte den Gedanken — — —“
81
und fügte Hinzu: „id würde folchen
für unmoͤglich halten,”
‚glih, daß Einer Buße thut für bie
iner Freunde? Was feheint Dir daran
ih? Hat doch der Heiland die Sünden
auf fid) genommen, und die Menich-
fih Gott verföhnt dadurch. Weshalb
zaubern ein Märtyrer zu werden, unb
der falfhen Babylon Paris für Eure
ran dad Kreuz fchlagen zu lafien? Ich
e ein guter Menſch!“
(ug dabei fein heijered Lachen auf, ſtreckte
. im Xehnftuhl liegend, über die Xehne
n Stuhle® und blied die blauen Rauch⸗
it folhem Entzüden in die Luft, daß
anfah, wie glüdlich er fich fühle.
ieutenant ging während deſſen im Zim⸗
und nieder, Ploͤtzlich blieb er ftehen.
ıte der Sache mit einem Schlag ein
ben!” rief er aus.
das?“ fragte der Andere,
n ich hinginge und mid) ald das Haupt
nehmens nennte.“
ngen. IL. 6
82
„Welch abgeichmadte Smitation Karl Moor's!
Wenn man dad Haupt abfchlägt, laͤhmt man bie
Glieder! Bedenke, lieber Sohn! daß Deine Strafe
audy- die Deinen träfe, und daß Du mir die Wol-
luft diefe® Tages, die Ausficht raubteft, in Paris
ein ehrenvollereß Leben, wie's Dein Bater nannte,
zu beginnen, Nur in der Grammatif bilden zwei
Negationen eine Bejahung, im Leben macht man
eine Dummheit nicht durch die zweite Dummheit
todt.“
Georg ging wieder auf und ab im Zimmer,
aber was er auch gegen bie Abfichten ſeines Bas
ters fagen mochte, Larfien wußte es von feinem
Standpunfte aus zu widerlegen, und man fam
endlich darin überein, auch die Uebrigen zu bes
fragen und ed von dem Willen der Mehrheit abs
hängig zu machen.
Ad der Lieutenant in feine Wohnung zurück⸗
kehrte, fand er einen alten Wachtmeiſter ſeiner
wartend, der ihm in Dienſtſachen eine Meldung zu
machen hatte. Nachdem der Rapport zu Ende war,
blieb der Alte noch ſtehen. Georg hatte ihn lieb
und die ganze Escadron ſah ihn als ihr Orakel
83
. Unerbittlich und felbft tyrannifch im Dienfte,
r er nacfichtig und mitleidig gegen die Leute
db half mit Rath und That bereitwillig aus,
nn ein Burfche außerhalb deſſelben in irgend
Iche Verlegenheit gerieth. Ohne Neugier oder
dringlichkeit wußte er Alles, was in der Ess
ton paffirte, und felbft die Abenteuer der Offi⸗
re waren ihm nicht unbekannt, obfchon Niemand
jugeben vermochte, auf welche Weiſe er fie ers
tr. Denn er lebte meift für fi), und feine Er⸗
ung beftand darin, Hunde zu breiliren und
gel abzurichten, wenn er am Tage Pferde zus
itten und Recruten ererzirt hatte. „Er fei eins
l zum Lehrmeifter geboren,” fagte er von fh
ft. |
Den Lieutenant Hatte er ſchon als Fleinen
Knaben gekannt, denn der Wachtmeifter war einft
der Burfche feines Onfeld und mit dieſem häufig
auf dem Stammfchlofle geweien, ehe der Obrift
von Heidenbrudf dad Regiment verlaffen und ſich
in Steinfelde niebergelaffen hatte. Daß wieder ein
Herr von Heidenbrud bei den Euiraffieren eingetres
ten war, hatte dem Alten zu einer befonderen Genug⸗
6*
84
thuung gereiht, und wie er dem Onfel, unter
dem er die Campagne durchgemacht, mit Leib
und Seele ergeben war, fo hatte er auch den
Lieutenant von erfter Stunde an in Affection ges
nommen. |
Einen Augenblid ſchwieg der Alte, dann fagte
er: „Der Herr Lieutenant von Maſſenbach hat
Malheur mit feinem Fuchs!’ |
„So? was ift ihm gejchehen?‘ fragte Georg.
„Er war mit ihm am Strande, da haben fie
ihn nicht abgewartet, wie er ankam, und ba iſt
bad arme Vieh verfchlagen, daß es ein Sammer
und 'ne Schande iſt.“
„Iſt denn Nichts damit zu machen?“
„Glaub's kaum, er wird Faput fein; und
fo 'n prächtiges Thier. Er konnte noch vorige
Woche fiebzig Friedrichsd'or dafür Friegen |”
Damit ſchien die Sache erledigt zu fein, und
Georg, der in fich beichäftigt war, hatte Feine
Neigung, weiter mit dem Wacdhtmeifter zu verkeh—
ren. Diefer bemerkte dad wohl, ohne fich jedoch
zu entfernen, fo daß Georg ihn endlich fragte,
ob er ihm noch Etwas zu fagen habe?
85
3a, Herr Lieutenant!’ antwortete er näher
d und den Helm abnehmen, „ich hab’ was
em Herzen, was ber Wachtmeifter freilich
icht raus nehmen darf, dem Herrn Lieute⸗
zu fagen, aber ich benfe, ihr alter Exerzir⸗
e vom Gut darf es Ihnen wohl jagen!‘
r legte den Helm auf einen Stuhl, als
er mit der Aufhebung der reglementsmäs
Tracht auch fein Dienftverhältnig ab, und
n dad Fenſter tretend, an dem Georg fi
gelaffen hatte, fagte er: „Herr Lieutenant!
it gar Nichts zu fagen, wenn die jungen
n über die Schnur hauen, das fchadet gar
3144
Wie fommft Du darauf? If Etwas pafs
fragte Georg, der außerhalb ded Dienftes
Bachtmeifter, wie als Knabe, auch jest noch
u nennen liebte,
Baffirt fo recht eigentlich ift Keinem Etwas,
Lieutenant! — Aber wenn der Bulldog,
ch jest für den Hauptmann von Werns⸗
n Drefjur genommen babe, merkte, daß mir
mmen ift, jo wol’ ich nicht mehr einen
86
Groſchen für meine alten Hände geben, Wenn
fo ein Vieh weiß, daß es beißen Tann, fo beißt
es auch, und ber Soldat, der gemeine Mann, ift
nicht viel beſſer!“
„Was bat das aber mit den Dffizieren zu
thun?“
„Sehen Sie, Herr Lieutenant! der gemeine
Mann denkt: leben und leben laſſen. So 'n Han⸗
bel mit einem Frauenzimmer, oder einmal Lärmen
und Sfandal, oder ein Glas über den Durft,
das gefällt ihm gut, er thät ed auch, wenn’
ginge. Aber da oben, da muß Nichts gerudt
werden und gerührt! Wenn die Herren Offiziere
nicht mehr an den General wie an ihren lieben
Herrgott glauben, da ift im Regiment der Satan
08, und der Teufel holt die Mannszucht, halten
zu Gnaden!“
Der Lieutenant war betroffen. „Was fagt
man davon?’ fragte er.
„Das Sagen wollt ich ihnen wohl verboten
haben !’’ rief ver Alte, „aber feit die Kerle leſen
fönnen und alles ungewafchne Zeug in den ver
bammten Zeitungen gebrudt wird, ba friegen fie
87
fahren, mehr ald ihnen Nutz ift, und id)
te den Herm Lieutenant bloß gebeten haben,
tachen, daß es davon ftil wird. Das Exem⸗
ft Alles im Regiment!’
Sr nahm bei diefen Worten feinen Helm wies
wf, und fchicte fich zum Fortgehen an. Da
teutenant ſchwieg, drehte er nochmals um,
hts für ungut, Herr Lieutenant!’ fagte er.
‚Im Gegentbeile! ich danfe Dir, und Du
Recht!“ entgegnete der Lieutenant, dem bie
te des Wachtmeifters das Blut in die Wans
trieben,
Nie einfache Ermahnung dieſes Mannes
te ihn erſchrecken. Sie wirkte tiefer auf ihn,
yätte fein Vater oder einer feiner Vorgeſetzten
bie Unmöglichkeit vorgeftellt, die militairifche
nifation ohne Disciplin aufrecht zu erhalten,
trotz feines alten Widerftrebend gegen bie
drigung des Menfchen zu willenlofer Folg⸗
it, überfam ihn zum erftenmale der Refpect,
alles in fich organifch Beftgegliederte dem
unen Betrachter einflößt. Diefe Organifation
perfönlihen Mißempfinden angetaftet zu has
88
ben, ohne daß er ein Beflered an ihre Stelle zu
fegen gewußt hätte, beihämte ihn und bünkte ihn
ſelbſt jet Enabenhafter Leichtfinn. Er fühlte, daß
er feinem Eide zu nahe getreten fei, und baß ed
nicht immer darauf anfomme, durch einen Act ber
Buße feinem Gewiſſen und feinen Ehrbegriffen zu
genügen, fondern daß es hier feine Pflicht wäre,
ſich fchweigend felbft zu vergeflen, wo es galt,
die mangelnde Achtung der Offiziere. vor dem
Chef, die fehlende Ehrerbietung vor ben Inſti⸗
tutionen zu verbergen.
Biertes Kapitel,
— — —
Faſt um dieſelbe Zeit, in welcher dieſe Ereig⸗
die Ruhe in ihrem Vaterhauſe ſtörten, war
in Helenens Leben einer jener Wendepunkte
etreten, die innerlich lange vorbereitet, dennoch
ploͤtzlich zu kommen ſcheinen.
Mehr als ſechs Jahre waren nach ihrer Ents
ung aus dem Baterhaufe, nach ihrer Ankunft
Reapel vergangen, das fie nur einmal verlafs
hatte, um die Familie ihres Gatten in Frank⸗
ı fennen zu lernen. Weder ihren Water nod)
8 ihrer Befchwifter hatte fie wieder gefehen,
Erich auf feiner großen Reife fie im erften
re ihrer Ehe in Neapel befuchte, und nur ein
s
90
häufiger Briefwechfel Hatte fie mit den Ihrigen
zufammengehalten, ber mehr und mehr an Ber
traulichfeit verloren, je fchwerer die Sinnesart
bed Barond und Corneliens religiöfe Richtung
mit den Berhältniffen der Gräfin zu vereinen
waren.
Jetzt, da die heiße Jahreszeit vorüber, hatte
fie ihren Sommeraufenthalt in Caſtel a Mare
beendet, und wieder das Geſandtſchaftshotel in Nea⸗
pel, den jchönen Palaft an der Riviera bezogen, ber
gegen den PBaufilipp hin gelegen, die Vorzüge ber
Refidenz und die vollen Reize der Natur zugleid
zu genießen geftattete,
Der October, der im Norden ſchon den Wins
ter ahnen läßt, bringt in jenem glüdlichern Clima
neued Leben und Werden, wenn bie Regengüfle
den vom Sonnenbrande burcdhglühten Boden ger
tränft und zu frifcher Thätigfeit erfräftigt haben.
Die Bäume grünen wieder in glänzender Blätter
fülle, die Orangen bringen ihre Blüthen in we
nig Tagen neu hervor, die Palme hebt ftolzer
ihre Fächerarme in die Luft, Alles treibt, wächft,
blüht, duftet und funfelt in Farben, und felbft
91
Meer fcheint voller und reicher zu wallen,
er und höher binaufzufchäumen an den Fuß
Felſenſtrandes.
56 war die fechöte Abendſtunde und die Hitze
Tages vorüber, als man alle Fenſterthuͤren
Palaſtes öffnete und die Gräfin, von einem
ne gefolgt, auf die Terraffe trat. Die Sonne
Südens hatte auch fie gereift, ihre Anmuth
zirkliche Schönheit verwandelt. Ihre Züge
n an Feſtigkeit gewonnen, der Teint an Farbe
Kraft, die Kippen waren voller, die Augen
jender geworden und bie ganze Geftalt zeigte
; feltenen Adel und eine ftrahlende Lebens⸗
luch betrachtete ihr Begleiter fie mit Entzüs
wie fie bahinfchritt in ihren luftigen, weißen
ändern, hie und da an einem Blumenbeete
eilend, um jene dunfelrothen Nelken zu bres
bie Lieblingsblume der Neapolitaner, bie fie,
Strauß vereint, an ihren Buſen ſteckte.
118 fie dann auf und niederwandelnd ihre
n weithin ſchweifen ließ über das blaue
, hinüber zu dem ruhenden Vulkane, veffen
92
Rauchfäule ſich im Lichte glänzend und weißröthlich,
wie eine japanifche Lilie zu dem tiefblauen Hims
mel erhob, fagte fie: „Diefe Stunde ift mir ftets
eine der liebften ded ganzen Tages, denn immer
wieder überwältigt mid), wenn ich aus dem Füh-
len Schatten meiner Zimmer Abends hinaustrete,
die wundervolle Schönheit diefer Natur. Dies
Land jemald zu verlaffen, dieſe Ratur zu entbehs
ren, wäre mir der größte Schmerz!“
„Das Geſtaͤndniß ift verrätherifh Frau Grä-
fin!* fagte der Cavaliere mit jener einfchmeicheln-
den und doch beherrichenden Baritonftimme, die
den Stalienern eigen und des Eimdrudes auf Frauen
fo gewiß ift. Ä
„Verrätheriſch?“ wiederholte Helene y „und
weshalb?’
„Wer, fo jung, fo ſchoͤn wie Sie theure Graͤ⸗
fin! feine ganze Befriedigung aus der Natur zu
Ichöpfen fi gezwungen fieht, dem bietet das Le⸗
ben fein Glück. Vor dem Zauber der Liebe er⸗
blaſſen die Reize der Natur.“
Die Gräfin wendete das Auge ab. „Und doch lie⸗
ben Sie dieſe Natur ſo tief als ich!“ entgegnete ſie.
93
‚Sch bin ein Mann, Signora! und dies ift
Vaterland !’‘
‚Stauden Sie das Weib weniger empfänglich
eine Schönheit, weniger gemacht, ſich zu er-
ı.arn den Wundern der Natur, der Kunft und
Yefchichte, die ung in Italien umfangen ?”
Der Gavaliere war ihr näher getreten und
fi) wie fie auf die Baluftrade geftügt, fo
feine Hand faft die ihre berührte, „Wozu
zhraſe, theure Gräfin!’ ſprach er, „die an jene
franzöftfche Schule erinnert, welche das Weib
Manne machen möchte. Für Emancipas
gedanken find Sie zu jung und viel zu ſchön!“
‚Wozu die Phrafe, Don Camillo? Für Coms
ente, wie jede Goldonifche Komödie fie und
t, find Sie nicht gemacht, und ich wenigftend
e, von ſolchen emancipirt zu werden!” ahmte
hm nad).
‚Run denn, Gräfin! da Sie den Scherz nicht
n laffen, eine ernfte Frage, Wie fonnten Sie
Ihre Hand vergeben ohne Ihre Neigung ?‘‘
‚Das geht zu weit!‘ rief die Gräfin beftürzt,
er gab Ihnen ein Recht zu diefer Frage?’
—
94
„Ihre leivenfchaftliche Begeifterung für Ratur
und Kunft, und meine Theilnahme!“ erwiberte
er und ergriff ihren Arm, den er in ben feinen
legte, während er fie langfam mit ſich fortführte,
um ihre beabfichtigte Entfernung zu verhindern.
Trotz ihrer Weltgewandtheit fühlte die Gräfin
fi) verwirrt, denn die unberechtigte Gewalt, die man
gegen einen Menfchen ausübt, hat etwas Bannen-
bed. Noch ehe fie ihm zu antworten vermochte, fagte
er: „Wären Sie ein Weib wie alle anderen, ed
ſollte mich nidyt kümmern, daß Ihe Leben fi
von bleihen Träumen, von Gebilden der Phan⸗
tafie emährt; aber Sie find Künftlerin, Signora!
und der Künftler kann nicht fchaffen ohne bie
Sonne ded Glückes!“
„Eine Frau fol Nichts fein, ald das Weib
ihres Mannes!’ fpottete Helene,
„Der Sraf hat Recht,‘ fagte der Cavaliere,
der diefe Behauptung felbft aus dem Munde ih—⸗
red Gatten vernommen hatte, „Eine Frau braucht
Nichts weiter zu fein, wenn fie das glüdliche
Weib ihres Mannes if. Sind Sie glüdlid,
Signora?”
95
Ihre Farbe wechſelte ſchnell, fie fchwieg einen
zenblid, fah ihn dann feft an und ſprach mit
reßter Stimme ein entfchiedened „Nein!“
„Und waren Sie e8 je an feiner Seite?”
„Nein!“ wiederholte die Gräfin, „und id)
de es nie fein. Ich habe verfucht, es zu vers
en, ich babe mich zu überzeugen geftrebt, daß
nicht zum Glücke geboren, daß Entfagen,
den, fi) mit Unvollfommenen begnügen unfer
8 ift. Aber Hier, hier‘ — und fie legte die Hand
das Herz — „lebt die unwiderlegliche Gewiß-
t: der Menſch ift zum Slüde gefchaffen, und
re ed nicht fennen lernt, wer, ohne es vol und
genofien zu haben, durch dad Leben gehen
ß, der hat fein Xeben verfehlt, wie ich das meine |’
Ihre Wangen glühten, ihre Augen leuchteten.
war nicht die Wehmuth, fondern der Zorn
en ihr Geſchick, der aus ihr fprechend fie über-
ltigte. Sie felbft erfchraf darüber, als fie ges
et hatte, Der Cavaliere fchwieg, ed entftand
: lange Pauſe. Sie laftete auf der Gräfin,
„Warum fchweigen Sie,” fagte fie zornig,
ı Sie mich zum Sprechen hingeriffen haben!”
96°
„Weil ich Ihnen die Ruhe gönnen möchte,
ſelbſt den Schluß zu ziehen. Das ausgefprochene
Wort klaͤrt und innerlich auf, und macht uns zum
Betrachter unferer ſelbſt!“ -
„Sch hafle die Gewalt, die Sie über mich aus⸗
zuüben ſtreben!“ rief die Gräfin ungeduldig, „auch
wenn Sie fie in die befchönigenden Formen eine
ftügenden Rathes Eleiden
„Cosi äl’ egro fanciul porgiamo aspersi
Di soave licor gli orli del vas
Succhi amari ingannato intanto ei beve
E dal’ inganno sua vita riceve!“
antwortete der Cavaliere, feinen Lieblingsbichter
eitirend.
„E dal’ inganno sua vita riceve !“ wieberholte
die Gräfin nachdenfend, fehüttelte dann das Haupt
und fagte: „Aus der Täufchung erwädhft fein
Leben, Täufchen Sie mich nicht! wohin wollen
Sie mid leiten ?
„Durch die Kiebe zur Kunft; durch mein Glüd
zu dem Ihren!’ rief er, und blidte zu ihr hinab,
nicht wie ein Liebe begehrender Mann, fondern wie
ein Herricher, der eine Gnade verfündet, welche
man anzunehmen durch feine Macht gezwungen wird.
97
Er war .vollendet ſchön in feiner ſtol⸗
Männlichkeit. Sein Auge ruhte ernft und
nnend auf der Gräfin, feine Hand hielt
ihre feft umfchlungen, fie wagte nicht zu
ı empor zu fehen, denn fie fürdhtete ihn,
d doch ftrömten elektriſche Wellen eines ihr
nden Entzüdend durch ihr ganzes Weſen.
it dem Bemwußtfein, einem Zauber bingegeben
fein, fehlte ihr die Möglichkeit, ſich demfelben
entreißen. Gebannt durch feinen übermädhs
en Willen, bob fie endlih um Erbarmen fles
id die dunflen Augen zu ihm empor, in denen
chtende Perlen fchwammen, und mit leiden-
aſtlicher Kraft zog Camillo dad bebende Weib
feine Arme. Mit glühenden Lippen trank er
Ihränen, welhe Schmerz und Liebe ihr er-
Bten, bis fi) ein dumpfer Schrei ihrer Bruft
rang und fie fich losriß, in eiligem Schritte
n zu entfliehen.
Erft in der Stille ihres Gemaches fchöpfte
Athen. Sie hatte fih in einen Seffel nieders
vorfen und verhüllte das Gefiht mit den Hän-
. Ein fliegended Schaubern riefelte erh ihre
Wandlungen. I.
98
Glieder, ihr Bufen bob ſich krampfhaft, bis end»
lih ein Strom von Thränen ihrer Erfchütterung
zu Hülfe fam, und alle ihre Gedanken ſich auf
löften in dem Gefühl des Mitleides mit fich ſelbſt,
bie fchmerzlichfte Empfindung, deren bie Seele
fähig if.
Camillo war der erfte Maler Staliend und
Helenend Lehrer. Bald nad ihrer Ankunft hatte
er im Auftrage des Grafen ihr Bild gemalt, der,
ſtolz auf den Belig des jungen, fchönen Weibes,
es durch Pinſel und Meißel der erften Kuͤnſtler
verherrlicht fehen wollte. Und wie Helene als bie
junge rau eines älteren Gatten jchnell der Gegen:
ftand der Galanterie ihrer männlichen Alteröge,
noffen geworden war, fo machte ihre Schönheit
und ihr Intereſſe für die Kunft fie bald zum
Mittelpunfte der Künftlerwelt, die der Graf in
feinem Haufe befhügend zu verfammeln liebte.
Gefchmeichelt durdy die Bewunderung, welde
man Helenen zollte, hatte er ihr eine große
reiheit verftattet, und feit Jahren war in
feinem Geſandtſchaftshotel ein Salon gleich dem
der Gräfin St, Brezan zu finden geweſen. Sie
99
hatte fidy in diefes ihr neue Leben mit als
Glückesdurſt der Jugend, mit der Vergeſſens⸗
eined unbefriedigten Herzend hineingeftürzt,
fortgezogen durch die freien Sitten ber neapo⸗
iſchen Ariftofratie, Zerftreuung gefucht, da fie
Gluͤck gefunden hatte.
denn mit jedem Tage, ben fie an ber Seite
Brezan’d verlebt, war in ihr das Bewußt⸗
mehr und mehr gewachlen, daß fie niemals
geiftige Gemeinfchaft mit ihm haben fönne,
die Unterfchiede des Alters, der Erziehung,
yerfchiedenen Nationalität, auszugleichen wo
nzeln auftreten, hier, wo fie fich vereint beis
ven fanden, eine unüberfteiglihe Schranfe
hen ihnen bildeten. Der Graf nannte Helene
nental und überfpannt, fie hielt ihn für herzs
ınd jeder wahren Liebe abgeftorben, er bereute
eine Frau ohne Xebenserfahrung geheirathet
aben, fie empfand feine Welterfahrung, welche
r Ehe ohne Liebe ein bürgerliched Ueberein-
ven zu gegenfeitiger Förderung zu ehren ver-
te, als eine Unfittlichfeit. Während ber
, eiferfüchtig auf Helene, diefe Eiferfucht ver-
7*
100
ſchwieg, verargte fie ihm bie Freiheit, die er ihr
gewährte, obfchon fie diefelbe nicht entbehren mochte,
und mitten in den leichtfertigen Xebendgenüffen des
Kreifes, deſſen gefeierte Schönheit fie war, bem
fie Mode und Geſetze vorfchrieb, widerte ihr eige⸗
ned Dafein fie al8 ein leered und zerftörted an.
Troft bedürftig hatte fie Zuflucht gefucht in ber
Kunft, fie hatte gehofft, ſchaffend ſich über ſich
felbft zu erheben und ein ideales Dafein in ders
felben zu gewinnen. Ihre Studien waren vom
glüdlichften Erfolge gekrönt, ein Bild, das fie auds
geftellt, mit hoher Anerkennung aufgenommen wor
den. Die Bewunderung, welche man ihrem Ta
lente gezollt, hatte ihr wohl gethan, fie war reis
ner, felbftlofer gewefen als bie Huldigungen, bie
man ihrer Schönheit dargebracht. Sich ploͤtzlich
von den Künftlern als eine Genoſſin angefehen
zu wiffen, ihnen mehr ald nur ein begehrendwer-
thes Weib zu fein, hatte fie in eine neue Sphäre
erhoben und ihr eine Energie des Strebend geger
ben, die ihr ganzes Weſen fehnell veränderte, Sie
glaubte auf Liebe verzichten zu können, da fie die
Möglichkeit einer Fünftlerifchen Bedeutung vor fid)
101
Ihre Lebendgewohnheiten wurben ernfter, ber
ihred vertrauten Umganges gewählter.
ien in den Galerien, Arbeiten in ihrem Ate⸗
ahnen den ganzen Morgen hin, und mehr
mehr verlor ſich ihr raſtloſes Hafchen nad)
euung, feit ihr der Tag zu kurz erfchien für
Ihätigkeit. Ein edler Ehrgeiz war an bie
e ihrer Glücks- und Liebesfehnfucht in ihr
geworden. Aber diefem Chrgeize trat ber
ihres Oatten hemmend gegenüber.
‚eitel und zu ftolz, feine Kränfung zu verrathen,
age die Gräfin Herz und Phantaſie mit geſel⸗
Liebeständeleien ausgefüllt hatte, machte
Eiferfucht fich unverhohlen gegen alle Erfolge
d, welche fie ald Künftlerin errang. Ein
neben ſich zu wiflen, das einer perfönlichen
tung genoß, brüdte ihn ald eine Verkleine-
feines Werthes. Die Schönheit feiner Frau
ndert zu fehen, hatte ihm gefchmeicdhelt, denn
Schönheit war fein Eigenthum geworden,
Lalent, der Ruhm der Gräfin aber gehörten
ein, und man muß ftarf fein, um ohne
jefühl eine Macht neben fid, dulden zu Fön»
102
nen, und großherzig, um fi) daran zu freuen,
bag ein von und abhängiged Weſen eine freie
Selbftthätigkeit gewinnt. Männer von dem Cha
tafter und den Anfichten ded Grafen ertragen leich⸗
ter die Untreue, als die Berühmtheit einer Frau,
und faum hatten die Kunfturtheile in der Preſſe
den Namen ber Gräfin St. Brezan mit Auszeich⸗
nung hervorzuheben begonnen, als er ihr unter
dem Borwande, daß es einer Frau ihres Standes
nicht gezieme, fich dem Lobe oder Tadel ber Kris
tif zu unterwerfen, die Studien in den Muſeen
und das öffentliche Ausftellen ihrer Arbeiten vers
boten,
Ein ſolcher Schritt, doppelt ungerechtfertigt in
einem Lande, das feine Künftlerinnen auf dem
Capitole Frönt, Hatte Helene empört und ihre
ganze Hoffnung auf Don Camillo gerichtet, defien
lehrender Rath, deſſen Anerkennung ihr jett Erfah
gewähren mußten für bie verfagten Studien, für
die freudige Theilnahme des Wublicums, die fein
ſchaffender Künftler ohne Schmerz und Nachtheil
zu entbehren vermag.
Ein Wefen, in deſſen Hand bie Erfüllung un-
103
Wünfche gelegt ift, müſſen wir aber lieben
yaffen, je nachdem wir demfelben vertrauen,
es fürchten. Darin ruht dad Geheimniß
Irundvorftellungen aller pofitiven Religionen,
f beruht in vielen Fällen auch die Entftehung
ebe, Bon ber erftien Stunde ihres Begegs
mit dem Gavaliere, hatte die Gräfin mit Ers
n eine Willendfraft in ihm bemerkt, welche
folhem Grade an feinem anderen Manne
nommen. In den Sibungen zu ihrem
war ed ihr geweien, als gehe fie fich felbft
en, wenn fie von ihm dargeftellt werde, und
llo's Empfinden hatte dem entfprochen.
zas der fchöpferifche Menfch fo tief in ſich
wmmen hat, daß er es lebendig wiederzuges
ermag, das ift ihm einverleibt, und bie
ıende Kraft bed Kuͤnſtlers ift gewaltig und
rkend wie der Magnetismus. Camillo bes
te die Schönheit der Gräfin als einen koſt⸗
Erwerb für feine künftigen Werke, und ganz
ı wollen, was er in fih als fein geiftig
thum befaß, mußte für einen Mann natürs
cheinen, welcher fich feiner Gewalt über
104
Frauenherzen nur zu wohl bewußt war, Ein
glühende Leidenfchaft für die Gräfin, ber et fi
nicht Worte gegeben, hatte feit lange in ihm ge \:
lovdert, während Scheu vor dem Manne, Liebe |
für den Meifter, der ihr die Geheimniſſe der Kun
erichloß, fich in ihr zu einem Gefühle der Abhaͤn⸗
gigfeit verfchmolgen, über das ſich Flar zu werden
feine Herrfhaft fie verhinderte. Er fannte die
Frauen und er fannte bie Gräfin. Er wußte,
daß die Phantafte eines Weibes wirkſamer fpricht
zu Gunften ‘eines fchweigenden Verlangens, als
das berebetefte Wort des Liebenden, und auch jetzt
hatte feine Erfahrung ihn nicht getäufht. Was
er ber Gräfin nie geftanden, hatte fie vernommen,
was er ihr heute befannt, hatte fie in ihren Träus
men fchon von feinem Munde gehört. Sie hatte
bei dem Beginne ihrer Unterredung mit zitternder
Gewißheit den Ausgang derfelben vorhergefehen,
fürchtend und hHoffend hatte ihre Angft felbft ihn
befchleunigt, und doch fand fie ohnmädhtig ba
und vol Entfegen vor der Wirklichkeit.
Ihre Ehe war ein Treubruch gegen ihre Ju⸗
gendliebe, dieſe Liebe für Camillo war ein Che
105
uch. Wohin fie blickte in ihre Vergangenheit,
die Gegenwart oder in die Zufunft, fie fah ſich
mldig, ſchuldig ohne die Fähigkeit, fich bereuend
verdammen. Ihre Aufregung, ihre Angft gins
n in eine tiefe Traurigkeit über, Die fürftliche
usſtattung ihres Gemaches, ihre gewählte Kleis
ng, ſelbſt ihre Schönheit und der Glanz ber fie
ngebenden Natur vermehrten nur ihre Niederges
Hagenheit, Plaſtiſch felbft in ihrem Schmerze,
g fie die Smaragbnadeln aus ihren Flechten,
arf fie die Spangen und Bänder von fi, daß
r Schwarzes, aufgelöftes Haar ſchmucklos hernies
rfloß auf ihr filberweiß Gewand, und mit em⸗
rgehobenen Händen, wie zum Gebete nieberfin-
ad in die Kniee, weinte fie mit erftickter Stimme:
Muß ich denn elend fein durch Liebe!“
„Glückſelig folft Du fein und machen!” rief
neben ihr, und mit zärtlicher Gewalt hob Bas
Klo fie empor.
„Sie hier?” fragte fie bebend, fprang empor
® wollte fi) entfernen, aber der Maler hielt
zurüd, und ihr felbft ſchien ein anderer Gedanke
fommen,
106
„Bleiben Sie und erwarten Sie mid!” fagte
fie, „ich Eehre wieder, ed muß Tag und Friede
werben zwifchen und!* Damit war fie der Thüre
zugefchritten, weldye in das Innere des Hauſes
führte, als ter Graf, den fie erſt am folgenden
Tage von Caſerta zurüderwarten durfte, wo ber
König Hof hielt, ihr entgegentrat.
Ihr aufgelöfted Haar, ihre Verwirrung, ihre
thränenfchweren Augen konnten ihm nicht entgehen,
ein feharfer, Falter Bli flog nah Camillo hin⸗
über, Der Eavaliere aber verlor die Faffung nicht.
Ruhig und ftolz wie immer fchritt er dem Grafen ent
gegen, und auf Helene zeigend, riefer: „Nicht wahr,
Graf! die Gräfin ift anbetungswerth ald Desde⸗
mona! Nur noch einen Augenblid diefelbe Poſe!“
— Damit führte er fie zu einem Divan und bat
fie, Haupt und Arme in einer Stellung zu erhes
ben, die er angab.
St. Brezan blieb ftehen, betrachtete feine Ge:
mahlin und fagte dann: „Unübertrefflich audges
dacht, Don Gamillo! wer aber fol den ago,
wer den Othello machen im Tableau?“
„Sch werde nur die Desdemona malen,” ants
107
ttete der Künftler, „gerade darum durfte ich die
Afın bitten, mir für wenige Secunden die Gunft
fer Stellung zu gewähren! *
» Das trefflichfte Modell für das reine, fchuld-
: fterbende Weib!“ bekräftigte der Graf, und
jen Helene gewendet fügte er hinzu: „Ich muß
ch aber bitten, Deine Toilette arrangiren zu
en, ber Herzog von St. Angelo, der mich von
ferta herbegleitet, erwartet Dich mit einem Auf-
”e der Königin im Salon!”
Mit diefen Worten öffnete er die Thüre, nös
te den Maler ihm voranzugehen und verließ,
e Gemahlin weiter feined Blickes würbigend,
Gemach.
Fünftes Kapitel,
— — ——
Der Abend war in gewohnter Weiſe vergan⸗
gen. Bis tief in die Nacht hinein hatte die Graͤfin
die Beſuche ihrer Freunde annehmen muͤſſen, die
von ber nächtlichen Spazierfahrt auf dem Toledo
und auf ber Riviera zu raften, in ihrem Haufe
vorgefprohen waren. Der Gavaliere hatte ſich
unter ben Letzten befunden, welche fich entfernten,
und ohne ein Wort der Erörterung hatte der Graf
am Abende Helene verlaffen.
Auch der Morgen verftrih, ohne daß fie ihn
fah, und doc fühlte fie, daß es fo nicht zwifchen
ihnen bleiben fönne, daß eine fefte und entfcheis
bende Erflärung nothwendig geworden fei. Aber
109
Graf war ausgefahren, und fie felbft hatte
m beutfchen Künftler ihren Beſuch in ben
rgenftunden zugefagt, den zu machen fie nicht
ich unterlaffen konnte.
Mer fie fo durch die Straßen fahren fah, jung,
n, von dem gefhmadvollften Luxus umgeben,
nte nicht ahnen, wie fehmerzlich zerrifien fie
fühlte, Die Scene ded geftrigen Abendes,
Grafen Falte Verachtung, ded Malers fte bes
igender Schuß, das Verhalten diefer Männer
meinander und ihre eigene Stellung zwifchen
m beiden, flößten ihr ein Grauen ein. Diefe
erbrückten Leidenfchaften, die unter glatter Hülle
nur um fo vernichtender in dad Innere graben
Sten, je mehr ihnen der Ausdruck entzogen ward,
ngftigten fie, als läge eine Riefenfchlange
iſch Tauernd in ſcheinbarem Schlafe zu ihren
zen zufammengefauert, In dieſe Gedanken ver-
ft merfte fie plöglih, daß ihr Wagen ftille
id. Sie hatten Santa Lucia paſſirt und bes
den fich auf dem Wege nach dem Molo, deſſen
ändige Xebhaftigfeit ihr den Laͤrm nicht aufs
end gemacht hatte, welcher fie umgab,
110
Es war ein völliger Auflauf. Schreiende Las
zaroni, bie rothen Müsen auf dem ſchwarzen
Haar, in höchfter Leidenfchaft gefticulirend, Frauen
mit Zeichen des Entſetzens, des Mitleids in ben
Zügen, Polizeibeamten und die nie fehlenden Bet-
telmöndye drängten ſich durcheinander, daß man,
ohne ein Unglüd anzurichten, nidht vorwärts fah-
ren fonnte. Der Jäger war abgeftiegen und an
den Schlag getreten. Die Gräfin fragte, was es
gäbe.
„Ein Lazarone hat den Liebhaber feiner Frau
erftochen!* meldete der Diener, die geöffnete Was
genthür in der Hand; aber er hatte diefe Worte
noch nicht geendet, ald der ganze Strom der Volks⸗
maſſe ſich nach dieſer Seite richtete. „Nette Dich !
Kette Dich!“ Freifchten die Weiberftimmen, eine
Gaſſe ſchien in der Menge geöffnet zu werben
und fid) wieder zu fchließen, Slüche, Ermuthiguns
gen, Drohungen, Worte des Mitleids und Schimpf-
namen fchallten wild durcheinander, und wie aus
dem unerfaßbaren Aufruhr der Elemente plößlich,
als ihr hödyfter Ausdrud, der Blig herniederfährt,
jo ftürzte ein junges Weib fi) auf den Wagen
_ 41 _
‚ gefolgt von einem Manne, der wuthfchäus
id, fein Meſſer in der Rechten, ihr mit ben
rungen eined Tigerd folgte. Che der Diener
Schlag zumerfen Eonnte, hatte das Weib ben
gen erreicht, und fid) unter feinen Arın ges
tiam durchdraͤngend, fehrie fie, die Hände fles
d in den Wagen hineinftredend: „Retten Sie
), Erellenza!* Da zudte dad Meſſer hernieder
ber Oberkörper des Weibes fiel blutend in
Wagen hinein,
Man riß den Mörder zurüd, der Diener hob
Weib empor, deſſen ſich die Nächftfolgenden
lächtigten. Der Stoß hatte gut getroffen, ber
per war leblos, dad Blut floß in reichem
ome nieder. Der Wagen war fo umtingt, die
fregung fo furchtbar, Helenend Entfepen fo
6, daß fie weder audfteigen noch vorwärts
imen konnte. AB die Wachen Play gemacht
ten, der Diener aufgefeflen war und die Equis
je weiter rollte, da brach die Gräfin zufammen,
) vor dem Haufe ded Malerd anlangend, lag
in tiefer Ohnmacht.
Als fie erwachte, war es fühl und ftil um
112
fie ber. Des Malers Frau faß an ihrer Seite.
Die grünen Jaloufien ded befcheidenen Zimmers
waren gefchlofien. Leife flimmernde, fchmale Lichts
ftrahlen fpielten auf den blonden Locken eines vier-
jährigen Mädchens, das mit feinem Bilderbuche
an einem feinen Tifche faß und ab und zu nad)
ber bleichen Geftalt der Gräfin hinüberſah, beren
Günftling die Kleine war. Bei Helenend erfter
Bewegung ftand fie auf und eilte zu ihr. Die
Gräfin ftreichelte mit matter Hand ihre goldenen
Löckchen.
„Du bift doch nicht tobt?” fragte die Kleine,
und wollte fih nicht abweiſen laffen von ber
Mutter, die ihr bedeutete fich zu entfernen, „Wer
ift denn tobt, Mama?"
„Eine arme rau, mein Liebfted! und darüber
hatte die Tante fich erſchreckt, fei ftille und laß
fie ruhen!“
„Nein, Mama!” fiel die Kleine ein. „Todt
ift die arme Frau nicht, ihr Mann hat fie nur
todtgeftochen! Warum hat ihr Mann fie tobtge-
ſtochen?“
„Weil ſie etwas Unrechtes gethan hat!“
113
die Kleine fehwieg nachdenfend. Die Gräfin
auf, da fielen ihre und die Augen bes Sins
gleichzeitig auf die Blutfleden am Saume
Gewandes, fie fehauderte zufammen.
Hat Dich auch wer todtgeftochen?” fragte
Mädchen mit der Beharrlichfeit, mit welcher
er fih an Worte heften, deren Einn fie abs
ohne ihre volle Bedeutung zu erfaffen.
Die beiden Frauen achteten nicht darauf; aber
Kind ließ fich nicht abjchreden. „Dat Di
wer todtgeftochen?“ wiederholte e8 und fügte
1: „Thu' nichts Unrechtes, Tante! fonft ftes
fie Dich auch todt und dann bift Du
Ach! dag ich's wäre!” rief die Gräfin und
fi) in Thränen ausbrechend der jungen Mut⸗
n die Bruſt. Das Kind betrachtete fie ver-
yert, trat erft leife an fie heran, da es aber
benterft ward, zog es fich zurüd und verließ
Zimmer, als fürchte e8 fih. Großer Schmerz
etwas Unheimliched für Kinder, das fie mit
gem Inftinfte fliehen.
‚Beruhigen Sie Sich, liebe Gräfin!“ bat die
andlungen. IL. 8
114
junge Frau, „Sie find jo fehr erfchüttert. Was
fann ich für Sie thun?“
„Mich weinen laſſen! recht Herzlich weinen
laffen, und ausruhen bier bei Ihnen, wo Alles
Frieden ift!“
Sie hielt die Hand der jungen Mutter gefaßt, und
feste fich auf den Sopha mit ihr nieder. Frau
Feldheim betrachtete fie mit wehmüthiger Liebe, fie
hatte die Gräfin nie für glüdlich gehalten, den⸗
noch überrafchte fie die Tiefe des Leides, das fie
vor fich fah.
„Könnte ich Ihnen helfen!“ feufzte fie.
„O!“ rief die Gräfin, „Sie helfen mir immer!
Sie geben mir immer Muth und Glauben wieder,
wenn ich Sie und Feldheim fehe, Euer friedliches
Leben, Eure fruchtreiche Arbeit, Euer Glück thut
mir fo wohl! Und Euer Anblid mahnt mid an
die Heimath, an meine glüdliche Jugend!“
„Ja!“ fagte Jene, „ed mag nicht techt fein,
fich feined Glüded zu rühmen, wenn ein Anderer
leidet, aber wir find glüdlih, und id) danke Gott
auch alltäglich dafür. Feldheim fühlt fih fo er-
hoben in dem Gelingen feiner Arbeit, unfere Kin-
115
eihen und. Ich bin gefund, fann Alles
ir fie befchaffen, und es bleibt mir doch
nug, für meinen Mann zu leben, mid) an
Werken zu erfreuen, was follte und da in
fchönen Rande fehlen? Wir haben es ja
e die Fürften, und Gott weiß, wie wenig
3 zu erwarten hatten, ald wir heiratheten! *
Feldheim fprechen hörte, trat er aus feis
tudio in dad Zimmer, die Gräfin zu bes
und fich nach ihrem Ergehen zu erfundigen.
r ein Bruder der PBaftorin aus Wogau,
tte die nähere Befanntfchaft zwifchen ihnen
vermittelt, als der Ruf feiner Arbeiten fie
Atelier geführt, und der Maler fowohl als
rau waren durch ihr einfach geſundes MWes
Gräfin auch als Freunde werth geworden.
3 hat mir leid gethan, Frau Gräfin!”
, „daß Sie Sich die Sache auf dem Molo
Herzen genommen haben, Sie haben viel
erloren!“
erloren?“ fragte die Gräfin.
icherlich! die ganze Betrachtung der Situa-
nd hier liegt auch der Unterſchied zwifchen
8*
116
ben Gefchlechtern, der die Frauen ewig hindern
wird, groß ald Künftler zu werden, Sie haben
zu viel Weichheit, um ruhige Beobachter zw fein!“
Helene, gewohnt fich zu beherrfchen, war Aus
Berlich ihrer jelbft wieder Meiſter geworben, ben-
noch fchaubderte fie innerlich zufammen bei dem
Gedanken an jene Mordthat. „Wohl Ihnen,”
fagte fie, „daß Sie den gräßlichen Vorgang nicht
erlebten. Er wird mir nur zu unvergelich fein!“
„Mid würde er höchlich intereffirt, aber nicht
weiter angefochten haben,” meinte der Maler. „Was
ift denn daran gelegen, ob ein Menfchenvafein
endet oder nicht?“
„Wie Fannft Du das jagen?” tadelte die Frau,
„Du, der nicht einen Wurm leiden, nicht eine
Pflanze welfen fehen fann, ohne Hülfe zu ver
ſuchen?“
„Grade darum, weil ich Wurm und Pflanze
ebenſo berechtigt halte, als unſer Einen. Man
ſoll helfen, fo lange Huͤlfe moͤglich, und unterge⸗
hen laſſen, was unrettbar iſt. Klagt man doch
nicht ſo lamentabel um einen Hirſch, der ſtirbt,
um einen Baum, der umgehauen wird, um alle
117
en und Blüthen, die der Sturm verweht.
ſt impertinent vom Menfchen, der fo viel
8 bat, auch noch ganz befondere Anfprüche
ne Lebensdauer zu machen. Das Weib auf
Nolo war ſchön — fo fagt mir Ihr Stefano
war ficher glüdlich mit feinem Liebhaber,
ig auc einmal glüdlich mit feinem Manne
n fein, — es hat alfo Freude genofien und
» gewährt — und hat den einen ehrlichen
ud mit einem ehrlichen Dolchſtich gebüßt,
ft Alled in der Ordnung, und nur zu bes
t, daß ich den Vorfall nicht ftatt Ihrer ans
n habe. Es ift eben eine ſchoͤne Blüthe
Baume abgefallen. Denken Sie nicht mehr
und fommen Sie in mein Studio, ic) muß
: heute doch mein Myfterium enthüllen!”
amit öffnete er die Thüre des Atelierd und
te die Gräfin einzutreten. Eine gewaltige
and war auf der Staffelei mit einem Vor⸗
bedeckt.
Das iſt meine heilige Familie!“ ſagte er,
og die Hülle fort.
ar Linken im Bilde faß an einem mit Wein,
*
118
Blumen und Früchten befegten Tifche, feine Frau
in einem weißen, lojen Kleide, ihr jüngfted Kind
auf dem Schooße, während dad ältere Töchterchen
an ihrer Seite bemfelben nedend einen Lorbeer
zweig entgegenhielt. In ber Mitte ſtand der Mas
ler felbft in feiner Arbeitsbloufe an der Staffelei,
die Gruppe malend: „und“ — fagte er — „dur
mit meiner Madonna die alte Heilige nicht fehle,
habe ich mir hier im Hintergrunde meine alte
Mutter gemalt, die grade fo zufrieden ausfehen
würde, Fönnte fie eintreten und und betrachten!”
Die Gräfin war überrafcht. Seit vielen Mo-
naten hatte Feldheim ihr erzählt, daß er eine hei⸗
lige Familie male. Sie, wie alle Anderen, hatten
ed geglaubt, da bie Hiftorie fein Fach war, und
fi) nur über die Wahl ded Gegenftanded gewun⸗
dert, der. ganz außer dem Bereiche feiner früheren
Schöpfungen lag; aber grade deshalb hatte man.
ed natürlich gefunden, daß er dies Bild vor der
Vollendung Niemand fehen laffen wollte,
Dem Maler entging ihre Befremdung nicht.
„Run,“ fragte er, „was fagen Sie von dem Bilde?“
„Es ift vollendet fhon!" rief die Gräfin, „und
119
mid am wunderbarften darin trifft, ift feine
ſieden hiftorifche Bedeutung. Wie haben fie
gefangen, diefe in den Gegenſtand zu legen;
ich nad) Gehalt und Compoſition nicht über
Familienportrait und das Genre erheben zu
en ſcheint?“ —
jeldheim antwortete ihr nicht gleich. Er ließ
zeit, das Gemälde zu ſtudiren, und weidete
an ihrem immer ſteigenden Intereſſe. Der
ru ſeliger Mutterliebe, mit dem Eliſabeth
m Bilde auf die unbefangen ſpielenden Kin⸗
yerabfah, madyte ihr Geſicht fehön erſcheinen,
on ed.nur gemöhnlih mar, und auch Feld⸗
mußte jedes Auge fefleln, jedes ‘Herz für
jewinnen, wenn man 'das ruhig ernfte Antlig
Malenden betrachtete, bad fo freudeſrahlend
zie Seinen ſchaute.
Seit den Familienbildern der alten Nieder⸗
r ift fol ein Bild nicht mehr gemacht!“
ie Gräfin. „Und: e8 hat noch einen Zauber
Snnerlichfeit, der Olüdeöheiligfeit, die ihm
eigenthümlich find, vor jenen Werfen voraus,
ift wirklich eine heilige Familie!“
20
„Darin liegt auch der Zauber, Signora Eon
teffa!” fagte der Maler und blidte mit Wohlges
fallen auf. fein Werl. „Wenn die Razarener fih
daran machen, eine heilige Yamilie zu malen, fo
meinen fie ed mit einer Yamilie son Heiligen zu
zwingen, mit denen Nichts gethan if, denn biefe
unbefledten Sungfrauen, und der verwunberte St.
Joſeph, und der Johannes mit dem Tigerfelle und
der kleine glorienbeſchienene Chriſtus ſind uns und
unſerm proteſtantiſchen Bewußtſein jetzt Nichts
mehr. Sie ſind abſtract und transcendent, und
damit lockt man in der Zeit des Realismus keine
Katze hinter dem Ofen hervor und kein rechtes
Gefühl aus einem ehrlichen Herzen!“
„Das iſt wahr!“ bekraͤftigte die Graͤfin. „We⸗
ber. die ganz -abftracten Nazarener, wie Overbeck
und Schadow, noch die Stein, und wie fie fonft
noch heißen, ja nicht einmal die Fatholifchen mo»
bernen Staliener haben eine Madonna fchaffen
fönnen! und an die Heiligen der franzöftfchen
Schule muß man gar nicht denken!“
„Sie können aud) feine Heiligen mehr malen
und Niemand wird ed wieder können, es hat eben
121
feine Zeit,” fiel ihr der Maler in das Wort,
jeiligen Familien find für uns fo unnatürlich
ben, wie die Allegorien eined Veroneſe, denn
d auch Allegorien und wir haben es mit
Birflichkeit zu fchaffen. Nicht eine Familie
Jeiligen follen wir jegt malen, fondern eine
ie von Menſchen, die geheiligt ift durch Liebe
mftrahlt von der Glorie ihres Glüdes. Und
fich in dem Glüde des Familienleben der
Ausdruck erfüllter Liebe, der vollendete Bes
es Menichen offenbart, fo muß ein folches
eine tief ımenfchliche, eine für alle Zeit güls
alſo auch eine Biftorifche Bedeutung haben
i, wenn ed aus dem rechten Sinne hervors
zen ift, der die volle Göttlichfeit erfannt hat
milienleben, in ber Sorge der Eltern für
jefchöpfe ihrer Liebe, in dem gemeinfamen
fen an den gemeinfamen Pflichten und Freu⸗
nd Schmerzen, die alle aus ber reinen, uns
yaren Quelle der Natur entipringen! Was
m fo ein lumpiger König im blanfen Or⸗
mit ein Baar geharniſchten Nittern gegen
und Weib und Kind? AU die hiftorifchen
122
Zufälligkeiten, die wir malen, find ja reine Ber:
gänglichkeiten gegen die urewige Wahrheit ſolcher
Liebe!“
Er hatte dabei ſeine Frau um den ſchlanken
Leib gefaßt und fie an ſich gezogen. Sept Füßte
er fie herzhaft und ſtrich ihr dann bie Thränen
aus den Augen, die fie zu verbergen ftrebte,
„Das Bild rührt mi fo!“ ſagte fie zur
Gräfin. |
„Ja!“ rief Feldheim, „und doch mochte fle Nichts
davon wiſſen, ald ich noch für ein Baar Kinder
Platz lafien wollte auf dem Bildel” -
Die Frau wies ihn lachend zurüd, die Gräfin
aber blickte finnend bald auf das Bild, bald auf
bie glüdlichen Gatten,
„Was mid) im hoben Grabe wundert, ift,
daß unfere Tracht nicht ftörend einwirft!” fagte
fie nach einiger Zeit,
„Darüber habe ich auch meine eigenen Ges
danfen!“ meinte Feldheim. „Ich glaube, im Grunde
ift feine Tracht gut oder böfe, nur bie, welche fie
tragen, maden fie dazu. Sehen Sie dody mits
unter. die wahrhaft ſcheuslichen Berunftaltungen
N
123
die Kleidung, denen wir auf alten Bildern
ven und die und gar nicht ftören. Die Zopfs
ı im dreizehnten Jahrhundert, die Puffaärmel,
: faft bis zur halben Höhe ded Kopfes fi
n bei den alten Rittern und Edelfrauen,
wieder die fchwarze, mumienhafte Kleidung
lbein's Zeiten, oder den buntflitternden Putz
Gefchlecdhter in den Tagen des Vandyk.
n al den Eoftümen find vortreffliche Bilder
ıden — Portraits und Familiengruppen, bes
ein Menfch in der Welt ihre hiftorifche Bes
ig aberfennen wird !*
ber woran liegt ed denn,* fragte die Graͤ⸗
daß wir in unferer Tracht uns fo fihlecht im
barftellen? *
In unferer eigenen Zumpigfeit, nicht an der
ing!“ lachte der Maler, „denn fehen Sie,
Gräfin, ed-find meift nur die Männer, die
ımpig ausnehmen — und audy nicht Alle,
t ein honnetted ‘Bortrait zu Stande komme,
n zwei honnette Bewußtjein dazu. Das
Btfein des Driginald und. das ded Malers!”
Was meinen Sie damit?“
124
„Achten Sie einmal auf die Portraits ber
Fürften, der berühmten Gelehrten, der Künftler, *
fagte er, „und Eie werben finden, daß ihnen diefes
Gepräge ter Erbärmlichkeit, welches über fo vies
len Fracks und Gravatten und bald verlegen, bald
arrogant, ftumpffinnig entgegenlächelt, felten eigen
if. So dumm oft ſolch ein König oder Fürft,
fo verhuzelt ein Gelehrter, fo wunberlid ein
Künftler ausfehen mag, fie haben die Empfindung
ihrer inneren Berechtigung, eine gewiſſe Selbſt⸗
berrlichkeit. Ich möchte fagen, fie fühlen das Recht,
fo wie fie eben find, auf diefer Welt zu fein und
alfo auch nad ihrem Tode noch im Bilde auf
derfelben fortzubauern. Fühlt dad der Maler aus
ihnen heraus, malt er fie im Bewußtfein ihrer
perfönlichen Berechtigung, fo wird es immer ein
guted Bild werden, mögen nun bie Bormen edel
öber gemein fein, denn nur der Geiſt, der in ihr
nen waltet, ift bie bleibende Kraft in einem Bilde.
Die. Idee, durch die abfolute Formenfchönheit has
tafteriftifch zu wirken, ift ein vollſtaͤndiger Irrthum,
von dem bie alten Staliener, Niederländer und
Spanier auch Nichts wußten!“
n
125
ber woher denn die Menge fader, nichts»
tr Bilder, von denen unfere Ausftelungen
1 find?“
ch ſagte es Ihnen ja, Frau Gräfin, von
;onntagsbewußtfein der Originale!” lachte
m. „Die Menfchen efien, trinfen, arbeiten
dankenlos und wie Maſchinen. Sie vegetis
ne innere Erhebung und ohne jenes Selbft-
‚ wie e8 im Mittelalter ſchon die fcharfe
: der Standedunterfchiede und das von
en und Gefahren mancher Art bewegte Les
harafteriftifch in ihnen auspraͤgen mußte,
ıben fich in befonderen Lagen, fie ‚hatten
nheit ihre Leidenfchaften zu entfalten, und
8 Individuen auszubilden. Nehmen Sie
hakeſpear'ſchen Dramen und überall finden
ıter den leidenschaftlich Kämpfenden, Helden
otive für Bilder aller Art. Sekt, wo bie ent⸗
Leidenſchaft für Rohheit gilt, wo die Staates
fie faft unmöglich macht, find die Kunfts
und die Menfchen ftumpf geworden. Sie
innerlich an allen möglichen Miferen, aber
ch verziehen fie Feine Miene und hüllen
=
126
fh in das todte Grau ber Wohlerzogenheit.
Kommt biefen modern nivellirten, polizirten Mens
[hen dann ber thörichte Einfall, ſich einmal ma
fen zu laſſen, fo befinnen fie ſich auf ſich ſelbſt,
erfchreden vor ihrer Xeerheit, feßen fich zuredt
und putzen fich mit irgend einer Eigenfchaft her
aus, mit Gutmüthigfeit, Erhabenheit, oder was
ihnen fonft an ſich wahrfcheinlih dünft — und
dad Fleidet fie denn eben fo, wie der abgelegte
Balpug der Frau Gräfin eine Magd am blauen
Montag. Die Mehrzahl unferer Portraits hat
Sonntagscharaftere zum Originale. *
Er war in befter Laune, und auch die Gräfin
hatte ſich etwas erheitert.
„Died Bild wird fortleben und die Menfchen
erfreuen, wie die fchöne Familie Karl's des Erften
und NRembrand von Rye's mit feinem Weibe!“
wiederholte fie, auf ihre erſte Bemerfung zurüd:
fommend.
„Und babe ich nicht eben fo gut ein Recht,
meine ftolzge Freude an meinen Kindern zu ver
ewigen, ald König Karl vie feine? Habe ich nicht
oft eben fo glüdlich als Rembrand die Schultern
127
ner Eliſabeth gefüßt und die Fröhliche auf
nen Knieen aus meinem Glaſe trinfen laffen?
in Stolz, meine Freude find von Gottesgnaden
die ihren!” rief er, „aber was mich heute
n ganz früh fo fröhlid machte, ift Camillo’s
sde an dem Bilde. Er war am Morgen
mir und konnte fih nicht fatt daran fehen.
h glaube ich, jo Hoch ich ihn verehre, hätte
yon mir zu lernen, daß man vergefien muß!“
„Bergefien?” fragte die Gräfin, „was denn
jeffen?”
„Er muß die Convenienz und Tradition vers
en lernen, Das Herfömmliche bindet ihm bie
zel, wie faft allen unferen Zeitgenofien. Er
$ zur Duelle, zur Natur zurück. Nicht zu jener
ur, die in Loͤwenfellen und mit Seigenblättern
verläuft, denn grade dieſe ift eine reine Sache
Convention, fondern zu jener Wahrheit der
bachtung, die in der Gegenwart das Zufällige
dem ingeborenen unterfcheidet. Daß er
Wahrheit der Beobachtung in fich nicht aus»
(det Hat, darin liegt aucd, der Mangel Ihres
ihm gemalten Bildes. Er malte die wunders
128
fhöne Gräfin St. Brezanz aber das gute, liebe
volle Weib, das hat er in Ihnen nicht gefehen,
nicht verftanden !”
Helene war zufammengefahren und zerftreut
geworden, ald er den Namen des Cavaliere aud-
geiprochen hatte, fo daß fie ihm Nichts auf feine
Behauptung zu entgegnen vermochte.
„Camillo wird Sie wieder malen?” bemerkte
Feldheim nad) einer kurzen Pauſe.
„Mich?“ fragte die Gräfin.
„Sa! er fagte mir, Sie hätten ihm geſtern
zur Skizze für eine Desdemona gefeflen!”
Die Gräfin erbleichte, alle ihre Schmerzen er:
wachten wieder. Sie erhob fich plöglih, um fid
zu entfernen, und aufathmend, wie Einer, ber
nach Furzer füßer Raft fich wieder zu neuem
ſchwerem Gange anfchidt, fagte fie: „das war
eine Ichöne Stunde! haben Sie Dank dafür!”
Die Eheleute blickten fich betroffen an. Feldheim
geleitete fie anihren Wagen. Als er zurüdfam, fchüts
telte er leife dad Haupt, und gegen feine Frau gewen⸗
bet, fprach er: „der wäre es beſſer geweſen im Bas
terlande zu bleiben, ihr Herz paßt nicht hieher!“
Sechstes Kapitel,
ie furchtbare Scene, weldje fie am Morgen
‚ und dad Glüd ihrer Landsleute, deſſen
: fie gewefen war, hatten Helene tief erfchüts
Dort der Kampf ungezähmter Leidenfchafs
hier der Friede der Liebe, aber Wahrheit
und bier, und ihr eigenes Leben Falter Schein
nnerliche Züge.
Es muß anders werben!” rief fie, und ald
fie fchnell den Kelch leeren, der nit an
orübergehen konnte, fo eilig begab fie ſich
8 Zimmer ihred Manns,
sie fand ihn arbeitend an feinem Schreibtifche.
Störe ich Dich?" fragte fie.
Ich bin augenblidlich zu Deinen ienften!
adlungen. IL
130
antwortete er mit der ihm eigenthümlichen Hoͤf⸗
lichfeit der Form.
Sie feßte fich nieder zu warten, aber bie we⸗
nigen Minuten wurden ihr lang und fchwer.
Als er den Brief gefaltet und gefiegelt hatte,
wendete er fich zu ihr, und um nicht feine Frage
nad dem runde ihre® Kommend zu hören,
fagte fie fehnel: „Ic habe mit Dir zu fprechen.
— Hippolyt! es muß anderd werben zwifchen
und. Der geftrige Abend — —“
„Der geftrige Abend,“ unterbrad) fie der Graf,
„iſt mir wieder ein Beweis Deiner Unvorfichtigfeit
geweſen. Welche Frau giebt einem Maler Si»
dung in ihrem Boudoir und tete & tete!”
Der fchwerfte Tadel hätte fie nicht fo tief ge⸗
troffen, als diefe Kälte ihre® Mannes, und mit
leidenfchaftlicher Bewegung rief fie: „Müſſen wir
diefe Lüge durch das Leben fihleppen? Muß ich
denn unglüdlich fein? *
Es war das erfte Mal, daß fie in folder
rüchaltlofen Weife zu dem Grafen ſprach, den
der plögliche Ausbruch ihres lang verhaltenen
Schmerzes erbleichen made,
131
n heftiges Weh zudte durch feine Züge.
leide auch! * fagte er, „und id) beflage mid)
»Dann ſchwieg er, fi) gewaltfam fafjend,
nd die Gräfin, den Kopf auf den Arm ges
regungslos da faß. Die Stille wurde
a immer drüdender, St. Brezan fing an
immer auf und nieder zu fchreiten. Ends
lieb er ftehen und begann wie im Selbſtge⸗
e, das ſich erft fpäter gegen die Gräfin richs
Menichenfenntniß und Erziehung find Nichts!
laubte fie zu fennen, mich zu fennen, die
dſätze ihrer Familie bürgten für fie, und nun
überfpannte Durft nah Glück! — „Glück!
n Glück glauben ift fo thöricht, ald Wolfen
ı wollen! So thöricht, ald verlangteft Du, die
n Fortuna folle hier eintreten und Dir ihr
oın vor die Füße fchütten. Deine Sehnſucht
Glück ift unfer Unglück! — Es giebt fein
! Sid) wohlbefinden, das ift Alles! und
efinden hätten wir und können!“
Rein, Hippolyt! ich habe es nicht gefonnt,
wir haben uns nie verftanden! Schon an
n Hochzeitötage kannte ich mein Unglüd.”
9%
2
AN
132
Beide verfiummten; die Eine ploͤtzlich ergriffen -
von der Schwere des eigenen Geftänbnifles, ber
Andere fchmerzlich betäubt, weil er fich in feinem
Stolze verwundet fühlte. „Das ift hart!” fagteer
mit einer Tonlofigkeit, durch die Helene feinen bittern
Schmerz erzittern hörte,
„Und doch mußte ih es Dir endlich fagen,
damit ich Dir nicht fchuldiger erfcheine ald ic
bin. Ja! ich glaube noch an Glück, ich glaube
an eine Liebe, die ausreicht, und glüdlich zu
mahen — —"
„Und fie ward Dir leider nicht zu Theil!“
„Sa! fie ift mir geworden! aber ich war ein
Kind, und meine eigene Schwäche brachte mid
darum!"
„Und?* fragte der Graf.
Sie antwortete nicht. „Und was verlangft
Du jebt?" fragte er wieder, „denn wir müflen
fertig damit werden!“
„Sieb mich frei!“
„Das ift Wahnfinn, Helene!“
„Wahnfinn nennft Du es, wenn ich das
Scheindaſein diefer unglüdfeligen Ehe nicht weiter
133
will? Unſere Herzen find einander fremb,
eißt es, daß ich Dich nicht liebe, Du Tiebft
richt, ih bin Dir Nichts, als die Dame,
bie Honneurd Deined Haufe macht. Du
mich für untreu gehalten, vie Welt hält
yafür — ich war Dir niemald untreu, aber
cklich, unglüdlich bin ich gewefen immerbar,
Männer, welche Du heimlich eiferfüchtig be⸗
,oͤhnteſt, waren mir gleichgültig, wie die
wmfpieler auf der Bühne, von denen ich mir
elfen laſſe über die tödtliche Dede meiner
ıden —“
‚Und Camillo?” fragte der Graf mit ſchmerz⸗
Bitterkeit.
‚Er war mir eine Stütze und ein Troſt.
ts mehr! Geſtern erft hat er mir feine Liebe
nden — —"
‚Und heute forderfi Du von mir getrennt zu
en!”
Weil ich nicht dad Weib eines Mannes
en will, der fich verrathen von mir glaubt
dazu ſchweigt!“
‚Meint Du, ich folle wie ein Wilder bie
134
Treue meines Weibes bewachen? Ich folle wie
der Poͤbel meine Kraͤnkung in alle vier Winde
hinausfchreien und mid) brandmarfen mit Deiner
Thorheit? Mein Name wird nicht angetaftet, fo lang
ich ihn nicht angetaftet nenne. Mein Schweigen
ſchützt Did und mid. Du wirft mid nidt
zum Abfall von mir felbft, zum Spredyen bringen!”
Es entftand eine neue Pauſe. St. Brezan
ging nachdenfend umher, endlich fette er fi
neben feiner ©attin nieder. „Laß und wie ver
nünftige Menfchen handeln,” fagte er, „nicht leere
Vhrafen wechfeln.” Seine Stimme klang milder
ald zuvor, fein Ausdrud hatte das Eifige verloren,
„Ein Irrthum ift nicht ungefchehen zu machen,
unfere Verbindung war ein folcher; wir müffen
trachten, fo wenig ald möglidy von demfelben zu
leiden. Wäre ih ein unbeachteter Privatmann
und ein Proteftant, vielleicht fchiene mir der Aus
weg, den Du wünfceft, annehmbar, Sept ift
er's nicht.”
Seine Ruhe brachte die Gräfin zur Berzweif-
lung. „Ich fage Dir, daß id unglücklich bin,
daß ich mic, fehne nad) einem Athemzuge ber
135
baß ich es ſtets als Schmach empfun-
je Liebe Dein Weib zu fein, und — —“
handle wie ein Mann,” unterbrach fie
f, plöglich wieder zu der früheren Kälte
nd, „der feine Pflichten kennt — felbft
ich in Deiner unfeligen Verblendung. Ich
ein Weib, das fich gezwungen mein nennt!”
Beben flog durch alle feine Züge bei den
— „aber entehren ſollſt Du weder Dich
ch. Du bleibft bei mir, im Schuße meis
fe, meined Namens!" —
ar aufgeftanden und in die Thüre des Bals
seten, um ihr den Anblick feines inneren Kam⸗
ntziehen. Als er ſich wendete, war er ruhis
den. „Mit Deinem Durſt nach Glüd, mit
Herzen mußt Tu fertig werden — wie
dein meinen!” fagte er. — „Was wir
nder auszumachen hatten, ift gefchehen —
e find gefchieden ! möge e8 Dich nicht reuen!“
» aufgerichtet verließ er dad Gemad).
Gräfin blieb allein zurüd. Sie fah ſtumm
r zum Boden nieder. So hatte fie das
fer Unterredung nicht erwartet. Es war
136
ihr Wunfch geweſen, frei zu werben; biefe errun
gene Freiheit aber drüdte fie ald eine tiefe Schmach.
„Auf Lebenszeit!“ feufzte fie, während ein
Schauer durch ihre Glieder riefelte und Falte, große
Thränen ihr in die Augen traten.
Bald demüthigte e8 fie, einem Manne gehört
zu haben, der fie auf ihre erfte Forderung frei gab,
bald fühlte fie fich gedrungen, des Grafen mit
größerer Achtung zu gedenken, als je zuvor. Er
hatte wie ein Eavalier gegen fie gehandelt, aber wie
fern war feine Auffaſſung der Verhältniffe von dem
wahren Sinn ber Ehe! Welch eine Stellung für
fie, ven Schuß eined Manned anzunehmen, der fie
innerlidy mißachten mußte! Eine Freiheit zu befigen,
bie zu gebrauchen eine Schande war. — Geneigt,
fih ihren Empfindungen zu überlaffen, hatte fie
nie zuvor mit folcher Klarheit fi) die Einzelheiten
und Folgen ihrer Lage deutlich gemacht, nie fchärfer
als jeßt die Scheidewand erfannt, welche Sahrhun-
berte alte, überlieferte Begriffe und Vorurtheile
zwifchen den Anfichten der fogenannten großen
Welt und zwifchen ber natürlichen Empfindung
wahrer, gefitteter Menfchen aufgerichtet hatten.
137
Sie fannte den Grafen und wußte, er werde
n, was er ausgeſprochen habe, und doch faßte
8 nicht, wie ed ihm wünfchenswerther fein
e, eine Frau unter diefen Derhältniffen an
zu feffeln, als fie durch eine wirkliche Schei⸗
; frei zu geben, eine Verantwortung zu tras
ftatt fie auf die Schultern derjenigen zu
, bie ihr Schidfal in die eigene Hand zu nehs
forderte, und mit feinem Namen eine Frau
hüten, die diefen Namen ftetS mit Wiberftreben
yet hatte, die ihn jest nur noch zum Scheine
rn follte,
Ihr Stolz empörte fich gegen eine Großmuth,
an Verachtung gränzte, gegen einen Schuß,
fo nahe mit der Knechtfchaft verwandt war,
n das Beifammenfein mit einem Manne, der
edem Augenblide feine oberherrlihen Rechte
n fie geltend machen konnte, nachdem er freis
g auf alle jene Anſpruͤche verzichtet, welche
e und Achtung heifchen und gewähren. Unter
Laft eines fortdauernden Mißtrauend zu leben
n ihr unerträglich, und der Gedanke, fich durch
rernung aus dem Haufe ihres Mannes gewalts
138
fam ihre Freiheit zu erringen, tauchte in ihr auf.
Aber fih vom Grafen auf foldye Weife trennen,
hieß fi) von ihrem Vater, von ihrer ganzen Fa⸗
milie, von ihrem ganzen früheren Leben trennen,
und wenn diefer Außerfte Schritt gethan war, wos
hin dann und was beginnen?
In ihre Vaterhaus zurüdzufehren, daran burfte
fie nicht denken, und jene Zeit lag ihr fo fer,
ald trennten fie Dezennien davon, Sie hatte neue
Anfchauungen, neue Bebürfniffe Fennen Ternen.
Ein Leben vol geiftiger Erregung, vol wechſelnder
Greigniffe, vol heftiger Empfindungen, war ihr
zur Gewohnheit geworden, und wenn ihre Blide
fi in diefer Stunde auf ihre Jugend, auf ihre
erfte fchuldlofe Liebe zurückwendeten, gefchah ed
mit jener Wehmuth, mit der man ein unwieder⸗
bringlich verloreneds Gut betrauert — um fo
unmieberbringlicher, als fein Beſitz aufgehört haben
würde und noch ein Glüd zu fein. Sie empfand ben
Verluſt deſſelben nicht fo fchmerzlich, als die Ueber⸗
zeugung, daß fie die Bähigfeit verloren, es zu ge
nießen und fid daran genügen zu laflen. Ihr
Herz blutete, wenn fie Sriedrich’8 gedachte, Was
139
ms ihr geworden, die ihm ein Ideal zu
n verheißen? Und doch fah fie mit einem
id, das fie felbft überrafchte, auf fein ftilles,
ch begränzted Leben hinab,
Ich kann nicht mehr zurück!“ rief fie auß:
Gewißheit lenkte ihre Blicke plöglic nach
anderen Seite, von der ein phantaſtiſch
endes Licht ihr entgegenglaͤnzte.
reiheit, Selbſtaͤndigkeit, Ehre und Anerken⸗
‚ ja Liebe und Freude winkten ihr entgegen
ver Hand der Kunſt. Ein einziger, muthis
schritt konnte ſie an die Schwelle ihred Tem⸗
führen, und Camillo, der Künftler, den fie
verehrte, der Mann, welcher fie liebte, ftand
3riefter da, die Erfehnte einzuführen in das
zthum.
liehen, unter fremdem Namen arbeiten und
, bis der ihr eigene angeborne Name ruhm⸗
hlt durch ihr Talent aus dem Dunkel her⸗
hen konnte, und dann leben, ſchaffen, arbei-
vereint mit einem Manne, der dies heilige
in ihr begriff und pflegte; Niemand Etwas
nfen als fich felbft, Feines Schutzes bebür-
140
fen, fondern gefchügt fein durch die eigene Bedeu⸗
tung, und frei bleiben durch das felbftändige
Talent fogar neben dem geliebten Manne, dad
waren Bilder, begeifternde Borftellungen, die in
fchneller Reihenfolge an ihr vorüberzogen.
Camillo hatte ed auögefprocdhen: Sie war
Künftlerin! Sie durfte fidy nicht von bleichen Träus
men, von Gebilden der Phantafie ernähren, denn
der Künftler Fann nicht fchaffen ohne die Sonne
bed Glückes! Darum hatte fie dad Verlangen
danach niemald zu befiegen vermocht, die fhaf
fende Kraft hatte gebieterifch ihr Necht verlangt
— jetzt follte ed ihr werden.
Ein Trog gegen den Grafen erwachte mit
diefem Vorfage in ihr. „Er meinte mich zu bin-
den mit jener Gewährung einer freiheit, die
mich an ihn feffelte,” fagte fie ſich. „Eine Freige⸗
laffene follte ich fein und bleiben, mit meinem Thun
und Laſſen ihm verantwortlid für jenen Schein
ehrlofer Freiheit, die ich tief verachte. Es foll
anders werden, anders Hippolyt, ald Du's ers
wartet haft!“
Ihre Geftalt gewann plößli ihre Spann-
141
wieder, fie ftand auf und ging in ihr Zims
ih für die Mittagstafel anzufleiden, zu ber
größere Geſellſchaft ſchon feit vielen Tagen
aden War,
[8 fie in den weißen Gewändern vor ihrem
jel ftand, einen Kranz von grünem Weinge⸗
mit goldenem Gceäber in den fchwarzen Locken,
hr felbft die eigene Schönheit wohlthuend
iberraſchend aus dem Glaſe entgegen. Mit
Freude wies fie die Armbänder und Spans
urüd, bie ihre Kammerfrau ihr brachte.
vollte die Gefchmeide, die Koftbarfeiten nicht
tragen, welche fie dem Grafen verdanfte,
Nadelgeld, dad er ihr feftgelegt, nicht mehr
en. Die Zinfen eines Kapitales, welches
In ihrer Mutter ererbt, ſollten fortan ihren
rfniffen genügen, und ihr Auge leuchtete
in der Gewißheit, daß dieſe Schultern,
Arme jedes Schmudes entrathen fonnten,
[8 betrachtete fie eine vollendete Statue, fo
: fie in Selbftgenügen die eigene Formen⸗
ine halbe Stunde fpäter waren die ©äfte
142
bei der Tafel verfammelt, und Nichts in dem Wer
fen der Wirthe verrieth, welche Erfchütterungen
fie erlitten, welche Entfchlüffe fie gefaßt hatten. .
Noch am Morgen war die Gräfin entfchieden ge |
wefen, den Cavaliere zu vermeiden, jegt empfing
fie ihn mit einer Aufgefchloffenheit, bie er fi
nad) ihrem Verhalten am vorigen Abende nicht *
zu deuten vermochte, und als verftände die Sadıe
fihh von felbft, fo unbefangen ſprach der Graf
von dem zu malenden Bilde der Desdemone. k
Helene follte nicht glauben, es Fofte ihn ein Opfer k
fie zu verlieren, die ihn nie geliebt. Ein Miß
geſchick ohne Zeichen der Klage zu erleiden, fi
fo weit thunlich abzufchliegen gegen alle Berüh—
rungen und Beobadhtungen und ſich durch dieſe
Adgefchloffenheit vor fremden Antheil und Urtheil
möglichft zu bewahren, darin hatte der Graf ftetd
feine Ehre gefegt, darin erblickte er die Weisheit,
welche die Erfahrung dem Weltmanne zum Be
dürfnig und zur Richtſchnur feined Handelns ma-
chen, und auch in diefem Falle blieb er fid
getreu. ,
Da aber der Menſch nach einer Löſung alled
143
jelhaften trachtet, fo erklärte der Dialer fich
h das ihm auffallende Betragen des gräfli-
Ehepaared auf die ihm günftigfte und fürs
te Weiſe. Er fagte fih, die vielfachen
igungen, deren Gegenftand Helene feit ihrem
einen in Neapel gewefen, die jugendliche Uns
nenheit, mit welcher fie diefelben Anfangs an-
nmen hatte, und dad leichtfinnige Spiel ber
terie, das ihr allmählidy zur Natur geworden
fönnten dem Grafen nicht gleichgültig ges
n fein. Freilich hatte man fie bisher nicht
beurtheilt, aber die Menge und der Wechfel
Verehrer waren doch fehon biöweilen ein Ge-
ind der Unterhaltung und jenes leife fort-
enden Tadels geworden, der an der eigenen
erholung feine Waffen zum tödtlihen Stoße
t und probt. Es mußte dem Grafen daran
', feine Gattin gegen den Vorwurf der Ga⸗
ie bewahrt zu fehen, und Camillo, grund»
8 den Frauen gegenüber, ohne alle Achtung
ver Ehe, verderbt durch die leichtfertigen Sits
ed Kreifes, in dem er lebte, fand ed ganz
lich, daß St. Brezan lieber einen erklärten
144
@icidbeo, als ein ganzes Gefolge junger Män-
ner neben feiner Frau ertragen wolle,
Eine Freundfchaft für ihren Lehrer war ohne
bin natürlich, eine Liebe auf Breundfchaft und
Bewunderung gegründet, fehr verzeihlich, und bie
Melt, in der fie lebten, eine Welt, in ber bie
Discretion oft die Stellvertreterin der Tugend und
der Ehrenhaftigfeit machen muß.
Hatte Camillo geftern, feiner Leidenfchaft fols
gend, nur an den Beſitz ded von ihm begehrten
Weibes gedacht, fo empfand er fich jetzt ploͤtzlich
ald Helenend Beſchützer, ald Theilnehmer des
Grafen in der Sorge für ihren Ruf. Er glaubte
durch St. Brezan’d Verhalten eine Verpflichtung
gegen ihn, ein Anrecht an feine Frau zu haben,
und ed war ihm Chrenfache dem Cavaliere gegen.
über auch als Cavalier zu handeln.
Weit entfernt, die Gräfin abermals durch feine
Heftigkeit zu Ängftigen, oder feine Leidenfchaft
dem Auge eined Beobadhterd zu verrathen, nahte
er fi) ihr feit diefem Tage mit jener anbetenden
Bewunderung, mit welcher der Kunftliebhaber ein
Iangerfehnted und endlich erworbenes Kunftwerf
145
Bt, defien Herr zu fein, ihn felbft faft noch
mblih dünkt. Unermüdlich für fie beforgt,
ind er mit Entzüden ihr ſteigendes Vertrauen,
wachfende Hingebung an feinen Rath und
Anfichten, während Helene nicht bemerfte,
fie in dem Beftreben, fich einer fie drüdenden
ytichaft zu entziehen, nur den Herrn gemwechfelt
Entfchiedener als der Graf es je gethan,
jte Camillo ihr feinen Willen zum Gefeße auf.
füchtiger als Jener, bewachte er jede Regung ihs
seele, und was fie dort gedrückt, verzieh fie bier
iebe, die fie mehr und mehr zu theilen begann.
ber energifch feurigen Natur des Cavaliere wie
tind geleitet, wie ein Weib gefeflelt, blieb
vicht einmal die Freiheit, fich zu fragen, was
ir ihn empfinde, was er ihr geworden, was
ber fie befchlofien? Tauchte auch hie und da
MWiderftreben gegen die Gewalt in ihr auf,
ſe er über fie gewonnen hatte, fo wendete
Zorn ſich nicht gegen den Geliebten, fondern
gegen ihren Gatten, ver fie dem fremden
en kampflos hingegeben hatte.
Bon jenen Planen für ihre Unabhangigkeit,
andlungen. II.
146
von ihren Ruhmesträumen war bald nicht mehr
bie Rebe. Der Wille des Grafen und die Wünfche
bed Gavaliere trafen zu wohl zufammen, ald daß
ber Letztere nicht feinen ganzen Einfluß hätte dazu
benugen follen, bie Entfernung Helenend aus bem
Haufe ihred Gatten zu verhindern. Taͤglich
weiter fortgerifien von Camillo's, wie von ke
eigenen Liebe, hatte fie felbft alles Andere vergeir
fen, einem Gefühle, einem Gedanken ausſchließlich
bingegeben — dem finnverwirrenden Entzüden ge
theilter Zeidenfchaft, vor deren Allgewalt felbk
ihr Schulbbewußtfein ganz verſtummte. Sie ſagte
fih, daß fie jung und unerfahren, überredet wors
ben fei, einen ungeliebten Dann zu heirathen,
und daß ein Berfprechen fie nicht binden Eönne,
welches fie ohne die nöthige Einficht in die Vers
hältnifje, ohne Welt» und Menjchenfenntnig, ja
ohne die richtige Erfenntniß ihres eigenen Weſens
gegeben. Sie machte fich ein Berwußtfein daraus,
bie Scheidung verlangt zu haben, und da ber
Graf ihr diefe feit verweigert, fah fie fich als bes
rechtigt an, dad Glüd zu fuchen und zu genießen,
das fich ihr geboten hatte,
N
147
In der Theilnahme an den Arbeiten, in den Er
en bed Gavaliere fanden die Liebe und ber
iſtſinn Helenens gleichmäßige Genügen, und
nald waren feine Schöpfungen bebeutender ges
m, als feit der Graͤfin Schönheit, als feit
täglich neue Anmuth ihn zu immer neuen
würfen antrieben. Jetzt erſt fchien er die
e Höhe feiner Meifterfchaft zu entfalten, bie
ifin den vollen Glanz ihrer Schönheit zu ent
ein, und jest erft glaubte fie Italien zu vers
n, da die warme Liebesfülle ihres Herzens
wieberfpiegelte in ber heißen, jubelnden Herr⸗
eit ber füdlichen Natur. Hatte fie früher
08 nad) immer neuen Zerftreuungen gehafcht,
Dede ihres Innern zu vergeffen, fo verlangte
iegt nur Ruhe und Zurüdgezogenheit, um in
etrübter Stille ihres Glüdes ſich bewußt zu
den. Auch der Cavaliere ward feltener gefehen
den Sälen ber großen Welt, deren gefeierter
aftling er war, und ſchon nad) wenig Wochen
e die Gefellfchaft fi) in den Gedanken eins
bt, in der Gräfin St. Brezan die begeifternde
fe des großen Meifters zu ſehen und zu ver-
10*
148
ehren. Camillo erhob ben Euftus ihrer Schön
heit zur Mode unter den Italienern, und die Um
nahbarfeit, in welche feine Eiferfucht die Gräfin
bannte, kam jener Huldigung zu Gute, bie tt,
den Grafen in feinen Anfichten zu unterftügen,
wie einen reichen Vorhang über fein Verhaͤlmiß
zu Helene auszubreiten wußte,
Siebentes Kapitel,
Unter den Bäften, welche in jener Zeit das
aus ded Grafen St. Brezan befuchten, hatte
h auch ein junger Ruffe befunden, der ein halb
ıhr fpäter, bei einer Opernaufführung, in ber
embenloge bed Berliner Opernhaufes faß.
„Seit wann find Sie hier?“ fragte ihn ein
terer Mann, der den vordern Plag neben ihm
igenommen Hatte. _
„Seit vorgeftern, Excellenz!“
„Und Sie fommen?“
„Don Neapel! Ic habe im vorigen Herbfte
seichen überbracht, darauf die Ordre erhalten
t zu bleiben, weil der dortige Attache Urlaub
150
hatte, und will nun morgen mit dem Dampfe
von Stettin zurüd.*
„Sind viele Fremde in Reapel?*
„Sa! aber bis jest noch wenig Ruffen und im
Grunde Nichts von Diftinction. Die einzige Frau
von Bebeutung ift überhaupt die Gräfin St. Brezan! *
Die Unterhaltung, auf deren legte Worte ein
anderer junger Mann, welcher fid) neben den Spre⸗
chenden in der Loge befand, plotzlich aufmerkfam
geworden war, hatte durch den Beginn des neuen
Actes ihr Ende erreicht. Als fi der Vorhang
wieber jenfte, nahm jedoch der Ältere Herr bad
Thema wieder auf.
„Was ift die Gräfin St. Brezan für eine
Geborene?* fragte er.
„Ich habe ven Namen vergeflen, indeß fie ift
eine Deutfche und eine prächtige Brünettel Die
Staliener haben einen wahren Fanatismus für fie.
Ihre Liaifon mit dem befannten Cavaliere Ca
millo, von dem Ercellenz das große Bild im Zim-
mer der Kaiſerin gejehen haben werben, und für
ben die Gräfin jetzt ausfchließlich lebt, Hat fie
unter den Künftlern zum Idol gemacht! *
151
Die alte ruffifche Excellenz that lächelnd noch
Frage, ber Petersburger Geſandtſchaftsat⸗
‚ antwortete ebenfall® lächelnd und die Schul
ziehend, indeß die legte Rede und Gegenrede
ve fehr leiſe geführt, fo daß der britte Anwe⸗
: fie unmöglid verftanden haben konnte.
och zudte er zufammen und verließ bie
Kannten Sie den Herrn?“ fragte der Alte,
Ich bin jehr fremd in Berlin, Ercellenz! und
: faft Niemand außer unferer Gefandtichaft! *
gnete ber Attahe, während Erich von Hei⸗
ruf die Corridors durchfchritt und in die ers
tete Fruͤhlingsnacht hinaustrat.
ir hatte nichts ihm Neues erfahren, aber
erſten Male war ein Urtheil gegen Helene
einer Nähe ausgeſprochen worden, und es
te ihm ein Troſt, daß er, und nicht fein Bas
zeuge jener Worte gewefen war. So wenig
Baron die ehelichen Verhältnifie feiner Toch⸗
m Geheimniß geblieben, hatte er ihrer gegen
and, felbft nicht gegen Erich, jemald mit einer
utung erwähnt. Es wiberftand feiner Selbft-
132
adtung, cin ſolches Unrecht vor einem Mitgliede
feiner Familie einzugeüchen, fobalb er bemfelben
fen vermochte, unt Helene war grabe bei ben
Anñichten des Baromd, jedem Eingriffe ber väter
lihen Herrjchaft entzogen, fo lange ber Rame
und tie Anerfennung ihres Gatten fie befchüsien.
Weit entfernt, ſich ſelbſt anzuflagen, daß er bie
Tochter gegen ihre Reigung einem ihm felbft nur
oberflaͤchig befannten Manne hingegeben habe,
wenbeten jeine Unzufriedenheit und jein ganzer
Zorn fid) gegen St. Brezan, treu bem Grund»
fate von der Aufrechterhaltung ber Yamilie in
den Augen der Welt, wie in bem eigenen Herzen.
Während man ſich der bevorzugten Außeren Bers
hältniffe der Gräfin in ihrem Baterhaufe zu er-
innern liebte, während man ihrer felbft und ihrer
Eigenſchaften zu gedenken nicht ermüdete, ſchwieg
man, aus dem gemeinfamen Inſtincte bed patri⸗
archaliſchen Familienfinnes über ihre unglüdliche
Ehe und die aus ihr entfprungenen BVerirrungen.
Der Achte Familienfinn und der Monarchismus
befchränfen das Urtheil ihrer Anhänger, weil beide
Y
153
verpflichtet glauben, die unbedingte Tadelloſig⸗
der Gegenftände ihrer Verehrung zu behaup⸗
‚ und fie nehmen ſich die Fähigkeit wirffamen
ndelnd, da fie durch ihre abfichtliche Verblen-
ig dem Unparteiifchen nicht ald urtheilsfähig
heinen koͤnnen.
Erich felbft hatte bisher die Schwefter mehr
auert als befchuldigt. Er war fein Neuling
er in den Berhältnifien der großen Welt, und
und da felbft für den mehr oder minder be
ftigten Verehrer verheiratheter Frauen anges
n worden. Oft genug hatte er mit gleichgüls
r Reichifertigkeit über folche Verhältniffe ges
schen, fie verdammend oder entjchuldigend, je
hdem feine Theilnahme ſich dabei angeregt ges
den. Set, da er die eigene Schweſter an
ntlihem Orte, von fremden Männern, eines
ben Liebeshandeld anklagen hören, erfchienen
e Zuftände ihm plößlich unter einem veränders
Geſichtspunkte, weil feine Stellung zu den⸗
en eine andere geworden war.
Mit quälender Deutlichfeit traten ihm bie
le entgegen, in denen feine Galanterien und
154
Tänbeleien die Ruhe einer glüdlichen Che ober
eines Mädchend vorübergehend oder dauernd
geftört. Er hatte fich Fein eigentliche Unrecht
vorzumerfen, aber er hätte body Manches unges
fchehen machen mögen, und wie es Menſchen fer
ned Charakters leicht begegnet, die zur Selb
prüfung nicht geneigt, ihr durch einen Zufall un
terworfen werden, gelangte er dahin, ſich ſtrafba⸗
ter zu finden als er wirklid war. Mit Rüb
tung wendeten feine Blide fih auf das greile
Haupt feined Vaters zurüd, Die friedensvolle
Ehe feiner Eltern, die eigene und ber Gefchwifler
ungetrübte Jugend, der Abend, an dem ber Vater
ihn und Helene freigefprocdhen für das Leben,
traten ihm mit herzbewegender Klarheit wor dad
Auge, um ihm die Verhäftniffe im Haufe feiner
Schweſter, deren Zeuge er in Neapel geweſen
war, noch trauriger und unwürbdiger erfcheinen zu
machen.
Er mußte die Gedanfen abwenden von ben
Derirrungen Helenend, von dem eigenen Leicht-
finn, und fchnellfräftig in der Phantaſie, ging er von
bittrer Selbftanklage zu guten Borfägen, zu Bors
155
ungen einer Ehe über, wie er fie für ſich ers
te, um in ihr jenes patriarchalifche Familien⸗
n fortzufegen, deſſen Vorbild feine Eltern
gegeben. Er hatte ein ſolches nur noch in
Haufe einer Frau von Werdeck wiederge⸗
ven, die, obfchon begütert, mit ihrer einzigen
hter in großer Zurüdgezogenheit lebte, feit fie
ihren Gatten verloren hatte. Sie war eine
mbin feiner Mutter geweſen und fchon bei fei-
erften Aufenthalte in Berlin, hatte er in
m faft fohnlichen Verhaͤltniſſe zu ihr geftanden,
fih mehr und mehr befeftigt, fo daß es ihm
Bedürfniffe geworben war, ſich mit ihr aus⸗
rechen, fobald irgend Etwas ihn innerlich
aft befchäftigte. Auch jest hatte er vorgehabt
ihr zu gehen, nicht um ihr das Erlebte zu
rauen, fondern um fich in ihrer Nähe zu be-
gen, als er ein junges Mädchen angftvoll an
vorüber eilen ſah, das von einem älteren
nne offenbar verfolgt ward.
Das helle Gaslicht, welches unter den Linden
den Magazinen auf die Straße fiel, ließ den
n ſchlanken Wuchs und die gefchmadvoll ans
156
fländige Kleidung ber jungen Perſon erkennen.
Aber folcher ſich täglidy wiederholender Scenen
nur zu fehr gewohnt, achtete Erich Anfangs nicht
darauf, bis ber Verfolger dad Mäbchen, welches
ihm mehrmald ausgewidyen war, wieber erreicht
hatte, und demjelben in einer Weife den Weg vertrat,
welche es gradezu zwilchen ihn und Erich ſtellte.
Das Mäpchen ſchrak zufammen, aber plößlich ents
ſchloſſen, ſagte es, fih an Erich wendend: „ Schaf
fen Sie den Menfchen fort!“
Der Klang ihrer tiefen Stimme, ber Zorn,
mit dem fie ſprach, Hatten etwas Gebietendes.
Ihr Verfolger, dem ed nicht erwünfcht fein konnte,
einen Auftritt zu veranlaflen, trat zurüd, und bad
Maͤdchen ließ es ruhig gefchehen, daß Erich ihm
den Arm bot und ed mit ſich führte.
Auf feine Frage, ob fie fhon lange von ber
Zubdringlichfeit de8 Mannes zu leiden gehabt Habe,
antwortete fie ein trodened Ja, und verfiel dann
in ein Schweigen, welches Erih in dieſer Lage
nicht von feiner Begleiterin erwartet hatte, beren
edle, majeftätifche Züge ihn überrafchten, als fie
einmal ihr Haupt vol gegen feine Seite wen.
157
Daß er hier Feine jener Teichtfertigen Ges
fe vor fi) babe, welche um dieſe Zeit bie
‚Ben zu burchichwärmen pflegen, war ihm
t allem Zweifel. Dennoch wußte er nicht,
er eigentlich aus feiner neuen Bekanntſchaft
ven folle,
Ihrer Erfcheinung, ihrer Kleidung und Spra
nach, mußte er fie zu den gebildeten Claſſen
wen, und boch hatte ihr Betragen mehr: und
‚ger Freiheit, ald den Töchtern diefer Stände
ı zu fein pflegte. Die Sicherheit, mit der fie
in den Straßen umfah, die Art ihres Gehens
haupt, machten es ihm wahrfcheinlich, daß
8 gewohnt fei, fih auch zu folder Stunde
a in denfelben zu bewegen. Er dachte, es
e eine Handarbeiterin fein, die von ihrem
ewerke zurückehre, indeß er wußte mit folcher
rgeorbneten Stellung in der Welt nicht jenen
‚lenden Ton zu vereinen, mit dem fie feinen
a8 gefordert, und in dem dad volle Vertrauen
licher Würde gegen die männliche Ehrbarkeit
ausgefprochen hatte. Somohl die Art und
je, in der fie feinen Arm losließ, fobald fie
158
fih aus dem Bereiche ihres Verfolgers glaubte,
als die Ruhe, mit der fie, feinen Fragen auswei⸗
chend, neben ihm herfchritt, hatten etwas Eigen⸗
thümliches. Während Eric) aber noch darüber grüs
belte, wer und was fie fein fönnte, blieb fie
plöglich fliehen, als fie eine Strede in der Char
lottenftraße hinaufgegangen waren.
„Wohnen Sie hier?” fragte Erich.
„Kein! aber ich kann jept allein gehen, und
ic, danfe Ihnen, daß Sie ſich meiner angenoms
men haben! *
Auf Erich's Vorftellung, daß fie ihm erlauben
möge, fie nun bis zu ihrem Haufe zu geleiten,
antwortete fie ablehnend: „Ich bin es gewohnt,
allein zu gehen!“ dankte ihm nodymald und ent
fernte ſich mit folcher ruhigen Feſtigkeit, daß ihr
Begleiter nur um fo begieriger wurde, ihr zu fols
gen und zu erfahren wer fie fei.
In immer gleicher Entfernung hinter ihr her
gehend, gelangte er endlich in einen ber entleges
neren Stabttheile, und fah fie in ein Haus eintres
ten, da, nach feiner Bauart zu urtheilen, nur von
Familien der arbeitenden Stände bewohnt fein konnte.
8
159
ine Weile blieb er davor fliehen, um bie
und Ausgehenden zu beobachten, aber es kam
and. Nur vie plögliche Erleuchtung eines
ſtübchens gab ihm einen, wenn auch gerin⸗
Iuffhluß über des Mädchens Wohnung und
: über ihren Stand.
n die Friedrichsſtadt zurüdgefehrt, war es zu
geworden, Frau von Werde zu befuchen.
ing alfo nady Haufe, abwechſelnd befchäftigt
em Erlebniß in der Oper und mit der jun
Schönen, bis er fich niederlegte und in feis
Träumen die Legtere die Oberhand gewann.
18 er am folgenden Morgen, feine Cigarre
end, im Fenſter lag, und die lange Fries
traße hinabfchaute, überrafchte e8 ihn, daß
jedem zur Arbeit gehenden Frauenzimmer
Unbefannte zu entdeden glaubte. Er lachte
lich über die Jugendlichkeit dieſer Neugier
dieſes Antheils, ald fie mit einemmale
ih aus der ihm zunaͤchſt liegenden Quer:
hervortrat, und mit ihrer ruhigen, fichern
ing wieder ihren Weg nad) den *inden
160
Man braudt eine Phyfiognomie nur einmal
gefehen zu haben, dachte er, um ihr immer wie
ber zu begegnen, und doch that es ihm, während
er diefe gleichgültige Bemerkung machte, leid, nicht
angefleidet zu fein und ihr nicht folgen zu koͤn⸗
nen. Selbſt als er ſich zur Arbeit niedergefeht
und fi in den Acten feiner Proberelation für
das Affefforeramen vertieft hatte, fand er, daß feine
Gedanken bei ihr weilten, und er erinnerte ſich
nun, daß ihm im Traume ihr Bild mit alten
fernliegenden Jugendeindrüden in wunberlicher
Weiſe zufammengefloffen war,
Hatte er Anfangs gelacht über den Antheil,
ven fie ihm einflößte, fo fing diefer ihn zu ver
brießen an, weil er im Wiberfpruche mit feis
nen Plänen ftand. Sein Vater wiünfchte ihn
verheirathet zu fehen, er felbft hatte es fid
oft gefagt, daß es Zeit für ihn fei, an die Ehe
zu benfen, weil er ded Herumfchweifend und ber
Abenteuer fatt fei, die allen Reiz für ihn ver-
loren hatten. Sich jebt von einer fo gleichgüls
tigen Begegnung lebhaft befchäftigt: zu fühlen,
war ihm ärgerlih. Und um aller Neugier umd
161
ntheil ein Ende zu machen, beichloß er,
bmittage in die Wohnung der Schönen zu
ih nad ihr zu erfundigen, und dann bie
uhen zu laffen, wenn er der jugendlichen
ber thörichten Aufwallung, die in biefem
ı etwad Befondered zu ſehen gewähnt,
Aufchendes Genüge gethan haben werde,
mochte vier Uhr fein, als er von feiner
mahlzeit fommend, dad Haus erreichte,
er geftern das Mädchen Hatte gehen fe
)as Gebäude war vierftödig und nur vier
breit, In jeder Etage wohnten nach den
an den Thüren zwei Yamilien, aber Ylus
Treppen waren auffallend fauber gehal-
> die Wohnungen alle verfchloffen. Im
Stode, in dem er an beiden Wohnungen
t, und in vorfichtiger Weife Auskunft zu
verfucht, hatte man von einer Näherin
fe Nichts zu wiſſen behauptet, In der
Stage war ihm nicht geöffnet worden, und
d mehr gewann dad Haus ein Elöfterlis
jehen für ihn, das ihn in Verwunderung
d feine Theilnahme erhöhte, „wei es jo
ıngen. I.
162
felten ift, daß man in den Häufern ber Armuth
Ruhe, Sauberkeit und Schiclichkeit begegnet.
Er hatte jeßt nur die Wahl, unverrichteter
Sache umzufehren, und ſich, wollte er durchaus
feine Neugier befriedigen, in dem nächften Polis
zeibüreau einen Ausweis zu verfchaffen, ober bi
rect zu dem Mädchen felbft zu gehen. Das Er
ftere konnte ihn als einen Roue erfcheinen lafs
fen, das Letztere hoͤchſtens das Mädchen beleidi⸗
gen. Bei allem Intereſſe aber, das er an ihrem
gefitteten Wefen genommen hatte, meinte er ben
noch, ein Frauenzimmer, das in ber Erferftube
eined entlegenen Reviered wohne und Abends
fpät allein dur die Straßen gehe, koͤnne im
Grunde eined folchen Begegniffes nicht unge
wohnt fein und nicht eben ſchwer durch baffelbe
beleidigt werden. Seine Meinung von den Mäb-
chen veränderte fi, durch die Art, in der er nad}
bemfelben forfchte, und weil er es niedrig behan-
bekte, fchien es ihm plöglich erniedrigt.
Als er anklopfen wollte, fühlte er ein Wider⸗
fireben, Er hätte es eine üble Ahnung nennen
mögen, hätte er fich folcher Schwäche nicht ge-
163
mt, Aber fchon im Begriffe fortzugehen, fagte
ich, daß die Bewohnerin am Morgen bei ihm
hbergefchritten, daß fie alfo nicht zu Haufe
. werde, und daß ed daher ohne alle Bebeus
g fei, ob er anklopfe oder nicht. Sei fie aber
) zu Haufe, nun fo fei es eben auch gut,
das ganze Vorhaben das gleichgültigfte von
Welt. Im diefer Ueberlegung pochte er ſchnell
— fuhr aber doch zufammen als e8 „herein!“
‚ mit der Stimme, bie er geftern fo anziehen
ınden hatte,
Die junge Perfon Iffnete die Thüre, trat ers
et zurüd, als fie ihn gewahrte, und fchien
ıt gleich zu wifjen, wie fie ihm begegnen ſolle.
‚glich jedoch zudte eine wunderbare Bewegung
ch ale ihre Züge, und faft athemlos fragte
ihn, was er wuͤnſche? während fie zurüdtrat,
in dad Zimmer einzulaffen.
Es war ein mäßig großer Raum. Auf einem
jtritt in dem weit hervorfpingenden Eifer,
mit einer Gardine von buntem Kattune bes
gt war, ftanden ein Nähtifch und ein beque-
Strohftuhl. Ein Vogelbauer mit Epheu
11*
164
umranft, glänzte in der Abendfonne, hellgelb wie
das Gefieder ſeines Bewohners. Ein Eopha,
über dem eine Buitarre hing, einfache, hoͤchſt faus
ber gehaltene Möbel und eine Menge alter Bil
derchen an den Wänden gaben der Stube einen
Anftrih von Wohnlichkeit und feſſelnder Zierlid-
feit, mit dem das ſchwarze Wollfleid und ber
weiße Kragen ber Beftigerin in vollem Einklang
ftanden.
Erich, von dem lieblichen Bilde angenehm bes
rührt, fühlte fi außer Stande, fein Kommen
durch irgend einen Vorwand zu erflären. Es
dünfte ihn unmöglich), der Elaren Stimme biefed
Mädchens, ihren gewaltigen Augen gegenüber
eine jener gewöhnlichen Unwahrheiten auszuſpre⸗
hen. Und faum hatte er auch den Fuß über ihre
Schwelle gefest, ald fie ihn mit dem Ausrufe:
„Wir haben und fchon gefehen!” der Nothwen-
bigfeit entzog, die Unterredung zu beginnen.
„Ja!“ antwortete Erih, „und weil Sie mir
geftern — —“
„Geſtern? — O! nicht von geſtern ſpreche
ich!“ fiel ſie ihm in's Wort, wendete ſich nach
165
— — — —
ı Nähtifh, nahm aus einem ſaubern Kaͤſt⸗
eine Bruftnadel heraus, deren Kopf eine
yoolle Perle bildete, trat mit flammen⸗
Erröthen vor ihn Hin, und fragte, ins
fie ihın die Nadel zeigte: „Kennen Sie bie
[2%
Regine!” rief Erich im Tone der Veberras
ıg und des Entzüdend. Und ohne zu wiffen,
es gefchah, hatte er fie in feine Arme gezos
hing fie an feinem Halſe, weinend und la
», verfhämt und zutraulich, vol Schreden
vol Hingebung.
‚Darum mußte ich immerfort an Di, den-
' rief Erich endlich, als fie Beide ihrer Aufs
ig Herr geworden waren. „Es ließ mir
t und Tag nicht Ruhe. Haft Du mid) denn
nt, als Du mich geftern anfpradhft?”
Nein!” fagte fie, „aber ich erkannte Sie
er, fobald Sie zu mir fprachen !”
Und Du fagteft es mir nicht?”
Was mußten Sie von mir denken, hätte ich
in dem Augenblide an unfere frühere Be:
Schaft erinnert! Sie fonnten fie lange vers
*
166
gefien haben! — Es war ja auch möglich, daß
ih mid irrte!“ —
„Und Du haft mich nicht vergefien?“ fragte
er, ded Gegentheild gewiß.
Sie antwortete ihm nicht, aber fie faß an
feiner Seite auf dem kleinen Sopha, und das
volle Sonnenlicht, das durd den Erfer drang,
war nicht fo freubeftrahlend, als ihr fchönes An
geficht, das ihm in vollem Liebedglanz entgegem
leuchtete.
Sie hatte ihn nur einen Augenblid gefehen,
fie hatte feinen Namen nie erfahren, und bob
war er ber Traum ihrer Nächte, der Gedanke
ihrer Tage, fein Geſchenk ihr Eoftbarfter Beſitz ge
wefen, feit aus der Phantaſie ded Kindes feine
märchenhafte Erfcheinung in das Herz der Jungs
frau übergegangen war. Es fiel ihr nicht auf,
daß er gefommen war, daß er fie Du nannte,
iwie an jenem erften Abende, daß er ihre Hände
in ben feinen hielt und wieder ihre Stirne kuͤßte,
wie er einft gethan. Unzählig oft hatte fie in
ihren einfamen, arbeitövollen Tagen fich bie
Wonnen eines folchen Wiederfindens ausgemalt,
167
Gläubige fi) in Hoffendem Vertrauen die
t des Paradieſes vorftelt.e Wie follte
yefremden, daß fo vieler Liebe, fo vielem
ı, ſolch feftem Hoffen endlich auch die ers
Srfüllung befchieden ward?
erzählte von ihrer Ankunft in Berlin, von
en an ded Vaters Seite, von dem neuers
tfolgten Tode deſſelben, von ihrem erften
nad) ihrer Vaterftadt zurüdzufehren, ben
hren die großen Koften fie gehindert, „und, ”
3 fie, „wie danfe ich es jet dem Himmel,
nicht die Mittel befaß, die Stabt zu ver-
n der ich Sie wiederfinden mußte!”
nählidy erfuhr Erich von ihr, baß fie feit
er geftorben fei, fich von ihrer Hänbdearbeit
daß fie reichlich erwerben könne, was fie
en Unterhalt bebürfe, daß fie ohne alle
ichaften fei, weil des Vaters trübfinniges
ßtrauiſches Wefen jeden Umgang von fid)
fen und fie in Höfterlicher Einſamkeit ge
yabe,
id num lebft Du bier ganz allein?” fragte
‚ift Dir das nicht drüdend ?”
168
„Sch bin ja faft alltäglich aus, vom frühen
Morgen bis zum Abende, und es ift auch eine
Gnade von Gott,“ fagte fie, „daß ich grade
heute nur den halben Tag in Arbeit fein mußte.“
„Haft Du es gut in den Häufern, in bie
Du geht?” forſchte er, weil ed ihn ſchmierzte, fie
fremden Launen oder gar übler Behandlung aus⸗
geſetzt zu denken. „Möchteft Du nicht lieber hier
in Deiner Behaufung arbeiten?“
„Nein!“ entgegnete fie, „der Menfch Hat es
doch nöthig mit anderen Menſchen zu verkehren.
Sch werde gut behandelt wohin ich Fomme. Die
Damen find meift freundlich, die Kinder hängen
an mir und ich nehme meinen Theil an Allem,
was bort vorgeht. Da habe ich was zu denken,
bin ich dann allein zu Haufe!”
„Und fonft hatteft Du nichts Anderes!”
Sie lächelte. „Immer fort Fonnte ich doch
an Sie nicht denfen!” rief fie mit einem Ausdruck
verfchämter Schelmerei, der an diefer majeftätifchen
Schönheit fo reizend erfchien, daß Erich nit
müde werben Fonnte, e8 ihr nachzufprechen und
ſich daran zu beraufchen.
. 169
Es war fpät geworden, die Lampe hatte
yon mehrere Stunden gebrannt, ehe e8 ihm eins
1, daß er gehen muͤſſe. Sie hatten Speife und
ranf vergefien. Als er aufitand und von ihr
ſied, fragte er nicht, ob oder wann er wieder
mmen bürfe? Er fühlte,. daß er Herr in dies
n Raume fei. Und fehwindelnd vor Aufregung
ıd Freude eilte er die engen, dunkeln Treppen
nunter auf die Straße, um ſie fortan alltäglich
jeder zu betreten,
Ale feine guten WVorfäße, feine Heirathöplane
wanden in ein Nichts dahin vor der Liebe,
e ihm bier fo unerwartet und in einer ihm
ig neuen Schönheit begegnet war, Als fände
in einer Wüfte fich plöglich von dem Schatten
1ed erotifchen Blumenbaumes verhält und ab-
trennt von der Welt um ihn her, fo fanft glit«
ı feine Stunden in der füßen Einfamfeit mit
egine vorüber, für die feine Leidenfchaft bald
ne Grenze mehr kannte. Ein Tag, an dem er
nicht fah, war feinem Leben verloren, Er
nnte ed bald nicht mehr ertragen, fie in frems
n Häufern arbeitend zu benfen, und ohne Wis
1770
derſtreben allen feinen Wünfchen fügfam, gab fie
ihre bisherige Ermwerbsthätigkeit auf, um aud
fchließlich für ihn zu leben.
Nur mit ihm allein befchäftigt, von dem Ges
danfen an ihn allein erfüllt, fah fie die fpöttifchen
Blicke ihrer Nachbarn nicht, wenn alltäglich ber
fhöne junge Mann fie beſuchte. Sie hatte in
ſich Nichts zu überwinden, ald er ihr vorfchlug,
eine Wohnung zu beziehen, die er für fich und
bie Geliebte einrichten laſſen, fte fragte fich nicht,
wohin er fie geführt? nicht, wie das enden folle?
Sie fah ihn glücklich, fie war es felbft, und fie
Fannte dad Leben, fie kannte die Menfchen nicht.
Woher follten ihr Zweifel oder beunruhigende
Vorftelungen fommen? So wenig man an ben
Tod denkt im Vollgefühl der Jugend, fo wenig
zweifelt man im Vollgefühl der Liebe,
Die gänzliche Abgefchiedenheit, in der fie ers
zogen war, ihre eigene reine und fefte Natur hats
ten ihr eine Einfalt de8 Herzens und eine Unbe:
rührtheit der Seele erhalten, wie Erich fie an Fei-
nem Mädchen jener Stände wahrgenommen, in
denen bie Mütter ed ſich zur Aufgabe machen,
171
e das Gemüth ftörenden Einflüffe von ihren
schtern zu entfernen. Mit einer Falten Theil
‚bmlofigfeit Hatte fie in den Monaten, nad)
red Vaters Tode, fi) in fich felbft zurüdgezos
n und gläubig dem Augenblick entgegengelebt,
dem nach ihrer feften Meberzgeugung der Ges
bte ihr erfcheinen mußte Nun er gekommen
ar, legte fie ihre Zufunft mit gleicher Zuverficht
nz in feine Hände,
Und wie Regine in ihrer Liebe nur die Ges
nwart empfand, fo verfenfte fih Erich bemußt
id unbewußt in den Zauber berfelben. Alle
ergnügungen der Reſidenz waren Regine fremb,
le Quellen der Bildung ihr verfchloffen geblie-
n. Bon ihm erhielt fie den oft erfehnten Un-
richt in jenen Wiffenfchaften, den die Kinder
r Reichen in der erften Jugend empfangen. Mit
m zuerft befuchte fie die Promenaden und öffent-
he Luftbarfeiten. An feiner Seite betrat fie an
zen Abende, ald die Schröder » Devrient die
olle des Nomen fpielte, zum erften Male das
heater.
Schon bie erften Zöne der Ouvertüre erfchüts
172
terten ihr ganzes Weſen. Bleich und zitternd
faßte fie die Hand des Geliebten, ald müßte fie
einen Halt fuchen, nicht unterzugehen in bem
wogenden Meer der Töne, bie fie umraufchten,
und ihrer felber nicht länger Meifter, Hüllte
fie ihre Gefiht in ihre Hände, die Thraͤnen
zu verbergen, die .eine ungeahnte Macht ihren
Augen entlodte, AS dann der Vorhang fich hob,
ald der Ehor erfehien, und endlich die Devrient als
Romeo hervortrat, das ſchwarze Barett auf den
prächtigen, blonden Locken, den bligenden Degen
in der Rechten, um mit ber fiegenden Alfgewalt
ihrer glorreichen Stimme den Racheſchwur zu fin-
gen, da erſt trodneten Regina’d Augen. Was fie
jest empfand war zu groß für Thränen. Athem-
08 hörte fie die Arie:
Vor Romeo’3 Rächer: Armen,
Sol kein Gott, fein Gott Euch fchügen,
Und von feined Schwertes Blitzen
Treffe Euch der Todesſtrahl.
Wie einer Offenbarung Hingegeben, folgte fie
dem Verlaufe der Oper bis zu ihrem Ende, wo
173
h fie erinnern mußte, aufzuftehen, fo regungs⸗
in fich verfunfen ſaß. fte da.
Sie hatten ven Heimweg zurüdgelegt, fie was
in ihrer Wohnung angelangt, und immer
, fchwieg Regine, wie unter einem Banne,
dem felbft Erich's Fragen fie nicht empors
ißen vermochten. Mit einer Art von Angft
ahrte er den Eindrud, welchen die Oper und
Meifterfchaft der erſten Künftlerin ihrer Zeit
die Geliebte gemacht hatten. Ihre Seele war
ıt abgeftumpft durch die ſchädliche Gewöhnung
Kunftgenüffe, in einem Alter, in welchem wir
ſt fähig find fie zu verftehen, und in dem,
t entfernt unfer Empfinden und unfer Urtheil
üben, fie und nur jene Gleichgültigfeit aners
t, die und fpäter achtungslos und ohne Hin-
ung vor den Schöpfungen der Kunft vorüber:
en läßt.
Endlich fuhr Regine wie aus einem Traume
yor, ftrih mit den Händen über ihr Haar und
te gegen Erich gewendet: „Das wird mit
te Ruhe lafien von heute ab!”
„Was?“ fragte Erich verwundert,
174
„Die Sehnſucht, auch fo dazuftehen wie fie,
und al die Liebe, al die Wonne, für die dad
arme Menfchenherz zu eng ift, binaus zu fingen
in die Welt, daß fie: Alle mir helfen fie zu
tragen!"
Dabei Hatte fie begeiftert die Hände empor
gehoben, die Arme audgebreitet, und fand in
einer Stellung vor ihm, um deren natürliche
Großartigfeit jede Künftlerin fie beneiden Fonnte,
Erich ftaunte fie an und vermochte ſich dennoch
nicht daran zu freuen.
„Bas fiht Dich an, Liebfte!” fragte er, fie
zu fich nieberziehend, „Du, Du möchtet Schaus
fpielerin werden ?*
„Sat ich möchte es!“ rief fie mit berfelben
Begeifterung.
Erich fehüttelte zweifelnd das Haupt. „Du
möchteft Deine Tage damit hinbringen, Rollen
einzuüben, mir Deine Zeit entziehen, um am
Abende Dich den frechen, neugierigen Bliden all
ber Männer hinzugeben? Diefe geliebte Stirne,
diefer Naden, bdiefe Arme — und er bebedte fie
mit feinen Küffen — die mein eigen find, bie
. 175
Uteſt Du entweihen lafien durch ein frembes
ige?“ — Er ließ fte los, ftand auf, wendete
von ihr ab und fagte mit fchmerzlicher Klage:
Ju liebſt mid) nicht, Regine! *
Es bedurfte nur diefes Wortes, fie in feine
me zu führen und ihr die Erklärung zu ents
fen, daß fie nicht gewußt, nicht überdadht, was
gefprochen, daß fie erfchrede vor dem bloßen
:danfen ſolcher Schauftellung und daß fie Nichts
jehre, Nichts verlange, als ihm zu gefallen und
a zu fein.
Indeß trog der Wahrheit diefer Berficherungen
wand der Gedanke an die Oper nicht aus ihrer
:ele, und fchon nach wenig Tagen bat fie den
liebten, fie in der Mufif und namentlich im
fange unterrichten zu laſſen. Erich's Etirne
düfterte fich bei der Forderung, die zu erfüllen
verweigerte. So oft fie auch bald fiherzend,
ſd ernfthaft, auf dieſelbe zurüdfam, immer
eder trat ihr feine Mißbilligung beftimint ents
ven, bis fie fich endlich genöthigt fah, auf bie
währung dieſes Wunfches, des erften, ben fie
vn Erich ausgefprochen hatte, zu verzich-
176°
ten, ohne ihn jedoch in ſich unterbrüden zu
fünnen,
Eiferfüchtiger, als er ſich's eingeftand, hatte
Erich eine Abneigung gegen ihre Vorliebe für die
Muſik gefaßt. War e8 ihm früher ein Genuß
gewefen, fie mit ihrer Elangreichen Sopranftimme
ihre Eleinen deutſchen und franzöfifchen Lieber zur
Guitarre fingen zu hören, fo vermied er das jekt
geflifientlih, und fuchte ihre Theilnahme mehr
auf die Werke der Litteratur zu richten. Indeß
troß der Freude, welche fie daran empfand, blieb
ihre alte Sehnfucht unvermindert, und ward nur
lebhafter durch die Hinderniſſe, welche ſich ihr ent-
gegenftellten. Sie forderte nicht mehr bie Oper
zu befuchen, fie fang nicht mehr in Erich's Ges
genwart, aber fie entfchädigte fich in den Stun⸗
den, die er fern von ihr verleben mußte, für ben
ihr auferlegten Zwang, und mit dem glüdlichften
muftfalifchen Gedaͤchtniſſe begabt, wußte fie ſich
bie fehwerften Melodien anzueignen, die fie Gele
genheit zu hören fand,
Wochen und Monate flogen an ihnen in im»
mer gleicher Luft, in immer gleicher Liebe vorüber,
177
ch hatte fein Eramen gemacht, ohne daran zu
fen, daß er beabfichtigt habe, gleich nad) dem⸗
en in bie Heimath zurüd zu kehren. In Ber:
aber hätten die Familien, in denen er fonft ges
‚ an feine Abreife glauben müflen, wären fie
ı nicht bißweilen an’ öffentlichen Orten mit
t Dame begegnet, deren Schönheit dad Staus
der Männer erregte, welche ihm die reizende
liebte beneideten,
So fehr er fi) durch feine Liebe gleichgültig
en die Gefellichaft glaubte, fand er doch ein
Bed Genügen daran, der Gegenftand ihrer Neus
: zu fein. Durch feine Leidenfchaft gezwungen,
ı öffentlichen Urtheil troß zu bieten, machte er
ein Bewußtfein daraus, daß er ed that, und
; er Herr geworden war über feine Scheu
der öffentlichen Meinung Unfähig eine
hre innere Freiheit zu gewinnen, ftellte er ſich
Nothwendigkeit, der er erlegen war, fo lange
eine That der Selbftbeftimmung vor, bis er
endlich dafür hielt, und gemartert von der
nen Abhängigkeit, befaß er grade Energie ger
1), ſich dieſelbe weg zu läugnen.
Wandlungen. I. 12
178
Am auffallendften mußte fein Sortbleiben im
Haufe der Frau von Werbe bemerkt werben, bad
er fonft faft täglich befucht hatte. Da man ihn ftets
ald den Fünftigen Gatten ihrer Tochter angefehen,
beeiferte fc) jene Theilnahme, welche Luſt daran
findet, unangenehme Nachrichten möglichft fchnell
zu überbringen, Frau von Werdeck über die Ber
hältniffe des jungen Mannes in Kenntniß zu
fegen. Betroffen über ein Ereigniß, welches fie
weder mit Erich's Achtung vor den Geſetzen Aus
Berer Schidlichkeit, noch mit feiner unverhohlenen
Bewerbung um Sidonie zu vereinen wußte, Hatte
fie lange beabfichtigt, einmal ruhig ! mit ihm
darüber zu fprechen, als ein Zufall dieſen Plan
vereitelte,
An einem Abende, ald Eric) nad) langem
Ausbleiben wieder einmal am Theetiſch feiner
Freundin erfchien, waren ein Baar junge Damen
zum Beſuche gefommen, welche mit großer Leb⸗
haftigfeit die Reize eines Maskenballes im Opern:
haufe jchilderten, fo daß Fräulein von Werbed
ſich von der Luft ergriffen fühlte, die gleiche Herr⸗
lichfeit zu genießen, und ſich deshalb mit ber
179
je an die Mutter wendete, ob fie ſich nicht
chließen Fönne, fie einmal hinzuführen?
Frau von Werdeck ſah Tächelnd auf ihren
errod von ſchwarzem Taffet und auf die weißen
ider ihrer Haube herab, da fie feit dem Tode
8 Mannes fi aller farbigen Kleidung ents
en hatte, und fragte: „Haft Du Dir wohl
jeftellt, wie dieſe dunkle Tracht fich unter den
öfen machen würde, oder meinft Du, daß id)
n einem Domino verhüllen ſolle?“
Sidonie und die jungen Mädchen lachten,
ı ed hatte wirklich etwas Komifches, fich die
te Frau in einer ihrem Weſen ganz entgegens«
bten Umgebung zu denken. Die Sehnſucht
ı dem Fefte war nun aber einmal angeregt,
fchmeichelnd fagte die Tochter: „Ich verlange
zar nicht liebe Mama, dag Du Dich hinbes
ft, laß mich nur mit der Tante gehen, die
nächften Ball beſucht!“
Ihre Freundinnen baten fuͤr ſie, auch Erich
te der Mutter zu, ihr das Vergnügen zu
itten, fo daß Jene halb befiegt, nur noch
Einwand machte, Sidonie müffe, wenn fie
12*
180
es erlauben folle, einen männlidhen Begleiter
haben. |
Unwillführlich wendeten der Tochter Augen
fi) auf Heidenbrud, und ſogleich machte er ben
Vorſchlag, Frau von Werde möge ihn zum Car
valier derfelben annehmen,
„Sie?" fragte die Mutter, in einem Tone,
der Erich unangenehm befremdete, und fich dann
ſchnell bemeifternd, meinte fie: „Wenn Sibonie
zu dem Balle gehen follte, will ih Sie darum ers
fuchen!” aber auch dieſe begütigenden Worte Elans
gen ſcharf und Falt.
Er glaubte, daß fie eine Ablehnung enthielten,
und mit jenem fonderbaren dämonifchen Zuge, ber
in ſolchen Lagen oft grade die zurüdhaltenbften
Menfchen treibt, eine unangenehme Berührung
herauszufordern, fragte er, als Sidoniens Gäfte
fih entfernten, und fie felbft dad Zimmer verließ
ihnen das ©eleit zu geben: „Warum wollen Sie
mir Fräulein Sidonie nicht für den Abend anver-
trauen, gnädige Frau?”
Eie fah ihn einen Augenblid an, fehwieg,
ſchien nicht mit fich einig zu werben, und -fagte dann
181
en ihre Gewohnheit von einer leidenfchaftlichen
fmallung fortgeriffen: „Weil man eine Masfe
Ihrem Arme — nidt für meine Tochter
ten würde!”
Eine dunfle Röthe überzog Erich's Geficht,
ie Freundin aber erbleichte vor ihren eigenen
ten, und als habe das Ausſprechen bed lang
haltenen Grolles ihr die alte Freiheit und die
» Zuneigung für ihn wiedergegeben, reichte fie
ı die Hand und fragte klagend: „Mußte e8 dahin
amen? Mußte ich Sie verlieren, lieber Freund?“
Er fah, daß ihre Augen fih mit Thränen
ten, fein Zorn entf hwand vor dem Klagelaut
Stimme, die bisher nur Worte der Güte für
: gehabt hatte. Sein Herz ſchwoll auf, und zum
en Male empfand er, daß er auch hier ein Glüd
effen und daß er es für Regina hingegeben habe,
„Verdammen Sie mich nicht ungehoͤrt!“ fagte er.
„Ich Eie verdammen? Ich beflage Sie nur,
n Sie thun Sich Unrecht, Erich! in der öffents
en Meinung und in dem eigenen Bewußtfein,
e, grade Sie find nicht gefchaffen, Befriedigung
Zuftänden zu finden, in denen — —“
182
Der Tochter Eintritt unterbrach fie, aber ihre
Bewegung und des Freundes Befangenheit fonn-
ten berfelben nicht verborgen ‚bleiben. Unent⸗
ſchloſſen, ob fie verweilen ober fich entfernen folle,
ftand fie da, die hohe ſchlanke Geftalt, die tief
zur Taille herabfallenden röthlicy blonden Locken
vom Licht der Lampe beleuchtet, und die heil blauen
fharfen Augen fragend auf die Mutter gerichtet,
von ber fie, trog ihrer ein und zwanzig Jahre,
in volftändiger Abhängigfeit gehalten warb.
Eine überlenfende Bemerkung ber Frau von
Werdeck brachte die Unterhaltung auf einen ans
bern Gegenftand, aber fie wollte in Feinen red.
ten Fluß mehr fommen. Eric fonnte das uns
berechtigte Gefühl nicht los werben, ald ob nidt
nur die Mutter, fondern auch Sidonie ihn mit
dem Ausdruck des Mitleides betrachteten, als ob
man ihn mit jener Vorficht behandle, mit welcher
man einen Berirrten auf den rechten Weg zu füh-
ren fucht. Seine Eitelfeit empörte fich dagegen
eben fo fehr, als fein Ehrgefühl von der Selbſt⸗
erfenntniß litt, daß Frau von Werbed ihm in ben
jegigen Berhältniffen wirflic die Begleitung ber
nn. DD, a1 a — nn
183
Lochter nicht geftatten Fönne, bie ihm plöglich als
ine wünfchenswerthe Gunft erfchien.
Berftimmt erhob er ſich endlih um fich zu
erabfchieden. Der liebevolle Händebrud der
Rutter, Sidoniens unbefangenes: „auf baldig
Viederſehen!“ thaten ihm fo wohl, daß es ihm
rs Herz fchnitt, fich einer folchen Ermuthigung
ebürftig gemacht zu haben, und zum erften Male
am er verbüftert, Falt und ſchweigſam zu ber
n erwartenden Geliebten zurüd,
Achtes Kapitel,
Erft eine geraume Zeit, nachdem Erich Regine
wiedergefunden, hatte er erfahren, daß fie Fries
brich Fenne, und in einem gefchwifterlichen Ber
hältniffe zu ihm geftanden habe. Schwer von
diefer Mittheilung getroffen, unfähig feine Ders
bindung mit ihr ungefchehen zu machen, Hatte er
es vermieden, Friedrich’8 ferner gegen Regina zu
erwähnen, bie ohnehin ſich faum noch in einem
Zufammenhang mit ihren alten Freunden befand.
Aber mitten in dem Rauſche feiner Leidenfchaft,
mitten in dem Genuſſe feines Glückes, Hatte dad
ernfte Bild ded Freundes vor ihm gefchwebt und
Rechenſchaft von ihm gefordert für den Mißbrauch
185
ewalt, bie bed Maͤdchens Unerfahrenheit
ebe ihm über daſſelbe eingeräumt,
kannte die Strenge von Friedrich's ſitt⸗
Begriffen, er hatte ihn ftets unnachfichtig
en gegen jene MWeberfchreitungen berfelben,
an ſich gewöhnt hat mit Nachficht zu ber
n, weil man ihnen bei unferer verfehrten
ation feine Schranfen zu ſetzen vermag.
ebanfe, ein Mädchen, weldyes feinem Freunde
war, verführt zu haben, machte es ihm
d, ihm zu fchreiben. Vergebene fuchte er
t dem eigenen Bewußtfein mit der wuns
n Liebe und Hingebung Reginen’d zu ents
zen. Vergebens fagte er fi, daß nicht
ein Mann dem verlodenden Zauber viefes
‚ümlichen Begegnend wiberftanden haben
Was ihn rechtfertigte in den Augen
MWeltmannes, diente nur dazu, ihn vor
ch noch ftrafbarer erfcheinen zu laflen, und
: ihm eine Erleichterung, daß Regina, ganz
en in die Gegenwart, ihrer Vergangenheit
red Jugendfreundes bald gar nicht mehr
e.
186
Friedrich, mit ſich felbft bejchäftigt, hatte es
wohl bemerkt, daß bie Briefe Erich's feltener
und flüchtiger wurden, aber auch er fühlte in bie
fem Augenblide feine Neigung zu ſchriftlichem
Verkehr, und fo fonnte ed um fo leichter gefchehen,
daß ihre gegenfeitigen Mittheilungen endlich vollig
unterblieben, da fie Beide durch die Heidenbruck⸗
fche Familie doch in einem oberflädhigen Zufams
menhange erhalten wurben.
In dem Leben jedes ftrebfamen Menſchen
fommen Zeiten vor, in denen feine geiftige Ent
widelung aus ihrem gleihmäßigen Gange her-
ausgeriffen und zu gewaltfamen Fortfchritten ges
drängt wird, bie meift durch Äußere Ereignifle,
durch das Herantreten freinder Naturen hervor⸗
gerufen werden. Mit dem erften Befuche ber
Erbauungsftunden bei der Gräfin hatte eine
folhe Epoche für Friedrich angehoben, und der
Zwiefpalt, in welchen Cornelie zu ihrem Vater
gerathen war, hatte dazu beigetragen, bie Krifis
entfchiedener und fchärfer audzuprägen.
Der Baron naͤmlich, durchdrungen von bem
Grundfage, daß wer den Zweck will, auch bie
187
ittel wollen müfle, Hatte fi) offen gegen ben
octor über die bedenkliche Richtung ausgefpros
n, welche Gornelie genommen, und mit Er
unen bemerft, daß Iener ihren Thun und
reiben mit großer Achtfamfeit gefolgt war.
sh der Doctor ſchien über Cornelie beforgt zu
n, ohne wie der Baron, an die Möglichkeit
glauben, dag man fie durch Gründe der Ver⸗
ınft von ihrem Srrthum überzeugen Fönne,
„Religiöfe Ueberfpannungen*, fagte er, „wols
n ihren ungeftörten Verlauf haben wie die Kin⸗
rfranfheiten, bei denen die gefunde Natur das
iefte thut, wenn nicht Zwifchenfälle ihre Thä-
gfeit verhindern. Und fo feft ich an bie innere
taft Ihrer Tochter glaube, fo fürchte ich, daß
e, durch ein anderes mitwirkendes Element ges
indert, nicht frei ift, ihre Kraft zu brauchen!”
„Was meinen Sie damit?" fragte der Baron,
„Bräulein Eornelie hegte ſchon bei den LXebs
iten ihrer Mutter eine große Theilnahme für
yerrn von Pleffen, und der Spiritualismus des
'reifes, in dem fie fich beivegen, hat, nach allem,
a8 ich davon weiß, ein gutes Theil überfinnlis
188
her Sinnlichkeit in fih, die ganz dazu geeignet
ift, ein Mädchen von drei und zwanzig Jahren
aufzuregen und an irgend einen ihrer Glaubens⸗
brüder zu feſſeln. Bräulein Cornelie liebt den
Herren von Pleſſen!“
Der Bater fhwieg. Er wußte, daß ber Dow
tor niemald eine Behauptung aufftellte, für bie
ihm die Beweife fehlten, aber man konnte an ber
heftigen Bewegung, mit welcher der Fuß bes Bas
rons leife und fchnell den Boden trat, feine Stim⸗
mung erfennen.
Es liegt etwas Schmerzliches darin, einen
Mann von den Folgen feiner Irrthuͤmer Teiden
zu fehen, wenn wir wiffen, daß er im guten
Glauben an die Wahrheit feiner Anfichten gehans
belt hat. Der Doctor fühlte Mitleid ‚mit dem
Bater, und fam dem Kummer deſſelben durch bie
Bemerkung entgegen: „Ed wird Ihnen in bie
jem Falle Nichts zu thun bleiben, ald nad) dem
Beiſpiel Ihres Göthe zu verfahren! *
„Daß heißt?” fragte der Baron.
„Sie müffen die Irrende ihre Straße gehen
laffen, aber wie der Abbe im Wilhelm Mkeifter
189
jeinen Lehrlingen thut, ihr alle gefährlichen
tenwege verfperren, fo baß fie mit dem Ges
‚ ber Freiheit fich gezwungen fieht, das rechte
zu finden.”
Dem felbfiftändigen Menfchen ift ein Aufruf
feine Thätigfeit die beſte Stübe gegen fein
». Die Ausficht, vorforgend für Eornelie ein,
seten, bob ten Vater über ſich und fein Ems
ıden hinaus, und mit der gewohnten Ruhe
te er: „Es dringt ſich mir täglich klarer bie
em Menfchen fchmerzliche Erfahrung auf, daß
älter werde, daß dad Alter und die Jugend
nicht mehr verftehen, und daß die Scheides
nd zwifchen der Vergangenheit und Gegenwart
unferen fehnelllebenden Tagen größer ift, als in
heren Zeiten. Ich Hatte gehofft, mir in meis
: Kindern gleichgelinnte Freunde zu erziehen,
en mit der Erfahrung meines Lebend zu nuͤtzen,
» ih muß finden, daß die Saat jener Ueber⸗
zungen, bie ich von ihrer Kindheit an in ihre
zen zu ftreuen mich bemühte, nicht die erwars
n Früchte trägt, Woran liegt das, Doctor?”
„Mein verehrter Freund!” entgegnete dieſer,
‘ 1%
N
„muß ich Ihnen, dem erfahrnen Landwirth jagen,
daß dieſelbe Saat auf verfchiedenen Boden ge
|
|
|
|
|
freut, von einem verfchiedenen Klima groß gezo⸗
gen, auch eine von der Saat verfchiedene Frucht
erzeugen muß?”
„Daraus folgt?“ fragte der Baron,
„Daraus folgt, daß man jedes Gewäͤchs in
feiner Eigenthümlichfeit und nad) feinen Außeren
Bedingungen ſich entfalten lafien muß, will man
überhaupt eine Frucht davon erzielen!“
Es entitand eine Pauſe. Der Baron Fannte
den Grundfag wohl. Er hatte ihn in der Bes
handlung von Pflanzen und Thieren mit dem glüds
lichften Erfolge geübt, ihn auf ven Menfchen anzus
wenden, dem Menfchen gleiche Rüdficht und Ge⸗
rechtigfeit angedeihen zu laffen, fträubte fich feine
Herrfchfucht, Denn wunderbar genug, erfennen wir
leichter die innere Berechtigung der Wefen an, welche
wir die willenlofen, die mit blindem Inſtinct bes
gabten nennen, ald die Selbftberechtigung des Mens
chen, deſſen Vernunft und freien Willen wir als
feine wefentlichften Vorzüge rühmen,
„Es ift hart," fagte er nach langem Schwei⸗
191
„daB man fo machtlos ift, dad Scidfal
Kinder zu beftimmen!” Und wieder entftand
Baufe, bis er fich ermannte und den Doctor
„Berlieren Sie Cornelie nicht aus dem
ya
Sie ift mir zu werth, als daß ich es koͤnnte!“
biefer, und fo natuͤrlich auch die Antwort »
fiel fie dem Baron auf, ohne daß er ſich er⸗
konnte, was ihn an berfelben überrafchte,
Verhaͤltniß zum Doctor war jedoch von
ı Tage an ein engered geworden, und uns
ſich ganz abzufchließen gegen die neue Zeit,
er ihre Anfichten am leichteften im Doctor
Ipectiren, und feinen Widerſpruch am gebuls
n zu tragen.
50 kam ed, daß der Doctor und mit ihm
rich, wieder häufiger dad Heidenbruck'ſche
befuchten, und da Gornelie, Pleſſen und
rich eben fo befchäftigt und eingenommen
ihre religiöfen Anfichten, ald der Baron
der Doctor beftrebt waren, dieſe Anfichten
refämpfen, mußte dad Beifammenfein ber
ıde meift Gefpräche zu Wege bringen, welche
192
%
mehr ober weniger das religiöfe Gebiet berühtten.
Dabei ftellte fih deutlicher al8 in den Erbau
ungöftunden, die Meinungsverfchiebenheit zwilchen
Gornelie, Pleffen und Friedrich heraus, weil dort
alle fich durch Gebete in ertatifche Zuftände zu
verfegen ftrebten, welche abfichtlich das Irdiſche
a yon fi) wiefen, . während der Baron und
der Doctor fie bier immer in dem Hinblid
auf die Wirklichkeit zu erhalten wußten, und
Friedrich's Studien ihn von felbft im dieſe zus
rückführten.
Je weiter er naͤmlich in der Kenntniß der
Werke Fourrier's und St. Simon's vordrang,
um ſo mehr leuchtete es ihm ein, daß Beide nicht
von dem Beſtreben ausgegangen waren, neue reli⸗
giöſe Secten zu begründen. In der Abſicht, die
materielle und damit auch die geiſtige Lage der
Menſchen zu verbeſſern, waren fie dahin gefom-
men, die bisherigen religiöfen Anſchauungen als
ein Hinderniß für ihre Zwede zu erfennen, und
fie deshalb verlaffend, hatten fie verfucht, fie durch
andere, ihren Zweden entiprechendere religiöfe
Borftellungen zu erfegen. — St. Simon's Aus⸗
N
193
„Die Religionen find eine Umwandlung
Venfchaftlichen Anfchauungen der Menfchheit
pfindung, und fomit eine angewandte Wifs
't, die zum Verbindungsmittel zwifchen dem
ten und dem Volke, zur Grundlage ber fittli-
elehrung dient, * hatte einen großen Eindrud
edrich gemacht. Er war feiner Idee von der
widlung ber religiöfen Begriffe entgegenges
ı, während diefe Anftcht ſich doch in ſchrof⸗
:genfage zu der Unumftößlichfeit und Allein:
sit der chriftlichen Offenbarung befand, gegen
edrich fich eigentlich nicht aufzulehnen wagte.
188 Abende, ald er fich darüber gegen bie
nden ausgeſprochen hatte, fagte der Docs
Wenn Sie Sich nur von dem Gedanken
Offenbarung losmachen wollten! Das
nthum ift eben fo wenig eine Offenbarung,
e Dampfmafchine. Sie find beide lang
itete Refultate vielgeftalteter Erfahrungen,
hriftentbum im Felde der Religion, die
mafchine im Felde der Mechanik; und weil
find, haben fie eine organische Bedeutung,
f eingreifende Wirkſamkeit, und ve Faͤhig⸗
idlungen. II.
194
feit, durd) neue Erfahrungen weiter ausgebildet zu
werden. Eine Offenbarung muß uns etwas voll
fommen Neued geben. Was aber ift denn neu
geweien an dem Chriftenthum, als die eben fo
eigenthümliche ald kluge Vermiſchung des vorhan⸗
denen Willens, Glaubens und Aberglaubens?“
„Neu,“ fagte Pleffen, „waren die Lehren ber
Entjagung und ber Selbftentäußerung, in eine
Welt, welche die Selbſtſucht und den Einnenge
nuß bis auf dad Aeußerfte getrieben hatte. Neu
und einzig war bie Idee der Liebe in einer Welt
— —
von Tyrannei, bie Idee der Brüberlichfeit, der |
allgemeinen Gleichheit in einer Zeit der furchtbar
ften Sclaverei und Unterbrüdung; und göttliche
Offenbarung muß man bie Berfündigung einer
Wahrheit nennen, die nicht nur in jenem Augen
blicke dem fchmerzlich gefühlten Mangel der Menſch⸗
heit begegnete, fondern für alle Ewigfeit die gleis
che Kraft beſitzt.“
„Diefer ewig gleichen Kraft des Chriſtenthums
fcheint da8 Suchen ber St. Simoniften und
Fourieriſten nad) einer neuen religiöfen Befriedi⸗
gung zu wibderfprechen!‘ meinte der Baron,
195
‚eu,‘ fagte Eornelie, ‚war vor Allem die
er Kindfchaft, welche und Gott verbindet,
e8 und möglich macht, und ald Kinder in Ges
und in Ölauben unferm Vater hinzugeben.”
3 fie aber die Worte vom Eindlichen Gehors
isgeſprochen hatte, färbte eine glühende Rös
? Wangen. Sie feheute e8 dem Auge ihres
zu begegnen, fo daß ihre Blicke fih auf den
richteten, Er fühlte Mitleid mit ihrer Faſ⸗
figfeit, und um die Aufmerkfamfeit fo fchnell
glidy von ihr abzulenken, rief er: „Wenn ich
chts vom Glauben hören müßte! — Descars
t einmal gefagt: „Der Menſch muß Nichts
ı, was die Vernunft nicht für wahr erfennt,
18 nicht von der Erfahrung beftätigt wird. *
Jedcarted Hat Recht. Kein vernünftiger
ſchließt einen Contract ab, oder geht
Bact ein, ohne ſich die pofitivften Beweife
jeben zu laſſen, daß er nicht dabei zu kurz
Niemand läßt ſich fobald aufs Glauben
nn es dad Mein und Dein von Hundert
ı gilt, Da aber, wo es ſich um dad ganze
und Sein de8 Menfchen handelt, da bes
13*
1%
gnügt man fih ohne Prüfung mit einem Glau⸗
ben, für deſſen Wahrheit es unmoͤglich ift, fh
jemals einen thatfächlichen Beweis zu fchaffen. *
„Die Fähigkeit des Glaubens ift eine Gnade!“
bebeutete Pleſſen.
„Rennen Sie es eine organifche Eigenfchaft,“
fagte der Doctor, „und ich werde Ihnen einräumen,
daß fie mir fehlt, ohne mich darüber zu beklagen.“
Sriedrich hatte nachdenfend ber Unterhaltung
zugehört. Seht, da Pleſſen dem Doctor aus relis
giöfer Nichtachtung nur mit einem Schweigen
antwortete, bemerkte er: „Es ift allerdings ein
nicht fortzuleugnendesd Factum, daß das Ehriften-
thum auf mannigfache Weife vorbereitet war, baß
fowohl im Platon, wie in den Lehren der Eſſaͤer,
zu denen Jeſus gehörte, ein Theil feiner Elemente
fih in mehr oder weniger vollendeter Form aus
gefprochen finde. Aber wad nimmt das bem
Chriſtenthume von feiner eigentlichen Bedeutung?“
„Bon feiner eigentlichen Bedeutung Nichts!“
tief der Doctor. „ES nimmt ihm nur den goldenen
Heiligenfchein der Offenbarung und ber ihm eigens
thümlichen Transcendenz, ohne den St. Sofeph
197
idifcher Zimmermann, fein Eohn, der Hei-
ein verftändiger Empörer gegen Kirche und
t, und das Chriſtenthum Nichts weiter ift,
ver Ausdruck einer beftimmten menfchlichen
icklungsſtufe, ald welchen ich es auch in ges
ndem Grade anerfenne.”
Zerlegen Sie den menfchlichen Organismus,
Sie ja gern ald Bild gebrauchen, in feine
ihen Beftandtheile,”’ wendete Pleſſen ein, „fo
n Ihnen jene Stoffe zurüd, die fich in ben
iedenften Zufammenftellungen durch die ganze
verbreitet finden; und doch fol es hs
ihwer werden mit allem Wiflen und Erfen-
den Menfchen wieder zufammenzufügen, defs
Irgane zu zeriegen Ihnen leicht war, Es
ein letztes Wunderbares übrig, eine Kraft,
ie nicht wägen und nicht meflen können, bie
ıber zugeben müffen, weil Sie fie thätig fe
Diefe Kraft ift nicht mit dem Gedanken zu
n, fie will empfunden fein; und weil man
pfindet, muß man an diefelbe glauben!”
Diefe Vorausſetzung, welche noch deiftifch ge-
ft, zugegeben,” meinte der Doctor, „fo folgt
*
198
daraus noch nicht, daß man, um biefe übermenfd-
liche Kraft zu empfinden oder zu denken, fie in
menfchlicher Geftalt darftellen und fie mit menfd-
lichen Cigenfchaften und Fehlern ausftatten müfle,
wie ed das Chriſtenthum nad) dem Beifpiel feis
ner heidnifchen und jüdiſchen Vorläufer gethan
hat. Es iſt befchränft und doch natürlich, weil
der Menſch in feinem Wefen eben befchränft ift,
daß er fih nicht wohl etwas Höheres als fid
felbft zu denfen vermag; aber die Alten, nament-
ih Platon, hatten einen viel reinern, unperfönli-
chern Gottbegriff, ald ven des chriftlichen Gott⸗
vaters!“
„Ich möchte wohl die Alten leſen,“ ſagte Cor:
nelie, „um mir eine Einficht in ihre religiöfen Vor⸗
ftellungen zu verjchaffen.“
„Thun Sie dad,” meinte Herr von Pleſſen,
„und die Erfcheinung des Chriſtenthums wird Ih—⸗
nen um fo glorreicher daraus entgegentreten. Wir
fonnen gleich morgen mit dem Platon den Ans
fang madyen, ich bin zu jeder Zeit zu Shren
Dienften!“
„Es wird Dich überrafchen, * äußerte ber Ba-
199
„wenn Du Did überhaupt der voschriftlichen
he zumendeft, wie volftändig in den griechi⸗
und römifchen Denfern der Gottbegriff als
höchftes Wefen ausgebildet war. Auch die
n von einer allwaltenden Vorſehung, von
und Strafe nad) dem Tode, find vollkom⸗
unter ihnen entwidelt. Selbft die Neigung
men Spipfindigfeiten und rübeleien über
ogiſche Gegenftände, die ihren Höhenpunft
Auftauchen der antifatholifchen Reforinationen
hten, trifft man in gleicher Stärfe fowohl bei
Juden, ald bei den Römern und Griechen
r.“
Am Auffallendſten werden Sie es finden,“
der Doctor hinzu, „daß nicht einmal die
ſologie des Chriſtenthums eine neue iſt.“
Die Mythologie des Chriftentbumd?* wies
Ite Herr von Pleſſen, „was wollen Sie das
agen?“
Wie wollen Sie die Geſchichte des Heilan-
der Madonna und ihres beiderfeitigen Zu-
enhanged mit St. Joſeph und Gottvater,
jefhichte von der Auferftehung und zweiten
200
Erdenwandlung Jeſu, und von feiner Himmels
fahrt anders bezeichnen, ald mit dem Ramen der
hriftlihen Mythologie?”
„Ich bebachte freilich nicht,“ meinte Pleſſen,
„daß man — — "
„Als Jude geboren,“ fiel ihm der Doctor in’
Wort, der richtig die Einwendung feines Gegners
berechnet hatte, ‚daß man, ald Jude geboren,
mit ungeblendeteın Auge jenen unerflärlichen Wun⸗
bern gegenüber fteht, und nicht begreifen Tann,
wie ed möglich ift, Dinge, die fi) im unaufloͤs⸗
lichten Widerfpruche mit der fechdtaufendjährigen
Erfahrung der Menfchheit befinden, für etwas
Andered als für mythologifche Allegorien zu
halten, die fie bei den Egyptern auch gewefen
find!’
„Bei den Egyptern?” fragte Cornelie,
„Sa, liebes Fräulein! Die Mythologie des
Chriſtenthums ftammt aus dem Jfisdienfte. Rhea
gebar nad) demfelben: ven Oſiris, den allwalten-
den guten Geift, der ſogar aud) unter dem Zei⸗
chen des Auges dargeftellt und verehrt wird, und
bei deſſen Geburt eine Stimme ertönte, welche
u
201
Welt rief: Der Herr des AUS tritt
's Licht! Nah Dfiris brachte Rhea
on zur Welt, der unzeitig aus ihrer
prang, und endlich die Iſis. Typhon
je, von Unwiffenheit und Falſchheit aufs
Princip, das die heilige Lehre zerftört,
a entgegentritt und es vernichtet. Iſts
Alliebende, dad Ewigweibliche, der Urs
Gnade, fammelt und erhält durch dieſe
e die vernichtete Lehre immer wieder,
dad Gute ftetd aufs Neue auf. Da
e ten Gottvater, den Teufel und bie
Selbft.der Menſch gewordene Got⸗
: in dem Horus, dem Baftardfohn der
orgebildet, während die Lehre von ber
dung und dem Erdenwallen der Gott⸗
erziehung der Menfchheit, den allerältes
fen Borftelungen angehört,‘
igen Naturen kann nichtd Schlimmeres
ald wenn man Thatfachen wider fie in's
Gegen Gründe der Vernunft kann
e fein Recht behaupten, fie nicht einzus
t anzuerkennen. Gegen hiſtoriſche That⸗
202
ſachen aber läßt fich nicht ftreiten, und bei aller
Meberfpannung Eorneliend war ‚ein Wahrheitöge
fühl in ihr rege geblieben, das fich nicht unter
brüden ließ, fo oft fie es auch, auf Pleſſen's Ans
rath, ald gefährliche Zweifelfucht in ſich zu unter
brüden geftrebt hatte. Von Jugend auf gewöhnt,
wen Doctor und feine Duldfamfeit zu verehrten, fiel
ihr eine ihm fonft fremde Härte auf, fobald
feine Behauptungen ſich gegen ‘Bleffen richteten.
Sie zürnte ihm deshalb und war doch unfähig,
wie ihr geiftlicher Breund es that, feine Einwen—
dungen mit dem nichtachtenden Hochmuth des
Glaubens von fi) abzumeifen.
Der feinen Beobachtung Pleffen’d entgingen
weder der Eindrud quälenden Erftaunens, welchen
diefe Unterredung in Gornelie hervorgerufen hatte,
noch die veränderte Stimmung ded Baron gegen
ihn felbft; und feine nerwöje Neizbarfeit bewäls
tigte ihn dergeftalt, daß er, unfähig zu antworten,
in eine fchweigende Niedergeichlagenheit verfunf,
von welcher Cornelie fich eben fo gepeinigt fühlte,
als ihr Freund.
Sie hätte viel darum gegeben, in biefem
203
fe die Geſellſchaft verlaffen und Pleſſen
rechen zu fönnen, aber Niemand dachte
ıfzubrechen. Man war zu dem Ausgangd-
r Unterredung zurüdgefehrt, und Friedrich
Doctor hatten fich in eine Discuſſion über
en Zwecke und die ausführbaren Seiten des
rſonismus und Fourierismus vertieft, als
tenant nach Haufe fam, und fich neben
Näharbeit befchäftigten Coufine nieber-
von fprachen fie?’ fragte er diefelbe leije.
ı allerlei fpeculativen Dingen,” entgegnete
in gleichem Tone, „durch die die Menjchen
ht befier werden. Sch denfe, wenn
ıf der Welt das Seine thäte, und ſich
ı fremde Angelegenheiten mehr befüms
8 um die eigenen, da könnte man ein
l Rachdenfen und Frömmigkeit erfparen |”
: den Ausfall gegen Cornelie zu beachten,
Lieutenant: „Und doch forgft Du Dich
um mich!”
antwortete mit einem liebeſtrahlenden
ıd mit dem unterdrüdten Ausruf: „Das
204
ift ja fo natürlich I" ald grade ein Diener erfchien,
dem Baron bie Briefe zu überbringen, welche mit
der Abendpoft gefommen waren.
Er machte fie auf, ſah fie durch und bemerkte
dann: „Da fendet mir Eridy einen Brief von
Larfien, dem der Ortswechſel doch in jebem Be
trachte vortheilhaft gewefen zu fein feheint. Er
ſpricht mit Ernft von unternommenen philologis
ſchen Forſchungen, von einem Verſuch ſich in ber
Sournaliftif zu bethätigen, und es bewährt fih
wieder einmal, daß jeder Menih im Grunde
leicht zu einem ihm und Anderen förderlichen Da
fein gelangen faun, wenn er nur auf ben ihm
gemäßen Lebensweg gebracht wird.‘
Der Doctor und der Lieutenant fahen fi
init verftändnißvollem Blicke an, und wie vor
hin Cornelie betroffen worden war durch ihren
Ausfpruch Über den kindlichen Gehorfam, fo fühlte
jest der Baron, daß er mit feinem Urtheil grade
jenen Wünfchen Georg's entgegenfam, denen er
fi) immer abgeneigt bewiefen hatte,
„Onkel!“ rief Richard, der fi wie ein Mann
zu fühlen begann, da dad Ende feines achtzehn.
N
205
red und mit ihm bie Zeit feiner Selbft-
it fih nahte — „Onkel! da fommft Du
auf den Grundfag, den Brand und vor
eine Lehre Fourier's gepredigt hat: „Jeder
ver Faͤhigkeit und jede Fähigkeit nach ih»
fen." Hieß es nicht fo? Und das ift im
ganz daſſelbe, was Georg immer behaups
nn er unter die SHinterwäldler gehen
Baron würde eine ſolche Bemerfung zus
ifen verſucht haben, hätte Georg felbft fie
Bon Richard ließ er fie fich gefallen.
te für ihn die Zuneigung, weldye das bes
: Oreifenalter immer mächtiger an bie
feffelt, während doch im Grunde des
98 ganze Entwidlung dem Baron ſchmerz⸗
Mipgriffe darthun mußte, die er in der
ıg feiner eigenen Kinder begangen hatte,
ard war dad Mufter eines geiftig und
gefunden Juͤnglings. Freimüthig bi zur
tölofigfeit, auf ſich felbft geftellt und jelbft-
nd, unabhängig und doch voll Unterord»
vo er Liebe und Wohlwollen für fich vors
206
ausfegen durfte. Daher fam ed, daß der Doctor
fowohl, als Friedrich und Georg ihn höher Hiel
ten, ald es fonft einem fo jungen Menfchen zu
Theil zu werden pflegt, während er felbft eine
faft leidenfchaftliche Hingebung für den Lieutenant
hegte, und nur Plefien und Augufte fich gegen
ihn und mit ihm nicht zu ftellen wußten.
Auch jet, ald Richard der Neigung des Lieus
tenants für Amerifa gedachte, fagte Augufte, fei
es, um dem Onfel zu gefallen, ter Nichts von
folhen Plänen hören wollte, oder aus eigenem
Mißbehagen an denfelben: „Wie herzlos ift das!”
„Was ift herzlos?“ fragte Richard,
„Daß Du nichtd Befferes für Georg vers
langft, als ſolch ein jämmerliched Loos!“
„Jaͤmmerlich?“ entgegnete der Jüngling, ‚Du
grade mußt ed ja ganz prächtig finden! Da if
von fpeeulativen Dingen nie die Rede, da braudft
Tu Did nur um Deine eignen Angelegenheiten
zu fümmern, und kannſt fochen, nähen und com-
mandiren den ganzen langen Tag!’
Augufte ward bleicy vor Aerger, fie nannte
ihn unerträglich, auch ber Onfel fchüttelte miß-
207
end den Kopf, und der Lieutenant fagte, ba
ſich grade erhob, leife zu ihm: „Du haft
ccht!“
‚Nein! ich Höre nur ſcharf!“ entgegnete Ri⸗
, „und Du weißt ed nicht, wie ich biefe
iſte haſſe!“
„Das iſt ungerecht! Auguſte iſt die Güte
103
Ja! für Did — — grade darum aber hafle
e!“ ftieß der Süngling heraus, und hing
m des Lieutenantd Schulter, der fich um dieſe
e, ald um einen. Ausprud jugendlicher Eifer-
nicht weiter fümmerte,
Neuntes Kapitel,
Plefien kehrte fchwermüthig in feine Wohr
nung heim, Er öffnete das Benfter und fchaute
lange in die Nacht hinaus.
Der Winter war wieder vorüber, die fcharfen
Dftwinde, welche den Nerven des Sränfelnden
ftet8 eine gewiffe Spannfraft gaben, hatten einem
feuchten Weftwinde Pla gemacht, der nach ben
falten Tagen verhältnigmäßig warm erfchien, und
das Aufthauen des Eifes befördert. Die Wol-
fen hingen fchwer in der Luft, nur bie und ba
flimmerte ein Stern mit mattem Strahl hervor.
Leife und gleichmäßig tropfend fiel das MWafler
bes fchmelzenden Schneed von den Dächern nie
209
bis fih dann und wann größere Schnee
ı loslöften und mit dumpfem Schlage auf
Straßen und Gehöfte herunter fielen. Die
ven, vom Winde bewegt, fchaufelten ſich
nd an ihren Ketten und glängten trüb aus
tachen wieber, die fich zwifchen dem Eife zu
t anfingen, die Straßen waren öde und
die einzelnen MWindftöße zogen leiſe pfeifend
die Stille,
zleſſen Hatte fich fchon den ganzen Tag unter
üblen Einfluß diefer Witterung befunden,
ühlte auch jest ihre nachtheilige Wirkung
ich, und blieb doch, eben weil er fo ermats
‘ar, mit fchlaffer Oleichgültigfeit im %enfter
I. Aber es war nicht die äußere Atmo⸗
e allein, die ihn bebrüdte, Seine eigene Tage
die Berhältniffe feiner Umgebung fingen an
u beunruhigen.
ir konnte e8 ſich nicht mehr verbergen, daß
h in Zuftänden bewegte, welche feinen Ans
n entgegen waren, daß er auf einen Weg
et worden war, den er nicht felbft beftimmt hatte.
e Natur war in ihrer feeliichen Anlage eine
Bandlungen. II. 14
210
durchaus weibliche. Gefühlvol, ſchwaͤrmeriſch,
weichherzig und doch begierig zu herrfchen, ra
(08 thätig im Kleinen und vol Scheu vor gro
en Unternehmungen, die eine lange Ausdauer
und eine ftarfe Energie verlangen, hatte er in ber
glaubensfeligen Srömmigfeit und in ber Armen
pflege, wie er fie in früherer Zeit geübt, ein vols
les Genügen gefunden. Dieſe Zufriedenheit war
noch erhöht worden, feit er die Baronin umb
Eornelie fennen gelernt, und, wie es ſolchen Män-
nernaturen meift zu gefchehen pflegt, grade durch
feine Hülfsbebürftigfeit und Schwäche eine große.
Herrfchaft über die Eräftige Gornelie gewonnen
hatte,
Aber es war ihm gegangen wie dem Zaubers
Iehrling, welcher die heraufbefchworenen Kräfte nicht
zu bannen weiß und darum endlidy ihrer Ueber:
macht erliegen muß, Er hatte Cornelien in
feine Richtung Hineinverlodt, an feiner Hand
war fie bie erften Schritte auf dem neuen Wege
gegangen, jest hielt fie diefe Hand feſt in ber
ihren, und riß ihn mit fich fort auf Pfade, bie
er niemald zu betreten gedacht Hatte. Die Hoff
N
211
, welche er als fromme Wünfche audges
n, die Gedanken, die er über eine Wieder⸗
der urfprünglichen chriftlichen Kirche gehegt,
ihm zu einer inneren Erhebung gedient,
yaß er ſich felbft die Fähigkeit zutraute, fie
wirklichen. Gornelie aber vermochte es bei
Anlagen nicht zu begreifen, wie man
wünfchen oder als Recht erfennen, unb
mit aller Kraft nach der Ausführung feiner
nfche und Veberzeugungen freben koͤnne. Eie
: die That von feinen Gedanfen, und mit
m unheimlihen Gefühle empfand er, daß er
je aufgehört habe, Herr feined eigenen, ger
zeige denn Herr über Corneliens Willen zu
Es hatte ihm Nichts geholfen, daß er beforgt
das Treiben des Predigers und der Gräfin
zewieſen, daß er Eornelie befchworen, nicht
er zu gehen und bie neue Gemeinde nicht
: Begenftande einer Aufmerkfamfeit zu machen,
he ihre Anhänger in Zwielpalt mit der öffents
n Meinung bringen und die Erbauung eins
er Freunde zu einem ©egenfahe gegen die
4A*
212
herrfchende Kirche erheben konnte. Cornelie hatte
in diefem Zaubern und Wamen nur eine Folge
feiner Kränflichfeit gefehen, bie ihn vor gemalt
famen Anftrengungen zurüdfchreden ließ, und mit
der Liebe, die fie für ihn fühlte, Hatte fie, ihn
fortzutragen über jeden Zweifel, faft immer bie
Thaten ausgeführt, die er ihr als bedenklich vor
geſtellt. So Hatten feine Schwäche und ihre
Energie ſich gegenfeitig fortgerifien, und Pleſſen
war feit lange dahin gefommen, die überreizte
Inbrunſt der Andachtsübungen zu tadeln, benen
er fich nicht zu entziehen vermochte und die ihn
durch die Eraltation der Freunde immer wieber
fanatifirten, wenn er fich ihnen überließ,
So war ed ihm in gewiffem Sinne willfom-
men geweſen, ald der Baron ſich gegen Come
liend Zufammenhang mit der neuen Gemeinde er»
Härte. Cr hatte fogar verfucht, die Freundin zur
Fügſamkeit in den Willen des Vaters zu überres
ben, und fich und fie auf dieſe Weife von dem
Prediger und der Gräfin allmählich zu entfernen
gehofft, aber feine Vermittlung, feine Verföhnlich.
feit waren mit Entrüftung zurüdgewiefen worden.
213
Dlefien ihr gegenüber nicht den Muth bes
ch offen gegen das Treiben bed Predigers
flären, hatte Comelie in feinen Ermahnun-
zum Gehorfam nur eine Beforgniß für ihr
liches Verhältnig gefehen, und zum Beweiſe,
ꝛs ihr nicht an der nöthigen Kraft gebreche,
väterlihen Willen Widerftand zu leiſten,
iur noch fefter mit den Freunden verbunden,
denen Pleſſen fie zu trennen wünfchte.
Yft Schon hatte er daran gedacht, fich durch
raſchen Entfchluß zu befreien, den Ort zu
fen, und ſich ohne weitere Erklärung, von
Semeinde durch diefe Thatſache loszuſagen.
er wollte ſich nicht von Cornelie trennen,
ht ganz den Einflüffen Preis geben, bie er
erderblich hielt,
Ye ganze Reihenfolge biefer Erfahrungen
Gedanken fam ihm heute mehr als jemals
ig vor, und doc) gab es nur einen Ausweg,
iefem Labyrinthe zu entziehen, eine Ehe mit
elie, auf die zu bringen ihm biöher ber
) gefehlt. Er hatte Scheu getragen vor
Sewalt, welche fie über ihn ausübte, und
214
vor dem Widerftande des Vaters, auf den er
rechnen mußte.
Er wußte ſich feinen Rath) und war fo mühe
vom Denken, fo aufgeregt von ben fidy raftlos
freuzenden Borftellungen, daß fein Kopf ihm
brannte, die Adern in feinen Schläfen fieberhaft
flopften, und er fich endlich, zufammenjchauernd
unter der feuchtfalten Nachtluft, vom Fenſter ent
fernte, Er fchloß die Vorhänge, legte fich nieder,
fonnte jedoch nicht fchlafen.
Es giebt Feine tiefere Abfpannung als bie,
welche wir nad) einer in unentichloffenem Brüten
durchwachten Nacht empfinden, Pleſſen kam
ſich am Morgen wie zerbrochen vor, und doch
wußte er, daß dieſe inneren Kämpfe damit ihr
Ende nicht erreicht hatten. Er wollte fein ges
wohntes Morgengebet verrichten, und auch bazu
fehlten ihm Schwung und Kraft.
„Einen Entfchluß!” rief er, die Hände fal-
tend, „nur einen Entſchluß!“ und fo inbrünftig
war diefer Ruf, daß fih an ihm die Möglichkeit
des Betens entzündete. Das machte ihn ruhiger.
Er fchüttete fein Herz aus vor dem Gotte, auf
215
Beiftand er vertraute. Er flehte ihn an,
ı Zeichen zu fenden.
ı Hopfte ed an feine Thüre, er rief herein
ornelie ftand vor ihm.
a8 alfo ift Dein Wille!” rief er feierlich,
n er einen Augenblid fchweigend und bes
vor ihr ftehen geblieben war. Dann trat
entgegen und bot ihr die Hand, ohne weis
oas zu fagen.
nelie Eonnte fich fein Betragen nicht ers
Sie glaubte ihn dur ihr Erfcheinen
n, denn fie war nie zuvor in feiner Woh⸗
jeweien,
darum find Sie fo beftürzt?” fragte ſie ihn.
machen ed wie die MWeltmenjchen, vie fich
ad Natürlichfte immer am Meiften verwuns
Ich babe fchon zwei Beſuche bei unferen
n gemadjt, und da ich bei Ihnen vorübers
‘am ich herauf, denn ich muß Sie fprechen!”
ährend dieſer Worte hatte ſich Pleſſen von
findrude erholt, den eine nad) feiner Meis
fo fichtbare Einwirfung Gotted auf ihn
ſt hatte, und nachtem er die Freundin zum
Del
7
216
Sitzen genöthigt, ſagte er: „Ich habe in dieſer
Nacht mich viel mit Ihnen beſchaͤftigt, theure
Cornelie!“
„Auch ich habe Ihrer gedacht!“ fiel ſie ihm
in's Wort, „und deshalb komme ich zu Ihnen.“
Sie hielt einen Augenblick inne, als über
lege fie noch Etwas, dann fuhr fie fort: „Der
geftrige Abend hat einen Entſchluß in mir zur
Reife gebracht, mit dem ich mich fehon lange
herum getragen habe. Es kann Ihnen nit un
bemerft geblieben fein, daß mein Water mit dem
Doctor ein förmliches Buͤndniß geſchloſſen bat,
mich von der Unmwahrheit des Heiligften zu über
zeugen. Wie unwirkſam diefe Unternehmung auf
mich ift, brauche ich Ihnen nicht zu fagen. —
Aber fie peinigen mich mit ihren Erklärungen,
idy bleibe in einem beftändig gereizten Zuftande
und habe Stunden, in denen ich mid) förmlid)
erbittert gegen meinen Vater fühle. Das barf
nicht in mir auffommen. Diefe Nacht Habe ich
mich feſt entfchloffen, dad Vaterhaus zu verlaf-
fen!“
„Und das fagen Sie mir, Geliebtefte!” rief
217
— — —
en ſehr bewegt, „mir, und grade in dieſem
ublick?“
Wem ſollte ich mich ſonſt vertrauen?“ ent⸗
ete ſie mit ruhiger Sicherheit. „Sie ſtehen
am Naͤchſten und haben eine ausgebreitete
nntfchaft. Schaffen Sie mir in einer Familie
unferer Oefinnung außerhalb der Vaterſtadt
Röglichkeit, ungeftört mir felbft zu leben!“
zleſſen traute ſich felber nicht, fo wunderbar
n die Worte feiner Freundin feinen Abſtchten
gen. Er glaubte die höhere Bügung nie in
rt Deutlichfeit erlebt zu haben, und näher
Sornelie heranrüdend, fagte er: „Auch ich
grade geftern Abend und heute früh daran
ht, mic) von hier zu entfernen — aber nicht
ı! Gehen Sie mit mir, Cornelie!“
Sie ſah ihn nachdenklich an und fragte dann
mildem Tone, in dem die Bangigfeit vor
Trennung hörbar durchklang: „Wohin wol-
Sie gehen?”
Sch habe feit langer Zeit die Neigung ges
‚ mich nad) Gnadenfrei zu wenden und dort
hlichteren Verhältniffen, ald die Geſellſchaft
218
fie bietet, in der wir und bewegen, Ruhe bei ein
facher Thätigfeit, und in der Ruhe Freiheit des Geis
ſtes zu fuchen. Ich fühle mich fehr müde, es ift mir
als würbe ich nicht mehr lange leben — und am
Abend fehnt man fih nah Etille, um friebend
voll fich vorzubereiten für den fanften, erlöfenden
Schlaf der Nacht!“ |
Eorneliend Faffung fehmolz dahin vor dem
Gedanken, den Freund zu verlieren. Sie reichte
ihm’ die Hand und bat: „Spredden Sie nicht fo!
ih kann's nicht hören.”
Er fah ihr in’d Auge, fie weinte Da flog
eine leichte Roͤthe über fein bleiches Geſicht und
mit allem Zauber feiner weichen Stimme fagte
er: „Ich Habe lange in mir nad) einem Entſchluß
gerungen und konnte ihn nicht finden, bis id)
mich im Gebet zu ihm gewendet habe, von bem
allein die Wahrheit kommt. Und ale ich ihn
heute früh anflehte, mir den Weg meiner Zukunft
vorzuzeichnen — da find Sie eingetreten, bie
meine Gedanken fuchten und mieden, und bie ber.
Herr mir fo fichtbar zugeführt hat.“
Er hielt inne. orneliend Hände ruhten in
219
r feinen, ihre Augen hingen an ihm. Er war
: fo nahe, daß fie den warmen Haud feiner
ppen empfand, und leife flüfternd fagte er: „ein
08, wie die Weltfinder es nennen, habe ich
nen nicht zu bieten. Ich bin einfam und krank
db der Weg vor mir wird nicht lange fein.
er Sie find mir das Licht der Tage und ber
ern der Nacht! Sch bedarf Ihrer, Cornelie!
tt felbft hat Eie mir in meinen Pfad geführt.
erden Sie mein Weib!”
Sie war nicht betroffen durch feinen Antrag,
bedurfte auch Feiner Meberlegung. „Sa! das
Mich!” fagte fie. „Ich will Shr Weib werden!”
ver diefe Antwort war fo ruhig und beftimmt,
B fie ihn anfröftelte, daß er es nicht wagte,
‚rnelie an feine Bruft zu fchließen, wozu e8 ihn
ch drängte.
Sie faßen einander ſchweigend gegenüber.
melie, wie Jemand, der reiflich die Ausbeh-
ng der Verpflichtungen erwägt, welche er über-
mmen bat, Pleſſen unter dem Mißempfinden
täufchter Erwartung. Endlich wendete fie fich
ihm, legte ihren Arm um feinen Hals, 308
220
ihn an fi, wie man ein Kind an feinen Bufen
brüdt und ſprach: „Hier follen Sie ruhen! hier
Frieden finden. Und wenn der Kampf bes Lebens
naht, jo will ich mich mit Gottes Hülfe zwiſchen
den Kampf und Dich fielen — und Deine Tage
folen Ruhe fein und Frieden, damit fie mir er
halten bleiben lange Zeit!"
Sie füßte ihn auf Stine und Mund, indeß
felbft ihre Zärtlichkeit hatte etwas Meütterliches,
das ihm eben fo peinlich war, als Die befchügende
Verficherung ihrer Liebe, die fie ihm gegeben
hatte, Die gottgefandte, gottergebene Braut ver:
legte fein Selbftgefühl, beleidigte ihn ald8 Dann.
Sie war ihm, nicht Weib genug in biefem Au:
genblid. Seine Scheu vor einem dauernden Beis
fammenfein, vor einer Ehe mit ihr wurde in
ber Stunde der Verlobung mächtiger als je zu
vor, und erft als fie gemeinfam das Haus verlies
Ben und auf der Straße ſich im Freien neben
einander bewegten, fühlte er ſich weniger beängs
ftigt und mehr fidy ſelbſt zurüdigegeben.
| Dicht vor ihrer Thüre Tamen ihnen der Docs
tor und Friedrich entgegen, aber die Verlobten
221
fhnell in eine Seitengaffe ein, weil fie
aufgelegt waren, mit Jenen zufammen zu
. Der Doctor bemerkte ed, und mit einer
anz fremden Heftigkeit rief er: „ES ift ein
8 Unglüd, daß ber Menſch das Mädchen
den Händen hat!“
ann, nachdem fie ein Ende weiter gegangen
, trennte er ſich plöglicdy unter einem Vor⸗
von feinem Begleiter, wendete um und bes
cch in dad Haus, welches Pleſſen bewohnte,
olite wiffen, ob nody andere Mitglieder jes
jecte in demfelben lebten, ob Gornelie dieſen
Beſuch gemacht haben Fönne, oder ob fie
leſſen geweſen ſei. Das Nachforfchen warb
yurch eine Familie erleichtert, deren Arzt er
geweſen war. Es konnte ihm Fein Zweifel
n, daß Eornelie fich über die Anftchten ihres
3, über die allgemeine Sitte fortgefegt, daß
Jefuh Herrn von Pleffen gegolten. Das
ß und freute ihn zugleih. Er hatte von
Kindheit an den felbftftändigen Charafter
geliebt, und oft daran gedacht, was aus
jolchen Srauennatur bei vernünftiger Leitung
220
ihn an fi), wie man ein Kind an feinen Bufen
brüdt und fprah: „Hier follen Sie ruhen! hier
Frieden finden. Und wenn der Kampf des Lebens
naht, fo will id) mich mit Gottes Hülfe zwifchen
den Kampf und Dich fielen — und Deine Tage
follen Ruhe fein und Frieden, damit fie mir er⸗
halten bleiben lange Zeit!“
Eie fügte ihn auf Stirne und Mund, indeß
felbft ihre Zärtlichkeit Hatte etwas Mütterliches,
das ihm eben fo peinlich war, als die befchütende
Verfiherung ihrer Liebe, die fie ihm gegeben
hatte. Die gottgefandte, gottergebene Braut ver:
legte fein Selbftgefühl, beleidigte ihn al8 Mann.
Sie war ihm. nicht Weib genug in dieſem Au:
genhlid, Seine Scheu vor einem dauernden Bei:
fammenfein, vor einer Ehe mit ihr wurde in
der Stunde der Verlobung mächtiger als je zus
vor, und erft ald fie gemeinfam das Haus verlies
fen und auf der Straße ſich im Freien neben
einander bewegten, fühlte er ſich weniger beäng-
ſtigt und mehr fich ſelbſt zurüdgegeben.
Dicht vor ihrer Thüre famen ihnen der Doc
tor und Friedrich entgegen, aber bie Verlobten
221
en schnell in eine Seitengaffe ein, weil fie
t aufgelegt waren, mit Jenen zufammen zu
en. Der Doctor bemerkte e8, und mit einer
ganz fremden Heftigfeit rief er: „Es ift ein
red Unglüf, daß ber Menſch dad Mädchen
in den Händen hat!“
Dann, nachdem fie ein Ende weiter gegangen
en, trennte er fi) plöglidy unter einem Vor⸗
n von feinem Begleiter, wendete um und bes
fih in dad Haus, welches Pleſſen bewohnte,
wollte wiflen, ob noch andere Mitglieder je
Secte in demfelben lebten, ob Eornelie diefen
n Beſuch gemadyt haben Fönne, oder ob fie
Pleffen gewefen fei. Dad Nachforſchen ward
durch eine Familie erleichtert, deren Arzt er
t gemwefen war. Es fonnte ihm fein Zweifel
ben, daß Eornelie ſich über die Anftchten ihres
ers, über die allgemeine Sitte fortgeſetzt, daß
Beſuch Heren von Pleſſen gegolten. Das
Foß und freute ihn zugleih. Er Hatte von
r Kindheit an den felbftftändigen Charakter
ihr geliebt, und oft daran gedacht, was aus
t ſolchen Srauennatur bei vernünftiger Leitung
222
werden koͤnne. Indeß feine Scheu, in ben Ent
widlungsgang eined Menjchen einzugreifen, hatte
ihn gehindert, fid) mehr und angelegentlicher mit
ihr zu befchäftigen. Jetzt warf er fich dieſe
Scheu ald ein großed Unrecht vor Er hatie
Gründe, ber religiöfen Richtung des Kreiſes zu
mißtrauen, in dem Cornelie fi) bewegte. Er
wußte, daß mit einer Warnung in dieſem Yalle
jet nicht® mehr ausgerichtet werben konnte. Er
fagte fi, daß allein fein Schweigen und Zögern
ihn der Mittel zur Wirkfamfeit beraubt habe,
und daß alſo — — Eornelie ihm verloren fei,
Er hielt inme bei diefem Gedanken; benn er
war ihm neu,
„&ornelie mir. verloren!” wiederholte er fi.
„Mir verloren ? Alfo hätte ich nach ihr verlangt ?° —
Er bedurfte für fich Feiner Antwort auf
dieſe Frage, aber er machte die Bemerkung,
dag auch in feinem Geifte, daB auch in dem
Herzen eined fich felbft beobachtenden Mannes,
Geheimnißvolles, Verborgenes wachfen und ge
beihen fönne, ohne daß er's fühle,
Jal er liebte Cornelie, er hatte fie immer ges
Zn
223
bt, aber er geftand ed fich zum erften Male,
ſei das einzige Mädchen geweſen, das er ges
aͤhlt Haben würde, hätte er daran gedacht, fich
. vermählen. Die Entdedung dieſes Gefühls
achte ihn weiter nicht betroffen. Gefaßt wie
ımer nahm er ed als eine Thatfache, ald eine
zahrheit in fein Leben auf, mit ber er auf bie
ne oder die andere Weife fertig werden müfle,
ıd bald nannte er ſich Heinmüthig, daß er einen
ugenblid der Vorftelung Raum gegeben, Eors
fie fei ihm verloren, ehe er noch verfucht habe, fie
; gewinnen.
Seine Gebanfen verweilten mit großer Innig«
it bei ihr. Er Fam fich verantwortlich für fie
yr, und nie, feit den Tagen feiner erften Jugend,
ıtte er fein Herz fo weich und fanft bewegt ge-
hit, als jest, da er die Sorge für ein Weib in
ine Seele aufgenommen hatte, dad er mit ber
nften Liebe des reifen Mannes zu beichüßen
id zu gewinnen- wünfchte.
226
gewefen, hatten feiner gemeflenen Natur wis
derſtanden. Er Eonnte fie bald nicht mehr ale
Wahrheit in ſich erkennen, ſich des Gedankens
nicht erwehren, daß auch die Anderen ſie nur
durch eine Ueberſpannung ihres natürlichen Em-
pfindens in fich erzeugten, bie fie fortdauernd
fteigern mußten, wollten fie fih in der Höhe ver
Begeijterung erhalten, an die fie fich gewöhnt
hatten. Es entging ihm nicht, daß Pleſſen's
Kraft daran erlahmte, daß er matter und abge
fpannter zu werden begann, ald er ihn je zuvor
gekannt hatte, und oft wollte e8 Friedrich bebünfen,
ald ob andere Empfindungen, ald die einer ge-
meinfamen brüberlihen Erhebung zum Gebete,
die Teidenfchaftlihen rtafen des Predigers
und der Gräfin begünftigten. Es kamen fogar
Stunden, in denen Pleffen ähnliche Gedanken zu
hegen und ſich mit fichtlicher Theilnahme Frie-
drich's theologifchen und Hiftorifchen Forſchungen
zuzuwenden fchien, bis die Angft, ſolch Forſchen
fönne ihn im Glauben ftören, ihn wieder freis
willig darauf verzichten machte.
Aber grade diefe Zaghaftigfeit des ftreng gläubi-
x
227
en Edelmanned wirkte ermuthigend auf Friedrich
in. Es vünfte ihn, je männlicher er geworben
yar, um fo unmwürbiger, vor einem gefürchteten
degenftande das Auge zu fihließen und fich blind
ı madyen aus Scheu vor einem grellen Lichte.
Seine Einfiht- hatte begonnen über fein Gefühl
ı berrfchen, er Eonnte feine Befriedigung mehr
nden in einem Glauben, der die Prüfung des
serftandes nicht ertrug, und fein religiöfed Bes
ürfnig zwang ihn zu weiteren Forſchen, durch
as er ſich aber noch immer die Möglichkeit des
laubend zu erhalten hoffte,
Seine Beichäftigung mit den frangöfifchen
socialiften trieb ihn daneben in neue Bereiche
:5 Denfend, und trug allmählicdy dazu bei, ihn
ꝛn Anfichten der Gemeinde noch mehr zu ent-
emden. Denn fannte er einerfeitö bie Bedeus
ıng ber Standesunterfchiede und der Glücks⸗
ıben im wirklichen Leben durch feine Erfahrung
ı genau, um jene Lehren von einer allgemeinen
Heichheit der Stände und von der Verachtung
eltlichen Guts, wie der Prediger und die Grä-
1 fie verfündeten, haltbar zu glauben, fo lehrten ihn
15*
228
anderfeitd feine Studien, daß innerhalb der alten
Berhältnifie der Geſellſchaft und des Befiged eine
befriedigende Ordnung und LXöfung ber Uebelftände
ſchwer zu boffen ſei; und grade in diefer Hinficht
war fein Berhältniß zur Gemeinde ihm förberlid
geworben.
Der weite Blick, welchen die Armenpflege ihm
in die Zuftände und Bebürfniffe der arbeitenden
Klaffen eröffnet, Hatte ihn erft die richtige Bes
nusung feiner eigenen rlebniffe gelehrt. Was
er in feiner Jugend an ſich jelbft von Noth und
Entbehrung erfahren, hatte ihn zu ausſchließlich
hingenommen. Es war burdy manche perfönliche
Einzelheiten. bedingt worden, die, wie der Cha⸗
tafter feined Vaters, eine nicht gewöhnliche Aus-
nahme machten, und ſich deshalb ſchwer als all
gemeiner Maßſtab brauchen ließen. Jetzt erft,
nach mehrjährigem Walten und Lehren in und an
den Armenanftalten, war er zu ber Ueberzeugung
gekommen, daß ed faft immer unmöglich fei, vor⸗
handener Noth zu fteuern, verarmten Yamilien
dauernd emporzuhelfen, und daß ed aljo allein
darauf anfomme, dad Berfinfen in Noth und
——
—
Elend zu verhindern. Ueber die Art, in welcher
a8 durchgehend geſchehen koͤnne, fand er jedoch
irgend einen befriedigenden Aufſchluß.
Der Doctor hatte ihm gerathen, als er bie
Zweifel und Bedenken fennen lernte, in denen
Friedrich fich beivegte, die theologifchen Studien
ur eine Weile ganz aufzugeben, ftaatsöfonomis«
he Werke zu leſen und fich jeht einmal aus
chließlich mit dieſer Wiffenfchaft zu befchäftigen.
Dadurch ward Friedrich auf die englifche Lites
:atur, auf die Erlernung der englifchen Sprache
yingewiefen, und Richard fein und bed Lieute⸗
nants LXehrer, denn auch Georg verfolgte ähnliche
Zwede.
Seit ber Entfernung Larſſen's hatte ſich eine
jroße Beränderung mit dem Lieutenant zugetras
jen. Er hatte fein auffahrendes Weſen unters
rüdt, war befonnener geworden, aus Scheu fd)
n Berlegenheiten zu verwideln, aus denen bie
Machtvollfommenheit feines Waterd ihn wieder
Yhne fein eigened Begehren retten konnte, und
uf diefen, gegen äußere Einwirkungen fo trogigen
Sharakter hatten die Vollendung feined vier und
230
awanzigften Lebensjahres und bie damit erlangte
Grogjährigfeit eine nachhaltige Wirkung aus-
geübt. Die bloße Vorftellung, jett eine größere
Freiheit gewonnen zu haben, hatte ihn mäßiger
und gedultiger gemadt. Er ſchien den Gedan⸗
fen aufgegeben zu haben, durch Hülfe feines Va⸗
ters oder ſeines Bruders eine Aenderung feiner
Lage zu bewirken, und obſchon ſeine Abneigung
gegen den Dienſt nicht verringert, ſondern noch
geſtiegen war, erfuͤllte er ſeine militairiſchen Pflich⸗
ten mit puͤnktlicher Strenge.
Von dem Umgange mit ſeinen Kameraden
hatte er ſich nach jenem Maskenballe faſt gaͤnz⸗
lich losgeſagt. Er war viel zu Hauſe, woran
fein Verhäͤltniß zu Auguſte mehr Antheil hatte,
al8 er ſich felbft geftand. Obgleich er fie eigents
lich nicht liebte, Hatte er fih an ihre Nähe ges
wöhnt, und die Vertraulichkeit naher Berwandten,
durch Auguftend unverhohlene Leidenfchaft für ihn,
eine Zärtlichkeit gewonnen, in ber Georg ſich ges
hen ließ, ohne zu berechnen welche Hoffnungen
das Mädchen darauf bauen könne. Sein Ber:
fchr mit Männern befchräntte ſich fat ausfchließ-
231
auf Friedrich und den Doctor, für deren vers
bene Forſchungen und Beftrebungen er immer
ere Theilnahme gewann. Weil er oft dar⸗
geklagt, daß feine Berufsthätigfeit eine ganz
anifche fei, Hatte der Doctor ihm den Vor⸗
g gemadt, fih in den Militairfchulen als
er der Soldaten und Unteroffiziere verwenden
ıffen, wozu ihm einft auch Erich, wenn ſchon
anderen Gründen ald der Doctor, zugerebet
>
‚s
Diefed Lehramt fagte dem Lieutenant zu, und
» ihm für feine eigene Bildung nüglich, weil
hin daran liegen mußte, feinen Schülern feine
je zu zeigen und ihre Achtung zu gewinnen, .
er ed fuchte, Fam er bei dem Unterrichten beim
daten perfönlid näher. Er lernte durch ihn
Theile ded Volkes kennen, mit denen Frie⸗
bei feiner Thätigfeit für die Gemeinde, der
tor in feinem ärztlichen Berufe vertraut ge-
ven waren, und wie biefen Beiden leuchtete
hm ein, daß eine Umgeftaltung ber focialen
aͤnde nöthig, daß eine folche nur dann zu bewir-
ei, wenn mit der Bildung des Volkes die ftumpf-
232
finnig brütende Unzufriedenheit deſſelben, fich in
ein vernünftiges Streben nad) beſſeren Zuftänden
verrvandelt haben würde.
Darin ftimmten die Freunde uͤberein, nur über
die Art, in welcher eine geiftige Erhebung der
Maſſen zu bewerfftelligen fei, Eonnten fie ſich nicht
verftändigen. Friedrich hielt immer noch ben
Glauben feft, durch die Grundlehren des Chriften-
thums, überhaupt durch religiöfe Erziehung zu
wirken, Georg, ber die Vortheile der Organifas
tion und Disciplin im Dienfte ſchaͤtzen lernen,
erjehnte eine neue organifirende Gefeggebung, und
der Doctor wollte weder von Religion noch von
befohlener allgemeiner Drganifation Etwas wils
fen, fondern wünfchte lediglich die Schranken fort
zuräumen, welche dem Einzelnen bie Erlangung
der nöthigen Bildung und Einficht erfchwerten,
und die Freiheit feines Handelns hinderten. Frie⸗
brich und Georg neigten fich auf ſolche Weife zu
ben theofratifch organifirenden Syftemen der fran-
zöfifhen Socialiften, die der Doctor als neue
Tefleln des freien Willend verwarf, und von bes
ren befchränfenden Geſetzen er fie auf die Kreis
233
1 —
it NRorbamerifad verwies, bie er allein einem
ifen männlichen Geiſte für angemefien erklärte,
Schon feit längerer Zeit waren in Deutfch-
ınd ab und zu einzelne Brofchüren erfchienen, in
nen mit einer bis dahin ungefannten Einfach:
eit und Klarheit über die deutfchen politifchen
uftände und über Staatöverfaffungen gefprochen
mrde. Der Verfaſſer hatte fich nicht genannt,
ber man war bald genug dahin gefommen, ihn
ı ber Perfon des Doctord zu entdeden. Die
Schriften waren fchnell befeitigt, der Doctor zur
Interfuchung gezogen worden, und grabe in bies
m Augenblide ſchwebte eine folche über feinem
yaupte, für deren Ausgang feine Freunde Ber
rgniß hegten. Man nahm in der Stadt für
nd wider ihn Partei, die Beamten, befonders
as Militair, machten eine Ehrenſache daraus,
re Anhänglichfeit an die beftehende Ordnung
urch blindes Verdammen der Schriften zu bethäs
gen, und den Doctor aller Orten zu vermeiden,
ı felbft zu verlegen, feit ber freifinnige Theil der
inwohner ihn auch als Politiker mehr und
ehr zu hochachten begann.
a
Augufte, welche nad) wie vor alle Menfchen
und alle Dinge nur nad) dem Zufammenhange
fchäßte, in bem fie mit dem Geliebten fanden,
war immer eiferfüchtig auf die Freundſchaft ges
wefen, welche diefer für den Doctor fühlte. Sie
hatte obenein die Beſorgniß gehegt, daß biefelbe
ihn in feinen Dienftverhältniffen benachtheiligen
fönne, auf deren günftige Geftaltung fie ihre Zus
funftspläne baute, Aber ihre Warnungen hatten
das Gegentheil von demjenigen beiwirft, was fie
zu erreichen gewünfcht. Se eiftiger fie geweſen
war, dem Lieutenant alle ihr zugetragenen miß-
billigenden Urtheile feiner Cameraden über feinen
Umgang mit dem Doctor zu berichten, um jo
entfchiedener hatte er ihn öffentlich darzuthun ge-
ſtrebt. Selbft ihre Verſuche durch den Baron
auf Georg einzumirfen waren gefcheitert, denn
der Vater fchrieb die vortheilhafte Veränderung
im Weſen feined Sohnes, welche Augufte ald ein
Werk ihrer Liebe betrachtete, dem Doctor zu, def
fen er ſich auch für Corneliens Belehrung noch
benöthigt fühlte,
So mit ihren Wünfchen, Hoffnungen und
235
iechtungen auf ſich felbft gewielen, ftand Aus
: an einem Sonntage auf dem Balcon bed
ſes, die Rüdfehr des Lieutenantd von ber
ıde zu erwarten, als fie ihn früher denn ges
nlid), die Straße herauf fommen fah. Aber
bloßer Anblid machte fie erfchreden.
Ohne die Borübergehenden zu beachten, von
n einige ihn grüßten, ohne aufzufchauen, ging
dtenblaß, die Augen in die Ferne gerichtet,
einer Schnelligfeit vorwärts, die fie auf den
anken brachte, er fei unmohl geworden und
das Vaterhaud zu erreichen. In angftvoller
lief fie die Treppe hinunter und ihm bie
ie Thüre entgegen.
Was ift Dir?” fragte fie den Eilenden,
Fr antwortete ihr nicht, fchien fie faum zu
een, fchritt durdy den Blur und ging die
pe hinauf nad) dem Zimmer feines Vaters.
‚Der Bater ift nicht zu Haufe!” rief fie ihm
Ich werde ihn erwarten!” antwortete Georg
fegte ficy nieder. Auguftens Angft flieg von
ute zu Minute. So hatte fie den Geliebten
5 _
nie gefehben. Es lag etwas Starres, Verſteiner⸗
tes in feinem Wefen, das furchtbarer war, ale
die Ausbrüche der heftigften Leidenſchaft. „Was
ift denn gefchehen?“ wiederholte fie und legte
ihren Arm um den Raden des Sigenden.
„Was gefchehen tft?" ſprach er ihr tonlos
nad, „eine Kleinigkeit! — — Ich bin entehrt.*
Er fprang bei diefen Worten auf, warf den
Degen von fi), ber klirrend zu Boden fiel, riß
die Schärpe ab, und fehleuderte fie hohnlachend
mit einem Fußſtoß in die Ede, während er bü-
fter im Zimmer umberging.
Augufte näherte fih ihm, er beachtete es nicht.
Sie wollte fih an feinen Arm hängen, er ftieß
fie mit Ungeduld zurüd. „Ich bitte Dich, laß
mih! id; habe an mir felbft genug!” rief er
aus,
Sie wußte ſich, fie wußte ihm nicht zu hel⸗
fen. Rathlos hob fie die fortgefchleuderte Schärpe
und den Degen von ber Erde auf, legte fie neben
den Federhut des Lientenants und glättete die zer⸗
brüdten Handſchuhe mit jener mechanifchen Ge;
wohnheit der Ordnung, die dem Menfchen übrig
237
ibt, wenn alle feine Vorftellungen ſich vers
ren.
In diefem Augenblid trat der Baron in’s
mmer, und fogleich wendete der Lieutenant ſich
ihm:
„Haft Du Zeit, mi zu hören, Vater?“
igte er.
„Ja!“ antwortete Jener, und erfchroden, wie
thin Augufte, vor dem Ausdruck feines Soh⸗
8, fügte er hinzu: „Was Haft Du gethan?”
„Nichts!“ entgegnete er. „Aber ſetze Dich,
‚ bitte! ih will mich auch fegen, die Sache ift
w einfach!” Dabei hörte man, wie feine Bruft
ch Athem rang, weil der Zorn ihn zu erftiden
ohte.
„Ich habe eine neue Dienſterfahrung gemacht!“
b er an, hielt inne, fchöpfte nochmals Athem
d fuhr dann fort:
„Die Parade war vorüber, der Stab und die
ffiziere wollten fich bereitö entfernen, da wurden
r zu bleiben commandirt.“ — Er unterbrad
ne Rebe, ftand auf, wollte wieder auf und
dergehen, zwang fi) aber zur Ruhe und
238
blieb ftehen, die Hand auf die Lehne des Stuhles
geftügt.
„Als wir Alle beifammen waren, rief ber
Commandirende meinen Namen. — Ich trat hervor,
arglos, forglos. Wie folt ih ander8?" — „Herr
Lieutenant von Heidenbruck,“ fagte er, „Sie wil-
fen, daß der rechte Geift in der Armee die Haupt
fache ift und daß unmilitairifche Gefinnung nicht
geduldet werden darf. Man hat es feit lange
mit Unzufriedenheit gejehen, daß Sie es mit Ih
rem Umgang nicht genau, nehmen, wie der Offi⸗
zier ed muß. Gie verkehren mit Menfchen, deren
Geſinnung mehr ald verdächtig ift, und durch
die Ihre eigene Gefinnung zweifelhaft wird. Sie
werden alfo Ihres Lehramted an der Schule hier:
mit überhoben, und ich gebe Ihnen auf, Ihren
Berfehr mit Menfchen von verbächtiger Gefinnung
abzubrechen. ” |
Georg hielt inne, da feine Gefichtsmußfeln
und Hände zitterten unter der Anftrengung, mit
der er fih gezwungen hatte, das Greigniß ruhig zu
berichten. Der Baron felbft war bleich gewor-
ben. Auguſte weinte.
253
ı der Eivilifation zu bringen. Sie leiftet in
cheidener Stille, was die Socialiften erftreben.
e würde ed in immer höherem Grabe leiften
ınen, je mehr gebildete, mit dem Wiffen unferer
it genährte Menfchen fich ihr unterordnend ans
löffen. — Und Du fannft zweifeln, ob fie eine
tzeugende Kraft beſitze?“
Cornelie jchwieg, dann fagte fie nach einer
mfe: „Ich habe oft daran gedacht, wie wunder⸗
c, wie urfprünglich fegensreich der Beruf eines
iſſionairs ift. *
„Auch mich hat diefe Vorftelung häufig be
Aftigt, und — —“
„Denn Dich in der Gemeinde das 2008 träfe,
" Belehrung hinauszuziehen,“ fiel ihm Cornelie
3 Wort, „wuͤrdeſt Du gehen?
„Ich würde gehen und glauben, daß Gott die
aft, welche mir dazu fehlt, durch feine Gnade in mir
affen wird. Es hat fogar Stunden gegeben, in des
ich mir vorftellte, mit Dir hinauszuziehen. Mit
r vereint zu lehren und zu wirken, feinen Na⸗
n zu verfündigen im heiligen Dunfel ver Urs
ver, auf den Höhen und an den fchnellrau-
254
— ——
— —
ſchenden Fluͤſſen eines Landes, deſſen Lüfte den
Namen des Alleinigen noch nicht von Menſchen⸗
lippen fegnen hörten —“
Cornelie ließ ihn nicht enden. Mit leuchtenden
Augen ſchloß fie ihn in ihre Arme. „Ja! ja! das biſt
Du! das ift der Mann, den ich liebte, das iſt der
Mann, der mich zur Xiebe, zur Entfagung erzogen!"
rief fie aus, Fniete dann vor dem Sibenden nieder
und bedeckte feine Hände mit ihren Küffen. Pleſſen
hinderte fie nicht daran. Er ftreichelte fanft ihr
Haar, während er liebevoll lächelnd zu ihr her-
abblickte. Da er faft immer von ihrer Ueberle⸗
genheit zu leiden hatte, that es ihm wohl, als
fie fih in Liebe vor ihm demüthigte.
„Sieh!“ ſprach fie, „wie unter der Madıt
eined großen Gedankens Dein ganzes Weſen ſich
belebt. Halte ihn feft diefen Gedanken und Du
wirft genefen. Du wirft die Kraft finden, ihn aus-
zuführen, und daß ih Dir nicht fehlen werde,
weißt Du!“
Vollkommen hingeriffen von diefer neuen Vor⸗
ftellung, begann fie diefelbe nad) allen Seiten zu
durchdenken und mit fo ftrahlenden Farben aus»
u
239
—
„Und weiter?" fragte der Vater gefpannt und
orgt zugleid).
„Run!“ rief der Sohn mit auflodernder Hefs
keit. „Das ganze Corps ftarrte mi an! —
yelnd, mitleidend! — fie ſtarrten mich an! —
ıd er zögerte mit der Ordre des Auseinanders
hend, Er blieb mit Wolluft in dem Kreife, ſich
; der Erniedrigung eined Menfchen zu weiden.“
Georg riß feinen Rod auf, fchlug ihn über
» auf den Rüden gehaltenen Hände, ging
ımal dad Zimmer entlang und fehrte dann
eder zu dem Vater zurüd.,
„Ich ftand da,“ fagte er mit demfelben Zorne,
n meined Nichts durchbohrendem Gefühl. Ich)
md da und wurde angegriffen in dem Heiligften
8 Menfchen, in dein Rechte meines freien Wil-
is, in meinem Privatleben. Ich fland da und
ußte fchweigen, denn noch band mich jener
ienft, der die Menfchen zu Mafchinen machen
uß, um fie für feine Zwede zu verwenden —
et — — hd
Der Baron ließ ihn nicht enden. „Der Vors
N if fehr unangenehm!” ſagte er, „Ich billige
240
dad Verhalten des Generald in dieſem Falle
nicht! Er mußte Dir ſolche Ausftellung privatim
maden und ed wird Dir Nichts übrig bleiben,
ad — —“
„As noch heute meine Entlaſſung einzurei⸗
chen!” fiel ihm der Lieutenant in's Wort. — „Das
eben wollte ich, Water! und das Hatte ich Dir zu
jagen. ” |
Der Baron fah ihn verwundert an, „Deine
Entlaffung einreihen? den Dienft verlaffen?“
ſprach er. „Wirft Du denn niemald ruhig wers
den, lieber Sohn? Was hat der Dienft, was hat
ber Beruf eines Mannes zu fchaffen mit ber
Tactlofigfeit eined Vorgeſetzten?“ — Er fchüttelte
leife ımißbilligend dad Haupt und fagte nady einer
furzen Pauſe: „Ich rathe Dir um Deine Ber:
jegung einzufommen. Damit gehft Du dem Gene
tal aus dem Wege, zu weldem Dein Berhält
nig in Zufunft allerdings peinlich fein würde,
und vermeideft zugleich den Doctor, ohne ihn zu
verlegen. Es ift ein mißlich Ding für einen
Offizier, die Anfichten unſeres Freundes gel
ten zu laſſen. Wir hätten bad bedenfen fol
2a
- ih madje Dich nicht allein dafür verants
ch.“
e Sprach dieſe letzten Worte mit einer Be⸗
ig, wie der Sohn ſie niemals an dem Va⸗
hoͤrt hatte. Es war etwas Gebrochenes in
Veſen des Barons. Er war nicht mehr der
e, willensſtarke Mann, vor deſſen Starrheit
ſtets feinen Muth ſinken gefühlt hatte. Gr
in Greis geworben, feit er dad unbebdingte
wen zu fich felbft verloren. Der Sohn bes
ed mit jchmerzlihen Erftaunen, er hätte
beöhalb nachgeben mögen, aber er konnte
ht.
35h muß den Dienft verlafien, Vater!” fagte
Ihne meine Zuftimmung, Georg?”
Wo meine Ehre in das Spiel kommt, darf
ir der eigenen Zuftimmung folgen, muß id)
{bft genügen,” Der Baron ſchwieg. Man
: ihm anfehen, wie fchwer diefe Worte ihn
ren hatten.
Es wird daß erfte Mal fein,” ſprach er nach
Weile, „daß ein Heidenbruf in folder
dungen. IL 16
242
Meife ben Dienft feined Königs verläßt! Ueber
lege wad Du Dir, wad Du und Allen damit
anthuft!” -
„Sch habe Feine Wahl!“
Der Baron zudte die Schultern, Sie fchwie
gen Beide. Endlich fagte der Vater: „Thue,
wad Du vor Dir vertreten Fannfl. Du bift ja
mündig.“ Aber der Ton, mit dem er biee
Worte fagte, fehnitt dem Sohn tiefer in's Herz,
als der härtefte Tadel,
Er ging auf den Vater zu, legte den einen
Arm um feinen Hald, ergriff mit der Rechten ded
Daterd Hand, und ſprach: „Ich wollte, ich Eönnte
Dir's erfparen, lieber Vater!“
„Das glaube id Dir!" amtmwortete ber
jelbe, „ich habe aber fein Glüf mit meinen Kin
bern!”
Damit ging er hinaus. Georg fah ihm
fehweigend nad), trat dann an das Fenſter und
blieb, die Stine gegen die Scheiben gebrüdt,
gedanfenvoll und traurig ftehen.
Als er fich endlich ummendete, faß Augufte
noch regungslos auf derfelben Stelle,
243
„Was brüteft Du fo?" fagte er heftig.
Auguftend Thränen antworteten ihm ftatt
jrer Worte.
„Es ift eine unerträgliche Gewohnheit dieſes
Beinen!’ fuhr er auf. „Ihr Weiber feid nur
m Glücke etwas werth! — Wenn man Troft
wauchte, muß man Euch tröften! Weine nicht! —
Borüber weinft Du eigentlich?’
„Ueber unfer Schickſal,“ antwortete fie, „und
iber Deine Härte!’
Er gab ihr die Hand, fie fiel ihm um ben
Hals. Es war ihm unangenehm, aber er hatte
icht den Muth, ihre Zärtlichkeit, die er lange in
goiftifchem Leichtfinn hervorgerufen und genoſſen
yatte, von ſich abzumweilen, obſchon er fein Vers
yaltniß zu ihr in dieſem Augenblide ſchwer bes
eute,
Er dachte an den Brief, in dem er feine Ent-
affung fordern wollte, an feine Zukunft, an des Vas
ers letzte Worte, Die Liebe eines Mädchenherzens
am ihm gering daneben vor, er hatte fein Mits
yefühl dafür. ine Liebe aber, welche der Mann
vicht theilt, beläftigt ihn immer. Nur mit ſich
16*
244
ſelbſt befchäftigt, nur beſtrebt, ſich vor irgend einer
Erörterung ficher zu ftellen und von Augufte fort
zufommen, füßte er fie ſchnell, wie man einem
Bettler ein Almofen hinwirft, den man loszus
werden wünfcht, und ging hinaus.
Weil die Mehrzahl der Frauen Feine Gelegen-
heit hat, den männlichen Charakter kennen zu
lernen, wird ed ihnen fo leicht, ſich in abſicht⸗
liche Täufchungen zu wiegen, fobald dieſe ihren
MWünfchen entfprechen. Weit davon entfernt ſich
einzugeftehben, daß Georg fie nicht liebe, was fie
im runde ihres Herzend wohl empfand, legte
Augufte fih fein Berhalten gegen fie nach ihren
eigenen Planen aus. Sie fühlte, er habe in dieſer
Stunde mit feinem Gedanken an fie, an eine
Verbindung mit ihr gedacht, aber fie nannte «8
ehrenhaft und feiner würdig, daß er das Leben
eined Weibes nicht an fich feffeln wolle, fo lange
feine eigene Zufunft nicht gefichert fei, und dieſe
feftgeftellt zu ſehen, blieb jekt ihre nächte
Ziel. |
So wenig fie Richard liebte oder vertraute,
konnte fie ed, als er in biefem Augenblide ein-
a
t, doch nicht unterbrüden, ihm den Vorfall zu
Ahlen, und ihm ihre Sorge um ben Better
Szufprechen. Indeß weit davon entfernt, ihre
forgniffe zu theilen, leuchteten feine Augen, ale
nehme er die erwünfchtefte Botfchaft.
„Das ift ein wahres Glück!“ rief er, eilte
er Shüre hinaus und auf des Lieutenant
hıbe.
Georg fchrieb fein Entlaffungsgefud,
hard mit den Worten: „Glück auf, und vor-
irts!“ in feinem Zimmer erfchien.
„Du weißt alfo fon?” —
„Daß Du frei bift? — ja!"
„Was fagft Du dazu?"
„Sch mußte über Augufte lachen, bie umber
ppelt wie ein Huhn, dad Enten ausgebrütet
t und fie auf's Wafler gehen ſieht.“
„Sei kein Thor, Richard!” unterbrach ihn der
eutenant, „laß das Scherzen, mir fteht der Sinn
ht dazu und Augufte thut mir leid. *
„Mir auch!” entgegnete der junge Engländer,
ber ich freue mich doch, daß ich fie und nicht
ich zu beklagen habe.“
246
Der Lieutenant fah ernfthaft vor ſich nieder,
dann meinte er: „Ich habe mir dieſen Augenblid
fo oft vorgeftelt, ihn auf eine oder bie andere
Weiſe ald unausbleiblich berechnen können, habe ber
"ftändig an die Geftaltung meiner Zukunft gebadıt,
für den Fall, daß ich den Dienft verlaffen wuͤrde,
und nun ed gefchehen ift, empfinde ich doch eine
Leere in meinem Innern, habe idy doch ein Ge⸗
fühl von Frembdheit in der Welt. Es ift wun⸗
berbar, wie der Menfch mit feinem Berufe ver
wächft, auch wenn er ihn nicht liebt.‘
Richard fchwieg ein Weile. Cr kämpfte mit
einer DBerlegenheit, die ihm dad Blut in bie
Wangen trieb. Endlich ſchien er fie mit Gewalt
zu überwinden und fagte: „Auch ich Habe fehr
oft an diefen Fall und an Deine Zukunft gedacht,
aber ich habe Dir meine Plane für Dich nie
fagen mögen. Ic bin fo viel jünger ald Du
und ich fürdhtete, Du würbeft mid) jelbftfüchtig
glauben‘ — — Er unterbrady ſich, reichte dem
Lieutenant die Hand und rief: „Ich meine «6
aber gut!’ Seine Berlegenheit war babei wieder
gewachſen, fo daß Georg, der ihn in berfelben
247
ı wieder erkannte, ihn bat, ſich zu ers
n.
„Ich gehe in acht Wochen von hier fort, das
it Du, und fuͤr's Erſte in mein Geſchaͤft nach
on. Gehe mit mir!“ ſagte ber Jüngling
U,
Der Lieutenant war überrafeht. Richard hatte
H nun Muth gefaßt und fuhr ruhiger fort:
7 babe mir das oftinald überlegt, wenn mir
nahe Trennung von Dir ſchwer auf das
‚ fiel. Lerne mit mir zufammen das Gefchäft,
e Kaufmann wie ich, und wenn id) einmal
Haus in London übernehme, fo behalte Du
Commandite in Liſſabon!“ Froh, feinen Vors
ig gemacht zu haben, blidte er den Lieutenant
feine Meinung zu erfahren,
Georg war gerührt. „Guter Junge! Daß
fo für mich forgteft,” rief er. „An diefe Laufe
ı babe ich freilich nie gedacht!” — — Und
ı einer Pauſe feste er Hinzu: „meine Ver⸗
niffe verbieten fie mir übrigens von felbft,
ı wenn ich die Carriere aufgebe, bie mein
er mir beftimmt bat, muß ich meinem Gefühle
a
zu genügen, mid balbmöglichit unabhängig von
ihm machen.’
Da flammten Richard’8 Augen hell auf und
mit leife bewegter Stimme fagte er: „Zeige mit,
daß Du mic als Deinen Freund anſiehſt. Ich
bin reih. Nimm von mir die Mittel zu Deinem
Unterhalte an, bis Du eine Stelle in unferm Ges
fchäfte ausfülft, deren Erwerb Deine Bedürfniffe
bet. In acht Wochen bin ich Herr über ein Vers
mögen, das ben Bell Deines Baterd doppelt
übertrifft — und ich habe Feine Gefchwifter!
Sei Du mein Bruder, Georg!’
Damit warf er fich dem Freunde an die Bruft,
e8 zu verbergen, wie bewegt er war.
Der Lieutenant drüdte ihn feſt an’d Herz und
brüdte ihm noch fefter die Hand: „Du bift ein
Mann geworden und ein ganzer Menſch!“ rief
er. „Welche Wohlthat bift Du mir nad) des
Baters Klagen, nad) Auguftend ohnmächtigen
Thraͤnen!“
„Sieh!“ fiel Richard ihm lebhaft ein, „Du
entrinnſt dann Allem, was Dich drüdt. Du kannſt
reifen, wohin Du magft, nad) Amerika, nad
249
dien — ed nügt und Beiden, wenn Du ed
uſt — und ich behalte Dich doch noch eine
weile! Gehe mit mir, Georg! — Aber ohne
aguſte!“ fügte er plöglich lachend Hinzu, ale
e Diener eintrat, zu melden, dad gnädige
Qulein laſſe die Herren zur Tafel bitten,
Elftes Kapitel
— — — —
Gegen Corneliens Anficht Hatte Pleſſen den
Wunſch ausgeſprochen, ihre Verlobung noch
geheim zu halten, bis fie über die Art einig ge
worden wären, in ber fie ihre Zufunft begründen
fönnten, und ba er jet ficher war, fie werbe ihm
folgen, drang er darauf, den Ort zu verlaflen,
ohne die Zuftimmung feiner Braut dafür gewin
nen zu koͤnnen.
Mit aller Sehnſucht eines Ruhebebürftigen,
fchilverte er ihr oftmald den Frieden der Herren-
huthergemeinden, malte er ihr ein Dafein aus, dad
in enger Befchränfung fein Genügen finden, und
in ber gegenfeitigen Erhebung und Zufriedenheit
—
251
Endziel haben ſollte. ornelie hörte ihm
zu, aber niemald ohne fi) davon bebrüdt
ihlen. |
‚Du bift Frank!” fagte fie ihn, als er fid
in Träumen von einem folchen Leben ver-
d, „Du bift Frank, Liebſter! fonft Fönnteft Du
Gedanken nicht hegen. Laß und nicht da
Iprechen, bi8 Du wohler bift!‘‘
Sr verlangte, fie ſolle fich über dieſe Aeuße⸗
erklären, fie weigerte fich Anfangs, dann fagte
ya er bei feiner Forderung verharrte: „Es ift
Bunft, in dem wir Beide uns feit unferer
obung nicht mehr verftehen. Wenn ich fonft
vie Ehe dachte, Hoffte ich in berfelben ein
bniß zu finden, das die Kräfte von zwei
) ftrebfamen Menfchen durch ihre gemeins
tlihe Richtung fteigern und verdoppeln follte.
hoffte thätiger, wirffamer zu werden in ber
ich fah in ihr eine erhöhte, vollendetere Forts
19 unferes bisherigen Lebens und Schaffens.
Du fiehft in ihr einen Abſchluß, ein ftil-
Ruben. Für ſolchen Abſchluß aber fühle ich
noch nicht gemacht. Ich möchte mein Das
252
fein erweiten, Du wilft dad Deine begrenzen.
Ich möchte fchaffen, Du willſt raften — und daß
ich es Dir geftehe, die Vorftellung in ber Bris
bergemeinbe zu leben, ift mir vollfommen fremd.”
„Dennod warft Du ed und die Gräfin,”
wandte ihr ‘Bleffen ein, „die in nicht ferner Zeit
die größte Vorliebe für Zinzendorf ausgefproden
haben.“
„Sa, für Zinzendorf! aber nicht für bie fro
flige Trodenheit der jegigen Brübergemeinben.
„Sie ift nur abgeflärter, nüchterner ge
worden,” entgegnete Pleſſen, „al8 fie es zu dee
Grafen Zeiten war, und darum tüchtiger. *
„Zrauft Du ihr eine fortzeugende Kraft zu?"
fragte Cornelie.
„Unbedenklich!“ rief ihr Bräutigam, „denn
fie erzieht innerhalb ber Gemeinde rechtfchaffene
gottgefällige Menſchen, arbeitfame Bürger. Gie
verhindert Armuth und Unwiflenheit in der Brüs
derſchaft, und fie hat daneben Kraft genug, alls
juͤhrlich Männer und Frauen aus ihrer Mitte
fortzufenben, weit hinaus in alle Welt, den Hei
ben das GEyangelium, ben Wilden die Segnuns
255
len, daß Pleſſen davor erfchrad. Er mußte
tinnern, daß er einer Niederlaſſung in der Eos
nur als eines Wunfches, einer Möglichkeit er⸗
nt babe, auf deren Erfüllung nur nad) Bollzies
j ihrer Ehe zu rechnen fei. Die Einwilligung
Vaters zu berfelben zu erlangen, müßte alfo
nächfte8 Streben bleiben.
Die Gräfin und ber Prediger waren die Eins
, welche von der heimlichen Verlobung ihrer
nde unterrichtet wurden. Sie begrüßten das
gniß mit Freuden und mit Segen. Es war
rfte Heirath, welche innerhalb der Gemeinde
lofjen werden ſollte, und in der improvifirten
acht, zu der bie vier Freunde ſich vereinten,
h der Prediger es aus, daß nur durch bie
indung ber Heiligen, nur aus ber reinften
einſchaft der Gatten, der reine Menfch, ber
Heiland geboren werben fönne, deſſen bie
: bebürfe.
So lange in Euren Herzen dem Geliebten
nüber noch ein anderer Gedanke ald der an
erwacht, ein anderes Empfinden rege ift,
dad bed inbrünftigen Danfed gegen den All
256
weifen, der Mann und Weib gefchaffen und fie
zu Werkzeugen feiner Zwede beſtimmt bat, fo
lange ift der böfe Geift der Luft mächtig in Euch,
fo lange lebt Ihr unter dem Fluche der Erbſuͤnde,
der fich fortpflanzt, auf Kind und Kindeskinder,“
fagte er. „Darum trachtet darnach, Herr zu wers
ben über den Menfchen in Euch, damit Gott
mächtig fein könne über Euch, und wenn bie
Liebe Euch zu einander zieht, fo jei es, um Euch
ald willenlofe Werkzeuge hinzugeben an die Rat
fchlüffe des allwiſſenden und allmächtigen Gottes.“
Er umarmte darauf Pleffen und bie beiden
Frauen; denn die brüberlichen Umarmungen wa
ren feit lange Sitte geworden in der Gemeinde,
deren Zahl fich bedeutend vermehrt hatte. Aber
heute zum erften Male fühlten die beiden Verlob⸗
ten ſich gleichmäßig verlegt durch die leidenſchaft⸗
liche Inbrunft, in der die Gräfin und der Prebi-
ger die Verlobten und danach einander an bad
Herz ſchloſſen.
Eornelie befchwerte fich darüber gegen ihren
Bräutigam, fobald fie ſich allein mit ihm befant,
und Pleſſen geftand ihr, daß er fchon feit Länge
257
Zeit die eigentliche Zuverficht zu jenen Freun⸗
nicht mehr habe, ja daß er glaube, auch ihr
rauen nicht mehr wie früher zu befigen.
„Andere unferem Empfinden freinde Perfonen, *
gte er, „find ihnen nahe getreten. Die Phans
fie hat in dem engeren neuen Kreiſe mehr und
ehr die Stelle des Gemüthes, eine finnliche Sym⸗
zlik und Myftif haben den Platz des kindlich eins
chen Glaubens eingenommen. Man hat Zufams
enfünfte gehalten, von denen wir nicht unterrich-
t waren, und es find Dinge in denfelben vor-
:gangen, es haben Kafteiungen, Bußübungen
attgefunden, die mit ber fchlichten Lehre des
hriſtenthums nichtd mehr zu ſchaffen hatten, *
„Woher kommt Dir diefe DVermuthung?*
agte Cornelie zweifelnd und doch betroffen.
„Durch einzelne, unmwillfürliche Aeußerungen
r Eingeweihten. ”
„Und Du forfchteft nicht? Du fragteft nicht?
yu Fonnteft mit ihnen verkehren auf dem Fuße
Men Bertrauens, obfchon Du ſolch ſchweren Vers
acht gegen fie hegteſt?“
„Sch wollte meiner Sache ficher werden.”
Wandlungen. I. 17
258
„Aber Du fchwiegeft auch gegen mich,“ fiel
ihm Comelie ins Wort, „das ift — —“
Sie vollendete den Ausſpruch nicht, Beide
verftummten, es entftand eine lange Pauſe. End»
lich fagte Pleffen: „Ich mochte Dich nicht beuns
rubigen, ich hoffte Dich unbeirtt an dem unheim-
lichen Gebahren vorüber zu führen!“
„Bin ich ein Kind?“ fragte Cornelie mit dem
beleidigten Selbftgefühl der Kraft, vie es unerträg-
(ich findet fich bevormundet zu fehen. Indeß fie
brängte dieſe Aufwallung eben fo ſchnell zurüd
und ſprach, indem fie fich zur Ruhe zwang: „Shr
habt in unferer Gemeinfchaft nicht nur die Gleich—
berechtigung der Frauen, fondern fogar die Prie
fterfchaft derfelben anerkannt und zugegeben, daß
fie al8 die Entwidlerin der kommenden Geſchlech—⸗
ter in einem höhern Zufammenhange mit ber
Gottheit ftehen ald der Mann. Aber was Ihr
theoretifch als Wahrheit einfehen gelernt, das
ftraft Ihr in der Prarid Lüge. Ihr vertraut un
fern Eingebungen, und wollt und leiten. Ihr
glaubt an unfern unmittelbaren Zufammenhang
mit dem Höchften, und wollt und abhängig mas
9
hen von Eurer Einfiht, ald ob und die Fähig-
reit des Urtheilend verfagt wäre von dem Schöpfer!“
„Cornelie!“ wendete ihr Pleſſen ein, „es giebt
Berührungen mit der Außenwelt, vor denen jeber
Mann dad Weib zu bewahren wünfcht, das er
liebt, das feinen Namen tragen und die Mutter
feiner Kinder werden fol, und — —“
. Ihre Heftigfeit ließ ihn nicht enden. „O!
wolle mir nur mit dieſen Phraſen Nichts beweis
fen!“ rief fie aus. „Schlimm genug, daß in
Deutfchland das Weib fogar den eigenen Namen
in der Ehe einbüßt, daß er ihr nicht bleibt, wie
den Frauen freierer Nationen. So gern id
Deinen Namen führen werde, fo weh’ wird es
mir thun, den Namen aufzugeben, der mir anges
boren iſt. Hat denn der Mann allein dad Recht
feinen Namen ald einen Befig zu ehren, dem fein
Charakter Werth und Geltung giebt? Was ich
bin, bin ich ald Cornelie von Heidenbrud gewors
den. Das ich Dir bin, das liebteft Du unter bie-
fen Namen. Wie Fannft Du befondere Rüdfichten
nehmen wollen für ein Weib, bloß weil e8 Dei-
nen Namen tragen fol? —“
17*
260
„Du bift gereizt und thuft mir Unredt!“
meinte Pleſſen begütigend.
„Du, nur Du thuft Dir Unrecht” rief fie,
„Unrecht auch in meinen Augen, durch die Maß-
lofigfeit Deines männlichen Egoismus. Du willft
mid vor Gonflicten mit der Außenwelt bewahs
ren, nut weil ich die Mutter Deiner Kinder wer:
ben fol. Als ob das Weib, das fie mit ih
rem Herzblut nährt, mit ihren Sorgen, ihren
Schmerzen groß zieht, nicht mindeftend gleichen
Antheil an ihnen hätte, ald der Mann, als
ob — __fgU
„Sch bitte Dich,” rief Pleſſen, jest feiner
Geitd in Zorm ausbrechend, „nur Nichts von
Srauenemancipation! Ich verabfeheue die Rich—
tung, die immer Alles auf die Spitze ftellt, die
jeden Gedanken verwirklichen will, ohne zu über-
legen, daß der Gedanke frei ift wie die Unendlich—
feit, daß die That gebunden und beengt ift durch
alle Schranken des Beftehenden, Jene Richtung
führt nur zur Zerftörung.”
„Und die Deine zu einer Halbheit, die und
Beide elend machen wird!“ fuhr Gornelie her
261
18, erfchraf dann aber vor dem eigenen Worte
nd verfanf in Schweigen.
Pleſſen war eben fo ſchmerzlich betroffen. Kei⸗
er vermochte daß erfte Wort zu finden. Es war
id im Gemache und die hereinbrechende Dunkel⸗
eit machte die Verftimmung nur noch laftender.
Wäre Pleſſen aufgeftanten und heftig umher⸗
egangen, wie Georg «8 in folchen Fällen that,
ätte er fi wie Erich, eine Cigarre angezündet,
en Mißmuth zu überwinden, oder würde er fich
atfernt haben, fi zu fammeln und Cornelien
eit zur Baffung zu geben, ed wäre dies Alles
ine Erleichterung für fie gewejen. Aber wie fie
yn jetzt vor fich figen fah, gebrüdt von ihrem
arten Worte, fehnitt es ihr tief in das Herz,
nd doch Fonnte fie ed nicht zurücnehmen, denn
e hatte ihre Ueberzeugung damit ausgeſprochen.
Sie fagte fih, daß Pleſſen frank fei, daß
jemüthsbewegungen ihm immer fchabeten, und
(8 er plöglich leife zu Huften begann, bemüht
ie krampfhafte Beſchwerde zu unterdrüden, bie
un die Bruft zufammenjchnürte, da hielt fich
‚ornelie nicht länger. Sie legte ihren Arm
262
um feinen Nacken und fragte, ob er ihr vergeben
fünne?
„Wie fol ich Dir vergeben, daß ich Deinen
Erwartungen nicht genüge?” entgegnete er. „Es
fchmerzt mid), das ift wahr! Zu verzeihen habe
ih Dir Nichts!“ |
„Vergieb mir meinen Hochmuth, meine Selbft-
ſucht!“ bat fie ihn.
„Das ift nicht des Menfchen Amt, Eornelie!"
entgegnete er fanft. „Bete zum Herrn, daß er
ein mildes Herz in Dir erwede, wie ich ihm jebt
gedanft habe für diefe Prüfung meiner Demuth,
Er weiß, wozu er und zufammenführte, er weiß,
weshalb er und in Liebe für einander Fommen
ließ. Wir follen und gegenfeitig erziehen zur
Demuth und Geduld, — Dana) laß uns benn
ſtreben.“ Er hatte dabei mehrmals gehuftet und
faß nun ruhig mit gefalteten Händen neben ihr,
während feine Auffaflung von ihrer Fünftigen
Che, und von dem Willen Gottes über fie, ihr
Herz empörte,
„Ein Strafgericht, eine Zuchtruthe des Herm,
das glaubte ich Dir nicht zu fein!” fagte fie leife
wollte fich entfernen, weil fie fühlte, daß fie
Thränen nicht mehr Herr fei.
zleſſen erfchraf vor dem Klageton ihrer
me, Sein Mißmuth, fein Zorn waren ver:
t, feine Neigung in voller Wärme erwacht.
eriffen von ihrem Schmerze eilte er ihr nad,
ıüdzubalten und an fein Herz zu ziehen,
fie wehrte ihn mit fanfteer Gewalt von
ib.
Laß mich,“ ſprach ſie, „es giebt Worte, die
nicht zurüdnehmen, bie man nicht vergeſſen
! und wir haben fie gefprochen.”
Ja faßte ed ihn mit fchwerer Angft, daß er
rlieren fönne, und mit einer Leidenfchaft, wie
elie fie nie an ihm erfahren, rief er, fie unı-
gend und an fich drüdend: „DO! verlaß mid)
! verlag mich nicht! Cornelie! Fühlft Du e8
‚ daß es nur die Scheu war, Dich, mein
! angetaftet zu fehen von einer Welt, die nicht
tande ift, auch nur den Schatten Deines Wer⸗
zu erfaffen? Sei mein! gieb mir dad Recht
zu befchügen, Laß und noch in diefer Stunde
yeinem Water gehen, ihm unfere Liebe zu ber
264
fennen, und die Ausficht nahen, ficheren Beſitzes
wird mich erlöfen, wird mir die Zuverficht, den
Frieden geben, den ich nicht mehr finden Fann,
als nur mit Dir,"
Er z0g fie neben fih zum Sitzen nieder, fic
umfing ihn mit ihren Armen und ließ fein Haupt
an ihrer Schulter ruhen, aber fie Füßte ihn nid
und fein Strahl von Freude war in ihren Jis
gen, ald fie in Nachdenken verfunfen, mit leiſet
Hand über fein Haar ftrih. So blieben fie bei
einander, bis Pleſſen fie aufforderte, mit ihm zu
ihrem Bater zu gehen. Indeß die Stunde, welche
fie dazu wählten, war feine günftige.
Der Baron, im Gefühle feiner noch unge
brochenen, männlichen Kraft, hegte eine Art von
Geringfhägung gegen jede Schwäche, eine gewiſſe
Abneigung gegen Fränfelnde Perſonen, befonbers
aber war ihm der Ausdrud nervöfen Leidens,
wie er fich in Pleſſen in diefem Augenblicke mehr
ald jemald ausfprah, an Männern gradezu ver
haft. Eines feiner Kinder, deren ftarfer Geſund—⸗
heit er fich ftetS ald einer Stammeseigenthümlich—
feit berühmte, mit einem Kranken zu vermählen,
25 _
alt ihm für eben fo unzuläffig, als eine Miß-
eirath, weil es dem Blute feined Gefchlechtes
s nahe trat wie eine folhe. Hätte Pleſſen's
tihtung und feine Mittellofigfeit ihm nicht
hnehin im Wege geftanden, feine bleichen Wans
en, fein matted Auge hätten in dieſer Stunde
ingereicht, die Kälte zu erklären, mit welcher ber
Zaron feine Werbung um Eornelie aufnahm, den
eifigen Ton hervorzurufen, mit dem cr Pleſſen
fagte: „Sie glauben ſich aljo wirklich in der Rage,
meiner Tochter, Fränflich wie Eie find, eine ftans
desmäßige Zufunft zu bereiten, Herr von Pleſſen!“
„Sch hoffe, mit Gottes Beiftand es in kuͤrze⸗
ſter Zeit zu können, Herr Baron!“
„Sie hoffen es!“ ſagte der Baron, indem er
die Worte ſcharf betonte. „Hoffnungen und Gott⸗
vertrauen mögen freilich genuͤgen, das eigene Les
ben leicht zu machen, ein fremdes Dafein zu tras
gen, reichen fie jedoch nicht aus!“
„Herr Baron!“ fuhr Pleffen auf, in dem
trog aller chriftlichen Demuth die gefränfte Manz
neöwürde fi) empörte: „wad berechtigt Sie zu
biefem Spotte?“
iR _
„Die Erfahrung, Herr von Pleffen, wie ſchwer
fih aus den reichten Hoffnungen auch nur eine
fümmerliche Wirklichkeit gewinnen läßt. Die Er⸗
fahrung, wie anfprudy8los die fogenannte Liebe,
wie reich an Bebürfniffen die Ehe if. Als Mann
von Ehre müfjen Sie Bedenken tragen, einem
Mädchen ftatt des geficherten Glüdes im Bater-
haufe, Ihre noch ganz ungewiſſe Zufunft anzus
bieten. Denken Sie alfo nicht mehr daran!“
„Vater!“ rief Eornelie, noch ehe der Baron
die legten Worte geredet, und che Pleſſen eine
Entgeanung machen konnte, „Bater! ftoße ihn
nicht zurüd, beleidige ihn nicht, er hat mein
Wort!”
Der Baron fah fie mit düfterm Blicke an.
„Dein Wort!“ wiederholte er, „So überlaffe «8
den Manne, dem Du ohne meine Zuftimmung
Dein Wort gegeben haft, dem Edelmanne, der es
hinter dem Rüden Deines Vaters von Dir for
derte, und der feine Anrechte auf diefe Unredlich—
feit zu bauen fcheint, fich felber zu vertreten!“
Es hatte während deſſen fchon einmal an bie
Thüre gepocht, jegt gefchah e8 zum zweiten Male.
267
n rief: „herein. Der Diener brachte
. Es war von der Hand der Gräfin
lie gerichtet. Die Worte „ſehr eilig”
ch Frauenweiſe auf der Adreſſe mehrfach
en. Gornelie fah es, ohne ed jedoch zu
und ftedte dad Echreiben in die Taſche.
ı Gräfin forderten Beſcheid!“ beinerfte
r, ald er dad gewahrte, |
werde Antwort fenden! Später, in einer
' entgegnete Cornelie abweifend, mit jes
zornigen Ungebuld, die wir empfinden,
folhen Augenbliden irgend ein An⸗
: und erhoben wird, Der Diener wollte
yiefem Befcheide entfernen, aber der Bas
tete ihm, er möge den Boten warten heis
nn wendete er fich, als jener dad Zims
‚fjen hatte, zu Cornelie und Pleſſen:
fhienen mir eine Entgegnung machen
,“ ſagte er, „mich dünkt jedoch wir find
Sch mwenigftend habe mein letztes Wort
Herr von Pleſſen aber fann mir nur
ndlungen und Erfolge beweifen, daß id)
hat, es auszuſprechen!“
8
Und ehe Pleſſen noch eine Antwort geben
konnte, butte ter Vater ſich abgewendet und das
Zimmer verlaſſen.
„Run? fragte Cornelie, da ihr Bräutigam
nicht ſprach: „Nun?“ wiederholte fie lebhaf
ter ald er die Schultern zuckte. „Und was
nun?“
„ir müſſen jchweigen und warten, während
wir verjuchen unjerm Ziele näher zu fommen,
ir müfen tulten, was der Rathſchluß deö
Hoͤchſten und an Echmerz zu tragen auferlegt.‘
„Ich will nicht dulden!“ rief fie heftig.
„Gomelic, das ift Frevel!* warnte Pleſſen.
„Ich will nicht dulden! rief fie noch einmal.
„Ih mag und will mich) nicht dein Ungerechten
fügen, ich will meine Liebe nicht verbergen. Ich
will warten mit Dir bis zur Erfüllung unferer
Wuͤnſche, aber warten al8 Deine erflärte Braut,
berechtigt die Neigung auszuſprechen, die ich für
Dich fühle, indeß ich will nicht heucheln, will mid
nicht veritellen. Du bilt ein Mann, wie fonnteft
Du zu ſolchem Borfchlag fchweigen, meinem
Vater gegenüber, der Nachgiebigfeit verachtet?*
269
„Er ift Dein Vater, ich hatte ihn zu ehren, *
wortete Pleffen ihr fehr ernſt. „Und,“ fügte er
zu, „ich traute auf den Beiftand befien, ber
3 zur rechten Zeit nie fehlt. Du aber hatteft
ypelt Unrecht, denn es ift unweiblich zu trogen,
: Du's thuft! *
„Und unmännlich, wiberftandslos zu dulden! *
"fie,
„Das Ehriftenthum verlangt's von uns!” be
rte Pleſſen.
„So mag ich kein Chriſt ſein, wenn ich die
enſchenwuͤrde in mir toͤdten fol!” fuhr fie leis
fchaftlihd empor, Aber kaum hatte fie bie
rte gefprochen, ald eine Zobtenbläffe ihre
angen überzog und fie fi) mit dem Ausruf:
tein Gott im Himmel, was habe ich gethan!“
die Bruft ihres Bräutigamd warf.
Auch Pleffen war bleich geworden, Er zog fie
yt an fich, da fie ſich an ihn lehnte, er ſprach
yt zu ihr, als fie ſich von feiner Bruft auf
tete, Jene Worte waren wie ein Blisftrahl
fchen ihnen niedergefahren, und wie betäubt -
mochten Beide den Boden nicht wieder zu
Tre —
270
kennen, auf dem ſie ſtanden, Vergangenheit und
Zukunft nicht zu faſſen.
Je laͤnger ſie ſchwiegen, je tiefer mußte die
Vernichtung in ihren Seelen um ſich greifen, bad
fühlte Pleſſen, und doch war er unfähig, des eben
Gefchehenen mit Worten zu gebenfen. Ihm graute
davor, aber feine Gedanken waren auf den einen
Punkt gebannt, er Eonnte nichts Anderes finden.
Endlih fiel ihm in feiner Herzensangſt ber
Brief der Gräfin ein.
‚Was will die Gräfin?” fragte er matt,
Eornelie verftand, was dieſe abweichende Frage
ihr bedeute,
Mit inftinctiver Folgſamkeit zog fie den Brid
aus der Taſche und lad ihn leiſe. Indeß kaum
war dies gejchehen, als fie zuſammenbebte.
„Auch das noch!“ rief fie, und Pleffen den Brief
hinreichend, fügte fie hinzu: „Lies! wir find verloren.”
Die Zeilen waren in fliegender Eile gefchries
ben. Sie lauteten: „Iſt Pleffen bei Dir, fo bitte
ihn augenblidlich, alle feine Papiere in Sicher
heit zu bringen. Iſt er nicht da, fo eile zu ihm
und laß nöthigen alles feine Schränfe öffnen,
271
m Alles zu entfernen, was fi auf die Ges
teinde bezieht. Meine und des Predigers fämmts
Ne Bapiere find und genommen. Die Zeiten
Verfolgung beginnen wieder fiir die Gerechten.
e Freiheit des theuerften Mannes ift bedroht]
mm augenblidlich zu mir!“
Zwölftes Kapitel,
Schon nah) wenig Stunden verbreitete fih
die Nachricht im Publicum, daß DVerfiegelungen
in den Häufern mehrerer angefehenen Perſonen
ftattgefunden hätten, welche, wie man es nannte,
zu den Frommen gehörten, und gleichzeitig erzählte
man, daß die Behörden zu diefer Maßregel durch
eine Denunciation veranlaßt worden wären, bie
mit unwiderleglichen Documenten gegen den Vers
ein aufgetreten war. Man fprad) davon, daß
die Mitglieder deffelben von den Oberen, ohne dad
Vorwiſſen Jener, in verfchiedene Elaffen getheilt,
daß in dem engeren Kreife der Eingeweihten unter
ben Deckmantel religiöfer Bußen und SKafteiuns
273
n unerlaubte Myfterien gefeiert worden wären,
a nur eine große Anzahl Männer und Frauen
fer Stände, namentlich aber des Adels, in mehr
ver weniger naher Beziehung zu jener religiöfen
jemeinfchaft geftanden Hatten, fo fahen fich plößs
h viele Bamilien in ihren Mitgliedern von einem
ıtehrenden Verdachte, von einer gerichtlichen Uns
rſuchung ihrer Verhältniffe in trauriger Weife
droht.
Ein Drud, ald ob eine anſteckende Krankheit
ı dem Orte ausgebrochen fei, legte fich laſtend
ber die Geifter, eine ängftliche Spannung machte
ch in allen gefelligen Verhältnifien geltend,
Die guten Chriften fahen mit Schmerz auf
n Wergerniß, das unter der Aegide der Religion
egeben worden war, und litten von dem Spotte
erjenigen, die ftetd ungläubig auf das Firchliche
‚hriftenthum und mißtrauifch auf das Secten⸗
yefen innerhalb deffelben geblidt hatten. Man
ermied den Merfonen zu begegnen, bie näher
der ferner mit den Sectirern befannt gewefen
yaren, weil man, bei ber fchnell begonnenen Uns
rſuchung, deren DVerhöre fi) weit ausdehnten,
Wandlungen. IL 18
nicht als Zeuge vernommen werden mochte, und
forgenvoll und niedergefchlagen gingen bie Per-
wandten aller derjenigen umber, bie von ber Uns
terfuchung betroffen worden waren.
Eornelie befand fich unter den Erften, welde
der Richter, dem die Unterfuchungsfache anheim
fiel, vor die Schranfen fordern ließ. Als man
die Vorladung dem Baron übsrbradht und ber
Gerichtöbote fich entfernt hatte, las er das Schrift
ftüf mehrmals langfam durch. Es fiel ihm
Ihwer, den Inhalt deffelden zu denken. Dann
blieb er lange regungslos in dem Lehnſtuhle vor ſei⸗
nem Schreibtifch figen, den Blid auf das Bildnif
feiner verftorbenen Frau gerichtet.
Er hätte viel darum gegeben, fie jest an fei-
ner Seite zu haben, die Eeele entladen zu koͤn⸗
nen vor dem einzigen Weſen, das den Jammer,
den Zorn, die Empörung feined Vaterherzend in
gleihem Maße theilen mußte. Er hätte viel
darum gegeben, hätte er die Tochter an die Bruft
ber Mutter legen koͤnnen. Er ward irre an fi
jelber, er war fich felbft nicht mehr genug zum
ragen ber eigenen Laft.
275
— — — — —— —
ih erhob er ſich und begab ſich zu Cor⸗
Hier ift eine Vorladung für Dich zum
en Verhoͤre!“ fagte er.
elie, dem Vater von allen feinen Kin⸗
ı ähbnlichften in ihren Charafteranlagen,
das Schreiben mit bderfelben Ruhe, mit
8 ihr gab. Der Baron hatte es ſtets
hen, daß über erfüllte Thatfachen Nichts
fagen fei. Jetzt handelten die Tochter und
t beide nach diefem Grundfage, und doch
der Letztere dies todte Schweigen faft
ender als fie.
nelie!” fragte er endlich, „weißt Du von
terien, um beretwillen man Eud) anklagt?“
n! mein Vater!”
von war ich überzeugt!” fagte der Baron
ihr die Hand.
dar ihr eine Freifprechung von bem beleis
Verdachte, der auf ihr ruhte, und fie
es Troftes fehr benöthigt. Der Gedanke,
m Gerichtshoſe zu erfcheinen, angeklagt
Bergehungen, durch deren bloße Erwäh⸗
ſich wie entweiht vorfam, flößte ihr Ents
18*
276
fegen ein. Sie hätte ihrem Vater ihr Herz aus
fhütten und wie ein Kind und wie ein Weib
fchugflehend zu feinen Füßen finfen mögen, hätte
ihr die Scheu, ihm ſchwach zu feheinen, ihm, ber
fo hohen Werth auf Seelenftärfe legte, nicht ben
Mund verfchlofien.
Aber ald er dad Zimmer verlaffen Hatte, ale
fie allein zurüdblieb in dem ftillen Raume, ba
brah dad Gefühl ihrer geiftigen Einſamkeit mit
furchtbarem Schmerze über fie herein, und fie
felbft, ihr geiftiger Hochmuth, hatte fie zu biefer
Vereinfamung verdammt. Sie hatte Alles von
fich gewiefen, ded Vaters Rath und Vorftellungen,
Friedrich's verftändige Warnungen, deſſen richtiges
Urtheil, deſſen geſundes Empfinden ihn ſchon lan—
ge von der Gemeinde getrennt, des Doctors ſcharfe
und ſie oft durch ihre Schaͤrfe uͤberzeugende Kri⸗
tik, ſie hatte das Alles von ſich gewieſen, im
Vertrauen auf die eigene Unfehlbarkeit, in der
Ueberzeugung, daß ihr Glaube der alleinig rechte,
daß fie und ihre Freunde die Auserwählten Got⸗
tes wären, Sie felber hatte zuerft die Gemeinde
mit dein Namen der Heiligen bezeichnet, fie halte
277
—— — —— — ——
son ihr und ihren Freunden ſolle bie
ırt der Menfchheit ausgehen. Nun ftand
Aufcht von denen, denen fie mit blins
yung vertraut, angeklagt um Berirruns
ımer als die fo tief verdammten Sün⸗
elt,
lorienſchein ber Selbftvergötterung war
Haupte gefallen, der Tadel, der Epott
hen trafen fie biß in dad Herz. Se
eit Jahren ihre Kraft gefpannt, ſich auf
ndelnden Pfade zu erhalten, auf dem
e Freunde fi) bewegten, um fo plößs
fie zufammen. Sie gli dem Schlaf
i, der in feiner franfhaften Ueberreizung
erbare leiftet, und ohnmaͤchtig dafteht,
ı ihn erwedt. Ihre ganze Seele lechzte
tand, aber wie konnte, wie burfte
t8 die Gleichberechtigung, bie göttliche
ft, die höhere Begabung des Weibes
jebt die Schwäche der geängfteten
verrathben? Wie Troft und Stuͤtze
fie, die vom Manne Anbetung bed
zehrt?
278
Wohin fie ſich auch wendete, fie fand die Ruhe
nicht, die fie erfehnte, die Liebe nicht, deren fie
bedurfte. Pleffen war unzufrieden mit ihr, weil
fie feinem Verlangen, ſich von der Gräfin fern zu
halten, nicht entſprach. Die Gräfin Hatte nur
einen Gedanken, nur ein Ziel, die Rettung be
Prediger. Ihre Leidenfchaft für ihn war feit
der Stunde feiner Verhaftung Niemand mehr ver
borgen geblieben; an biefer entzündete und er
hielt fi) ihre Thatkraft. Mit raftlofem Eifer
fammelte fie aus den Correfpondenzen ihrer und
feiner Freunde, aus feinen Schriften und aus fer
nen nachgefchriebenen Predigten alle die Stellen,
die für ihn fprechen fonnten. Sie hatte Unter
redungen mit den Angeflagten, mit den Zeugen.
Sie wußte den Muth der Zaghaften zu beleben,
den Glauben der Treuen zu fanatifiren, und fein
Zweifel an der Rechtmäßigkeit ihres Bundes, fein
Zweifel an dem ‘Prediger, an fich felber, Fam je
mals in ihr auf. Liebe und Leidenfchaft machten
fie davor ficher. Ein Weib, bei dem der Glaube und
bie Liebe zufammentreffen in einem und bemjel
ben Punkte, ift unüberwindlih. Ausdauernd auf
279
den längften Berhören, wußte fie den täglich
chſenden Anflagen und Beweifen immer aufs
ne zu begegnen. Friedrich war ihr dabei von
Bem Nutzen.
Er war durch feine einfachen Ausfagen einer ber
gen gewejen, welcher den Urfprung der geiftigen
thümer ver Gemeinde am Flarften nachgewiefen und
rit ein milderes Licht über den Eharafter der Gräs
und des Predigers verbreitet hatte, Er geftand,
ft von dergleichen Schwärmereien befangen und
durch ein Zufammenwirfen mannigfacher
adhen von denſelben zurüdgebradht worden
fein. Dadurch hatte er Theilnahme für feine
deren Olaubendgenofien zu erregen gewußt,
‚rend er feine eigene Rechtfertigung erlangte und
e völlige Unbefanntfchaft mit den der Gemeinde
Laft gelegten Fehltritten unwiderleglich darthat.
Auch Pleffen, wenn fchon gereizter gegen den
diger und die Gräfin, weil er fich als Freund
: ihnen ſchwer verrathen glaubte, war in glei-
Weiſe verfahren, und Eorneliend Verhoͤr ftand
ı bevor.
Der Baron hatte es erlangt, ihm beimohnen
280
zu dürfen. In voller Uniform, die Bruft mit
allen feinen Orden bebedt, trat er zur feftgefegten
Stunde in Eorneliend Zimmer, nahm ihren Arm
und führte fie die Treppe hinab zum Wagen.
Wortlos legten fie den Weg bid zum Gerichtöhofe
zurüd, und feft und ernft gefaßt traten bie beis
den edeln Geftalten in den Saal und vor ben
Kichter hin.
Hatte Cornelie bieher in banger Berzagtheit
mit fich felbft gerungen, fo rief dieſer Augenblid
fie auf, fi mit ihrer ganzen Kraft zu waffnen.
Es galt hier mehr als fie allein. So hoch ihr
Bater fein ftolzes Haupt erhob, fie fah den Drud,
der auf ihn laftete, fie fühlte fich fchuldig gegen
ihn, ihm angehörend, ihm verantwortlich, wie fie
e8 lange nicht mehr getan. Das machte fie be
müht ihm zu genügen.
Ruhig, ald ob nicht alle ihre Pulſen klopf—
ten, daß fie dad Blut in ihren Adern fchlagen
fühlte, ſprach fie fi) über das Entftehen der Ge:
meinde, über ihre Theilnahme an demfelben aus,
Mit firenger Kürze beantwortete fie alle ihr vors
gelegten Fragen. Nur der Werhfel ihrer Farbe,
281
nur ein leifed Zuden der Lippen verriethen, wie
ſehr fie unter der Verlegung ihres weiblichen Em⸗
pfindens litt. Eo hatte das Verhör bereitd meh»
rere Stunden gewährt, ald der Inquirent fich
auf die perfönlichen Beziehungen der einzelnen
Gläubigen zu einander wendete,
„In welchen Verhaͤltniß ftand Herr von Plefs
fen zu dem Kreife, den Sie für den engern Frei
der Auserwählten hielten?” fragte er.
„Sn einem Berhältniß der Freundſchaft, der
Verehrung, ded gemeinfamen Glaubens und Wirs
fend zu und Allen. Zu mir aber noch in einem
näheren DBerhältniffe, denn wir find verlobt!“
antwortete Eornelie feft.
Der Baron fuhr zufammen, objchon tief vers
wundet durd das ganze Verhör, hatte er ſich
bis zu dieſem Momente eined Gefühls befriedig-
ter Vaterliebe nicht erwehren fünnen. So rus
hig felbftbewußt wie feine Tochter jegt vor Dem
Richter daftand, hatte er fie zu fehen erwartet.
Dazu hatte er fie erzogen, fo hatte er fie geftählt
für die Prüfungen des Lebens. Wie fie fich
ihm angehörend fühlte mit ihrem ganzen Wefen,
282
jo empfand er fie al8 fein Eigenthum, ſich als
ihren Bildner, ihren Meifter. Da traf ihn plöß
lich ihre eigenmädhtige Erflärung des DVerlöbnifs
ſes mit Pleffen wie bewußter Trotz. Wie ein
Hohn erflang ihm die Frage des Richters:
‚Welche Anfichten hegte Ihr Bräutigam über Ihr
Verhaͤltniß zur Gemeinde? Hat er es gebilligt?!"
„Nein!* antwortete Cornelie, „er billigte es
feit einiger Zeit nicht mehr. Er wünfchte mid
und fich von unferen Freunden zu entfernen, und
wir beabfichtigten, und nad) unferer Verbindung
in einer Brüdergemeinde niederzulaflen, wenn
Herr von Pleſſen ſich nicht auf eine Mifftond-
reife zu gehen entfchloß, bei der ich ihn begleitet
haben wuͤrde.“
In dein Zome über den Troß gegen feine väter⸗
lihe Gewalt, überrafchten den Baron dieſe letzten
Worte Eorneliend plöglih wie ein Lichtftrahl.
Wie man in der Stunde der Noth als Ret:
tung ergreift, ald Gewinn erkennt, was man früs
her geringfchägend verworfen, fo erfaßte er jet
mit einem Male den Gedanfen, feine Tochter
mit Pleffen zu verbinden, um fie von einem Orte
283
ı entfernen, an dem Alles fie an ihren Irrthum
innern mußte, und an bem er bie Erklärung
rer Verlobung nicht widerrufen Fonnte, ohne feis
er Autorität und ihrer Wahrhaftigkeit gleichzeis
g zu nahe zu treten,
Das Verhoͤr währte lange. Als es fpät am
tachmittage beendigt ward, und Gornelie ihre
Schuldlofigfeit für den Richter vollftändig Flar er-
zieſen hatte, al8 fie wieder im Wagen an ihres Va«
ers Seite faß, da flog ein heftiges Zittern durch alle
Ire Glieder. Sie feufzte tief auf, und barg ihr Ge-
ht in ihre Hände, als fcheue fie das Licht des Ta-
& zu fehen, an dem man Eide von ihr gefordert,
e Reinheit ihres Weſens zu bethätigen.
Erfchöpft, gedemüthigt, irre geworden an fid
(ber, langte fie in ihrer Wohnung an. Das
ir fo vertraute Zimmer, die Gegenftände, mit de⸗
en fie fich täglich befchäftigt Hatte, traten ihr
end entgegen. Die Bilder der Gräfin und bes
zredigers fahen Falt lächelnd zu ihr herab und fchie-
en fie zu fragen: „wie Fonnteft Du von uns, von
Menfchen mit menfchlichen Leidenſchaften welterlös
ende Gedanken und Thaten fordern? Wie fonnteft
— — — — —
Du Dir ſelbſt vertrauen, Dir, die unſer Werk⸗
zeug war?“
Die Hände matt gefaltet, Die Augen müde
geſchloſſen, faß fie regungslos da. Sie fühlte
ſich heimathslos und haltlos in der fie umgeben
den Welt, und wie fie fih früher bem Glauben
überlaffen hatte, fo leidenfchaftlich ergab fie fich jekt
dem Zweifel. Mit graufamer Wolluft wendete
fie fich gegen Alles, was fie geliebt, gewollt, vers
ehrt, gegen Alles, worin fie Troft gefunden. Ihr
ganzes biäheriged Leben dünfte fie eine Lüge,
jede Eigenfchaft ihred Herzens und ihres Geiftes
leerer Schein, hochmüthige Täufhung, und mit
ſchwindelndem Graufen fah fie fih am Rande
eines Abgrundes, aus deſſen Tiefe ihr unheimlid)
die Selbftvernichtung winfte,
Eine ſolche Stimmung konnte nicht ohne Wirkung
auf ihr förperliches Befinden bleiben. Ihre Kräfte
brachen unter diefer Aufregung. Das Leben war ihr
werthlo8 geworden, fie glaubte Nichts mehr zu wuͤn⸗
fchen, zu erftreben, und doch ward mitten in bie
er Erſchlaffung oft eine Sehnſucht nach Erlöfung,
ein Angftruf nach einem Erretter in ihr wad,
285
ne daß fie felbft es fich zu fagen wußte, was
> erjehne und verlange.
Pleſſen, der nach jener Unterredung mit dem
Jarone, das Haus deſſelben nicht mehr betreten,
ıtte Cornelien, feit fie Beide die Gräfin nicht
ehr beſuchten, nur in einzelnen Momenten gefe-
en, weil fie in ihrer Franfhaften Abfpannung ihre
Bohnung und dann nur felten, nur im Wagen vers
eß. Aber fo oft er fie erblidt, war er erfchroden
ber die Veränderung in ihrer Stimmung und in
yrem Aeußern. Vergebens bot er in feinen Briefen
Me Zärtlichfeit auf, fie zur Sorge für ihre Ge⸗
undheit zu bewegen, vergebend alle Troftgründe
er Religion, ihren Muth zu beleben, fie blieben
uchtlos.
„Der Troſt von außen frommt mir nicht,“ hatte
e ihm auf ſeine Vorſtellungen geantwortet. „Der
dinweis auf bie Güte Gottes nuͤtzt mir nicht.
Bas hilft es mir, daß die Menfchen gut find,
aß fie mid) beflagen und daß Gott allbarmherzig
1? 68 ift fo elend, nur von Mitleid, nur von
zarmherzigkeit zu leben, nur durch Vergebung
nd Gnade zu beftehen. Gieb mir den Glauben
286
an mid, an meine eigene Güte, an meine Nuͤtz⸗
(ichfeit zurüd, und ich. werde des Troſtes dann
nicht mehr bedürfen.’
Des Baterd Sorgen, Georg’d Bemühungen,
fie zu zerftreuen, Auguſtens Aängftliche Pflege,
Nichts machte Eindrud auf fi. Sie war ent
fchieden franf, aber feine Bitten, Feine Vorſtellun⸗
gen Fonnten fie bewegen, den Doctor kommen zu
laffen und ihn zu Rath zu ziehen. Haft bis zur
Etumpfheit gleichgültig gegen Alles was fie
umgab und was mit ihr geſchah, brachte nur ber
Gedanke, den Doctor zu fehen, vor ihm bie Irr⸗
thümer befennen zu müffen, in bie fie verfallen
war, vor ihm gedemüthigt, vernichtet Dazuftehen, fie
zur Verzweiflung, und das einzige Berlangen,
dad fie feit jener Stunde ded PVerhöred ausge⸗
fprochen hatte, war bie Forderung gewefen, ihr
die Begegnung ded Doctors zu eriparen. .
So ftanden die Sachen, als der Tag heran
fan, an dem Georg dad Vaterhaus verlaſſen
follte, um Richard zu folgen, der jchon vor einis
gen Monaten nad) England abgegangen war,
Cornelie hatte fi) an dem Morgen befonderd
_ 87 _
t gefühlt und auf ihrem Zimmer allein zu
tag gefpeift, als Georg ſich zu ihr begab.
feinem Eintritt erwachte fie aus leifem Halb»
if, richtete fich aber fchnell auf dem Sopha em⸗
‚und hieß ihn fi an ihrer Seite nieberlaffen.
„Wie fühlt Du Dich?“ fragte er liebevoll
rgt.
„Ganz ſchmerzfrei!“ antwortete fie wie immer.
h bin wirklich ganz gefund!*
Ungläubig fah Georg in ihre erlofchenen Aus
Er nahm ihre Hand, fie brannte in trod-
Sieberhige. Da hielt er fih nicht länger, Er
ang feinen Arm um ihren Naden, und fagte
einem Tone von Berlegenheit und Xiebe, der
nd Rührendes hatte in dem Munde viefes
mnes: „Ihr habt mir immer den Vorwurf
acht, ich wiſſe mit mir Nichts anzufangen,
fagen ſie's von Dir!“
„Bas fagen fie von mir?“
„Du wüßteft nicht, was Du wollteft."
Cornelie lächelte fchmerzlih. „Behaupte von
m Menfchen, der mit unheilbar gebrochnen
edern darnieder liegt, er wolle nicht gehen!“
288
„Wenn man und zwingt gegen unfern Willen
zu handeln, dann heißt e& freilich immer, wir hät-
ten feinen Willen, oder wir wüßten nicht, was
wir verlangen!“ meinte Georg.
„Gottlob! daß Du Dein Ziel gefunden haft!“
antwortete fie, ohne auf die eigene Lage einzus
gehen.
„Es ift damit ein eigen Ding!“ rief Georg.
„Was ich nicht wollte, das wußte ich Flarer ald
was ich wollte; wohin ich nicht wollte, das ers
fannte ich deutlicher ald mein Ziel, Ich meine,
wenn’d dem Menfchen irgend wo recht unbehaglid
ift, fo muß er da nicht bleiben, fondern vor allen
Dingen fich losreißen und fich mitten in ein an
deres Leben hineinftellen, wie man untertaucht in
einem Strome, wenn die Schwüle gar zu drüdend
if. Wird man dann von dem fremden Elemente
fortgezogen, fo wehrt man ſich von felber gegen
den Untergang, und fämpfend und jchwimmend
findet man bie erfchlafften Kräfte wieder, ober
man geht eben unter! und das ift immer noch
befier, als fich todt zu ſchmachten!“ Er hielt inne,
wie von den eigenen Worten überrafcht, und fagte
8
ı Furz abgebrochen: „Mach' dag Du fort
nft! bier ift Deined Bleibens nicht laͤnger!“
58 war bad erfte Mal, dag Georg ſich ratls
nd in eine Angelegenheit feiner Gefchwifter
te. Cornelie ſah, welche Ueberwindung
hn koſtete. Seine ſcheue Zärtlichkeit rührte
ief, feine Worte trafen fie. Sie wiegte lang«
nachdenfend dad Haupt, dann ſprach fie nach
Pauſe: „Wäre ih ein Mann! — aber
— was fol ich thun?“
‚Du mußt heirathen, Cornelie!* fuhr Georg
16,
‚Heitathen?, wiederholte fie, als habe ber
inke ihr ganz fern gelegen.
‚Sprih ein Wort! Sage dem Bater, daß
ed willſt. Er ift voll Eorge, vol Zärtlichkeit
Dich, und Pleſſen fol im Augenblide bei Dir
wenn Du's verlangft! Der Bater wils
in Deine Heirath — ich follte Dir das
1!“.
Lornelie hatte mehrmals ſchnell die Farbe gewech⸗
aber ſie antwortete ihm nicht. Endlich ſprach
nit einem Lächeln auf den Lippen, indem ſie
andlungen. II. 19
a
des Bruders Hand ergriff und brüdte: „Alle Br
das war alle Deine Weisheit, treues Herz! heit
then ſoll ich?“
„Ja!“ rief er, „der Doctor ſagt das auch!“ Ki
Eornelie fuhr zufammen. Sie ließ des Bw Fi
ders Hände erfchroden los. Er wußte nicht, was
er davon denken ſollte. Seine Beftürzung zu ver
bergen, ſprach er, da er vergebend auf eine Ant
wort der Echwefter gewartet hatte: „Du haft zu
lange in Abftractionen, zu lange nur für Ans
dere gelebt. Du mußt jegt für Dich felbe
leben. Man will ja mehr fein, als nur da
Kind feines Vaters, nur der Freund feine
Freunde, der Wohlthäter der Hülfsbedürftigen.
— Bor Allem mußt Du's wollen, da Du
liebſt!“
Er hatte damit feine ganze Unterredungskunſt
erſchoͤpft, und fah ihr freundlich in’s Ge
fiht. Aber auch jett erhielt er Feine Antwort.
Eornelie blickte ſchweigend und ernfthaft vor ſich
nieder. Es war Georg unheimlich neben ihr.
Ploͤtzlich erhob fie fich.
„Er räth mir dazu! Er?“ fagte fie im Selbft-
291
fpräd), athmete tief auf, druͤckte Georg bie Hand
id verließ mit den Worten: „So fei e8 denn!“
n Bruder und das Zimmer, hoch aufgerichtet und
Ken Schrittes, ald habe fie gewaltfam alle Er:
ylaffung und Krankheit von fich abgeworfen.
19*
Dreizehntes Kapitel,
— — —
Der Prozeß gegen die Gemeinde der Heiligen
bildete einen ſtehenden Artikel in den Zeitungs⸗
blättern jener Tage, und Erich fand es bald
eben fo läftig, mit Fremden als mit befreundeten
Perſonen zufammen zu treffen, weil er fich nirs
gend vor Erörterungen ficher fühlte, die ihn pei-
nigten. Er hatte Regine von ben Maͤngen,
von der Verwicklung Corneliens in dieſelben er⸗
zählt. Sie hatte um ſeinetwillen Theil daran ges
nommen, aber ihr mittelbared Intereſſe an feiner
Schweſter, und ihre Unfähigkeit, fi) in die Geis
ftesrichtung einer folchen Gemeinſchaft zu vers
fegen, madten, daß ihm ihre Theilnahme nicht
ausreichend erfchien,
293
58 ift ſonderbar,“ fagte er eined Tages,
Du bei aller Xiebe, die Du für mich fühlft,
n Schmerz um meine Schweiter nicht vers
kannſt!“
Ich verſtand ihn wohl,“ antwortete ſie, „als
ie ſchuldig glaubteſt. Aber Du ſelbſt, die
rt, Dein Vater und vor Allen ihr Bräus
„Ihr feid ja alle von ihrer Unſchuld voll
en überzeugt!’
Was hilft dad!‘ rief er ungeduldig.
egine fah ihn befreindet an, „Was das
Mehr als vollfommen ſchuldlos kann doch
denſch nicht fein!’ fagte fie ruhig.
Ja!“ rief er, gereizt durch ihre Ruhe, bie
Ite fchalt, „jal man fann mehr fein, ein
ben muß mehr fein, ald eben nur ſchuldlos!
muß unangetaftet fein. Fühlft Du denn nicht,
nit folcher Unterfuchung der Ruf eined Weis
ür immer vernichtet ift? Sieht Du nicht,
hre Heirath nur ein Rettungsanfer ijt, an
rein Bater fie fetten muß, um fie vor dem
jange zu bewahren? Weißt Du was «8
zu jehen, daß ein Mann, den man im
294
Grunde zu gering für feine Schwefter achtet, fie
unter Verhältniffen zur Frau nimmt, in benen
man ed ald Gnade anfehen muß, baß- er es fchlich
lich thut?“
Es giebt Tage, an denen ein böfer Dämon
und verhindert, die Stimmung unferer liebften Men⸗
chen richtig zu erfennen und und ihr anzupaflen,
denn auch das innigfte Beifammenleben zu eim
ander gehöriger Perſonen, ift nur durch ein fteted
Ausgleichen der verfchiedenen Naturen möglich,
bie wie chemifche Stoffe unter veränderten Berhält
niffen eine veränderte Wirkung auf einander üben.
Ein folder Dämon waltete heute über Regine.
„Aber Deine Schwefter liebt den Mann und
er Tiebt fiel‘ wendete fie ein, ftatt Erich ruhig
feine Erregung ausfprechen zu laffen.
„Was hat ihre Liebe damit zu thun. Was
hilft diefe Liebe ihr von dem Urtheil der Welt?!"
„Wie fannft Du das fragen, Erich? Ich be⸗
greife Dich heute nicht!“
„Natuͤrlich!“ fuhr er auf. „Was kannſt Du
auch wiſſen von der Ehre einer Familie, von der
Schmach eines ſolchen zerftörten Rufes!“
295
hatte fich mit dieſer Heftigfeit genug ge
ine Bruft befreit und ging nun nad feis
wohnheit in dem Zimmer auf und nieder,
veiter auf Regine zu achten. So ents
> mehr ald eine Viertelftunde. Ploͤtzlich
die Stille ihm beängftigend aufzufallen,
m fprihft Du nicht zu mir, Regine?”
T.
zas Fönnte ich Dir jagen?’ antwortete fte
m fanfteften Klange ihrer Stimme. Der
ührte ihn. Er hatte fchon lange daß
tfein der Roheit gehabt, die er begangen,
ar bereit fie zu büßen, die Geliebte zu ver-
Langſam trat er zu ihr heran.
(8 ob ich nicht wüßte, wie die Blicke ber
en laften können!“ rief Regine, ald er
ftand und bob ihre thränenvollen Augen
in die Höhe.
fe Worte reizten ihn auf's Neue,
eine Neue kommt zu ſpaͤt!“ fagte er graus
ıdem er fich von ihr entfernte,
dh habe Nichts zu bereuen Erich, und ich
Nichts!“
296
„Aber Du rechneft mir das Opfer an, das
Du mir bradhteftl” rief er, „das thut die Liebe
nicht 1
„That ich das je?‘ _
„Du thuft es jetzt! und grade heute hätte ich
einer felbftlofen Liebe bedurft, indeg” — — —
Er hielt inne, nahm ein Bud) und feßte fidh nie
ber zu leſen. Regine konnte an feiner Unruhe
fehben, wie wenig er bei dem Werfe war. Cr
ſchlug die Blätter hin und her, fing auf verſchie⸗
denen Stellen zu lefen an, kaͤmmte dabei mit feis
nem Heinen Zafchenfamme Haar und Bart, bi6
er ungeduldig mit den Worten: „Ich muß aus
gehen und fehen, ob ich mid nicht im Freien
198 werden kann!“ von feinem Site aufftand.
„Sol ih Dich nicht begleiten ?“ fragte fie.
„Nein! ich will allein gehen, und das Wetter
ift auch zu ſchlecht, Du Fönnteft Dich erkaͤlten!“
‚Bann darf ich Dich zurüd erwarten, Erich?"
„Sch weiß ed nicht! — Fragſt Du mich aber
heute viel!“ — rief er mit gezwungenem Lächeln,
bot ihr flüchtig die Hand und ging mit einem
eben fo flüchtigen LXebewohl davon,
297
— — — — — —
gine ſah ihm ſchweigend nach, dann ſchlug ſie
ade ſchmerzlich zuſammen und hielt ſie feſt vor
ficht gepreßt, als wolle fie die Augen verſchlie⸗
r jeder Außeren Störung, um ſich zu bes
‚ wie eine ſolche Veraͤnderung zwifchen ih⸗
tftehen, wie biefe Scene hatte ftattfinden
. Und doch war fie nicht die erfte ihrer
weien.
unmwanbelbarer fie fich in ihrer Liebe, je
ie fich Erich eigen fühlte, um fo unbegreif-
mußte es fie dünfen, daß feine Zärtlichkeit
erkaltete, daß fie ihm nicht wie fonft, die
welt erfegte, aber fie konnte es ſich nicht
jen, daß dem aljo war.
it Georg den Abjchied genommen hatte, um
ann zu werden, feit Gornelie zur Unter⸗
g gezogen worden war, hatte Erich feine
an Reginend Seite nicht wieder zu finden
ht. Die Neugier und die Theilnahme, die ſich
efen ungewöhnlichen Greigniffen auf feine
ie hefteten, die Gerüchte, welche in der gros
Belt über Helenend Liebedabenteuer im
unge waren, hatten ihn mehr und mehr mit
298
drüdender Schwere belaftet. Er Konnte feines 5
Vaters nicht gedenfen, der Stunde nicht gebenten, ſ
in welcher er und Helene den Segen des Baron?
für ihren Lebensweg empfangen, ohne mit brew
nender Reue zu empfinden, daß auch er das Ge
(öbniß nicht gehalten habe, dad er in des Baterd
Hand gefchworen hatte, Er fühlte fidy ſchuldig gegen
ihn, fchuldig gegen Regine, gegen feine eigene
Zufunft, aber mit dem Naturbebürfnig der Selbſt⸗
befreiung ftrebte er, die Schuld von fich zu wäl
zen — und er fand dazu Regine gegenüber leid»
tes Spiel. |
Hatte er fonft in glüdlichen Zeiten ihr ſcher⸗ Ä
zend vorgehalten, daß fie ihm ihre Liebe unge
fuht gewährt, daß fie fie ihm faft wie eine
Nothwendigfeit aufgebrungen habe, fo war er als
maͤhlich dahin gekommen, ihr ernſtlich einen Vor
wurf daraus zu machen, oder mindeſtens ihre
Unertahrenheit und feine Leidenfchaft in Stunden
des Mißmuths als eim ſchweres Unglüd für fie
Beide zu beflagen. Ein Mißmuth aber, dem wir
Kaum geftatten, kehrt oftmald wieder, wädhft
raſch empor, fcrlägt ungerftörbar Wurzel in unferm
BEE... BE
n, und wo man fich gewöhnt, ſich unglüd-
ı glauben, da wendet dad Glüd fich unwie⸗
iglich von den Herzen ab.
iefer Zuftand feiner Seele konnte dem Auge
glichen Freundſchaft nicht entgehen. Frau von
dd, viel zu erfahren, um jemals einen Ders
jegen Erich's Verhältnig zu Regine zu mas
hatte nie aufgehört, ed mit Kummer zu
ten, nie die Hoffnung aufgegeben, er felber
einer Verbindung überbrüffig werden, bie
telfah im Wege ftand, und ihm nach ihrer
ang Nichte, ald die Befriedigung einer finn-
Leidenfchaft zu bieten hatte. Die Frauen,
ſich Die gebildeten nennen, vergeffen aber nur
ht, daß Bildung des Herzens, klarer Ver⸗
Reinheit und Größe der Empfindung, nicht
Frbgut einer Kafte find, daß fie nicht in den
en, nicht in den Bamilien gelehrt zu werden
yen, und daß fie in dem. Weibe ınehr werth
onnen, ald das ſchulgerechte Willen, als
ormen und Traditionen auch der forglichiten
Jung.
tit feinem Tacte fühlte Frau von Werbe, daß
300
Eric) ſich von der eigenen Wohnung zu entfernen, daß
er die lang gemiebene Geſellſchaft feiner früheren Um
gangdgenofien aufzufuchen wuͤnſche, daß er fid
ihnen aber fremd geworben glaubte, Und ohne je
ein Wort des Rathes oder des Beiftandes für ihn
audzufprechen, wußte fie ihm zu Huͤlfe zu kommen.
Der Menſch, als ein Theil der foge
nannten Geſellſchaft, ift ein Product, das fih
felbft zu Markte bringt, Er hat feinen Preis
wie alle anderen Dinge, feinen fteigenden und fal
lenden Werth. Was wir viel verlangt fehn,
wird und begehrenswerth. Und kaum fah man
dad alte Verhaͤltniß engften Verkehres zwifchen
der allgemein verehrten Frau und ihrem jungen
Freunde ſich herſtellen, als ale feine frühes
ren Verbindungen ſich ſchnell wieder anknuͤpf⸗
ten. Schon nach wenigen Wochen hatte Erich
das aufgegebene und halb verlorene Terrain zu
rückerobert, ſah er ſich wieder als den Günft
ling der Mütter, als den geſuchteſten Verehrer
ihrer Töchter.
Eine neue LXebendluft, wie nady einer Krank⸗
heit, welche den Gebrauch unferer Fähigkeiten
301
war damit über ihn gefommen, Es war
18 finde er ſich nad bangem fchwerem
wieder, Niemals war er beiterer, liebens⸗
e geweien, ald in biefem Augenblide,
e Freude an feiner Wohlgeftalt, Freude
er gefelligen Gewandtheit, an feiner Bil
an feinem Wiffen und eine faft übermüs
iſt in dem Gefühle, alle Vorzüge feiner
und feiner Stellung wieber ungejchmälert
machen zu können, obfchon er es fo lange
en hatte, fie zu benugen. Denn aufgeben
ſich müffen um Reginen's Willen, aufges
ste er fich nach feiner Meinung neben ihr,
uf es ihm, daß er ihren Geift gebilbet,
If es, daß fie fi) mit dem ganzen Ernite
tur bemüht hatte, ſich Kenntniffe zu erwerben,
zu verftehen, ihm zu genügen? Ihre dank⸗
ebe, ihre tiefe ftile Verehrung für ihn,
ym nicht den Reiz immer neu befriedigens
Ifeit, und er hatte fich gewöhnt ihn zu
» Der Beifall der Geſellſchaft war ber
deſſen er bedurfte, wollte er willen, was
wollte er fich feiner Vorzüge erfreuen.
302
Seine Erfolge hatten ihn für einige Zeit and
in Reginen’d Nähe heiterer gemacht. Er hal J
Luft daran gehabt, fie ihr zu fchildern. Ihe
bemüthige Freude, daß fie ihn, den Bielbegehrten,
doch allein befige, war ihm wohlthuend geweim. f
Mehr und mehr aber war ihm bie Geſellſchaft
wieder unentbehrlich, die Einſamkeit mit ver Ge⸗ |
liebten ermübdend geworben, und fchon feit vielen f;
Wochen hatte er feinen Abend mehr bei ihr verlebl.
Anfangd hatte fie ſich darüber fanft beklagt,
dann war ihr Stolz erwacht und fie hatte fih
gelobt zu ſchweigen. Indeß der Stolz hält nicht
Stand vor den Dualen der Eiferfucht, weil fit |
das Seldftgefühl vernichtet, in dem er wurzelt.
Die täglichen Beſuche bei Frau von MWerbed,
das Lob, welches Erich ihrer Tochter fonft ge
fpendet, und das er jet nicht vor Regine auszu⸗
fprechen wagte, hatten ihren Argwohn rege ger
macht. Ihre Einfamfeit hatte ihr Zeit ge
lafien ihn zu nähren, und die Heiterfeit ober
ber Mißmuth, mit denen Erich fpät in feine
Wohnung zu ihr heimzufehren pflegte, waren für fie
gleich entmuthigend und unheilverfündigend geweſen.
—
11
303
verzagtes Schweigen, ihre leidenfchaftlis
‚gen wurden ihm zur Dual, Er ſcheute
ihre allein zu fein, und bie Ruhe, bie
Anterhaltung, deren er im Haufe feiner
ı fiher war, machten ihm baffelbe nur
rther. Auch an diefem Abende hatte er
n Meg in’d Freie eingefchlagen, ald er
hritte bald wieder nad dem Thore zurüd
a8 hin zu Frau von Werbe führte,
timmt ging er durch die menfchenbelebten
. Reginen’d und Sidoniens Bilder dräng«
ihm wechſelnd vor die Seele. Er Flagte
die Liebe der Erftern nicht genug zu
ı und zu fchonen, er tabelte fih, die
wachjende Neigung der Letztern zu naͤh⸗
ber das erfte Unrecht begann ihn allmäh-
ter zu dünken ald das zweite,
or, der ich war!” fagte er fih, „an bie
jung einer Leidenfchaft ein Stück meines
meinen Ruf zu feßen! Thor, der ich war,
zu mir zu nehmen! mir ein idealed 2008
bereiten zu wollen! Mein falfcher Ideas
meine blinde Hingebung find von jeher
304
mein Verderben geweſen. Was hatte ein Maͤd⸗
hen wie Regine von mir zu fordern? Wels
her Zufall war es, ber mich in der Jugend zu
ihr führte, welch ein Leichtſinn, der fie mir ſpaͤter
in die Arme warf, ohne daß ich es gefucht hatte?
Es waren zweideutige Berhältniffe, in denen id
fie beide Male fand.“
Obſchon er allein war, fühlte er die Roͤthe
der Scham auf feinen Wangen brennen, ald er
fi) mit folchen Waffen gegen die Unglüdliche ge
wendet hatte.
„Sie wird mich noch zur Selbftverachtung
bringen!” rief er aus, „fie wird mich und fih
verderben, bad unglüdfelige Weib!“
| Er hatte während deſſen das Haus der Frau
von Werbed erreicht, und zog mechanifch bie Gle
de. Ihr heller Schall fchredte ihn empor. Er
fuhr mit der Hand über feine Stimme, athmele
tief auf, ald wolle er fich befreien, und ließ ſich
melden.
—
Vierzehntes Kapitel,
Die Mutter war audgegangen und Eidonie
n in dem Zimmer, befien belle und doch
te Beleuchtung, deffen ganze Einrichtung, fo
au er fie Fannte, ihm heute einen befonderd
thuenden Eindrufd machten. Mutter und
hter befaßen Beide jenen gebildeten Geſchmack,
den unnügen Modefram zurüdweilt, fih an
Einfache zu halten, das in feiner Schönheit
Rüslichkeit die Gewißheit befigt, immer ans
ehm und zwedmäßig zu bleiben. Die Möbel,
he feit der Heirath der Frau von Werded
t gewechfelt worden waren, bie alten engli-
n Kupferftiche, die ererbten großen otspout—⸗
Vandlungen. II.
306
ris, die man alljährlidy mit benfelben Ingredien⸗
zien füllte, die zahlreichen Dels und Miniatur
Gemälde an den Wänden und auf den Tiichen,
mit denen die ganze Familie portraitirt war, gaben
der Einrichtung einen Stempel ruhigen Beſtehend,
friedlichen Waltens. |
Eidonie ftand vom Schreibtifche auf, den Gaft zu
begrüßen, und räumte, während fie mit ihm ſprach,
einige Bapiere und Fleine Bücher zufammen, „Ich
bin Mama's Eaffirer,* fagte fie, „und habe Rede
nungsabſchluß gemacht für diefen Monat. Wob
len Sie mir no fünf Minuten Zeit laffen, fe
bin ich fertig und brauche nicht noch einmal bem-
anzugehen.“
Es lag etwas haͤuslich Behagliches in der Ev
ſcheinung ded Mädchens, wie es in dem fchlichten
Taffetkleide, die Fleine gleichfarbige Schürze u
die Taille geſchlungen, rechnend und ordnend dis
faß, während Alles um fie ber Gefchmad und ſau⸗
bere Schönheit athmete. Und die Sorglichkeit, mi
der fie dazwifchen fi) ab und zu mit ihrem Ga
‚zu bejchäftigen wußte, ihın dad Warten zu verkürzen,
machte, daß fie ihm doppelt angenehm erfchien.
307
ALS fie geendet hatte, die Geldfchälchen und
Bücher verfchloß und ihn bat, die Säumniß zu
entichuldigen, fagte Erih: „Hier in diefem Zim-
mer fönnte ich viele Stunden warten, ohne mid)
zu beflagen. Es ift eined der wenigen, die für
mich zu einem lieben, feftftehenden Begriffe gewor⸗
ben find. So wie ed heute ift, fo habe ich «8
fennen lernen, als ich, ein vierzehnjähriger Knabe,
zum erften Dale mit meinen Eltern in die Reſidenz
fam. Diefe Scenen aus Hamlet, dieſer Romeo
an Yuliend Sarge, diefe Miftreß Siddons, haben
fih mir damals fo feft eingeprägt, daß ich die
Perfonen der Shafeipear’jchen Dichtungen fpäter
immer nur in biefer ©eftalt zu fehen vermochte,
und fo oft.ich feitvem nad) Berlin gekommen bin,
ift es mir ſtets etwas hoͤchſt Wohlthuendes ges
weien, bier Nicht von allen den Gegenftänden
zu vermiflen, die mir vertraut geworden waren,”
„Sch verftehe das vollfommen,“ entgegnete'
Eidonie, „und habe ſchon von vielen unferer
Freunde ähnliche Aeußerungen darüber gehört.
Auch kann ich mir gar nicht denken, wie ich ohne
oder außer diefer Umgebung dauernd leben ſollte!“
20*
_ 308
Sie fuhr bei diefer Bemerkung ruhig fort an
einer Stiderei zu arbeiten, bie fie zur Hand gP
nommen hatte, aber Erich fühlte fich von ihren
Morten betroffen,
„Denkt denn Ihre Mutter daran, dieſe Wok
nung zu verlafien?” fragte er.
„Wie kommen Sie darauf, lieber Erich?"
„Weil Sie es fagen!“
„DO, bewahre! diefe Wohnung ift ja hiſto⸗
rifh mit Mama verwachſen!“ rief Sibonit.
„Mich daucht, nur eine fürmlicdhe Weltummälzung
fönnte fie aus derfelben vertreiben. Denn Sie willen
ed ja, Mama und ich find höchſt confervativ!“
„Und bin ich es denn nicht?“ fragte Erich.
„Sagt Ihnen meine Vorliebe für diefes Zimmer
nicht, wie theuer und ehrwürdig das Dauernde
mir it? — Es liegt auch etwas Bannendes, ein
wunderbar poetifcher Zauber in alleın naturwuͤch⸗
fig Gewordenen. So oft ich in einen jener Säle
getreten bin, in denen PVeränderungsluft und
Prunkſucht aljährig dad Neuefte und Koftbarfte
vereinen, in denen Alle, vom Kronleuchter bis
zum Teppich, nach dem eben herrfchenden Mode
N
309
von einem “Decorateur zufammengeftellt ift,
nidy ein Unbehagen überfallen, wie man es
nem Eifenbahnhofe, in einem Hotel empfin-
Die ganze LXeerheit, dad Nomabdenhafte,
hrene, des jegigen Lebens traten mir dann
ie Seele. Ich habe mich gewundert, wenn man
auch die alten Bamilienportraits befeitigt hatte,
fie nicht nad) der Mode angezogen waren.
smal habe ich aus folcher Umgebung an
3 Zimmer zurüd denken müflen, und mid)
ut, daß bier Alles fo unverändert ift, baß hier
Ihr lockiges Kindergefiht von den Waͤn⸗
wie damals herab fieht, daß felbit nody daß
schränfchen mit Ihren Wachspuppen in der
ſteht!“
Sr hatte mit großer Wärme geſprochen, Si⸗
: ihm mit ftiller Freude zugehoͤrt. „Und doch
Ihre Wohnung im neueften Gefchmad einge,
t fein!” fuhr fie nun plöglic heraus,
‚Wer fagt Ihnen das?" fragte er fchnell,
‚Mein Mäpdchen, das Ahnen heute die Bücher
Mama zurüdgebraht hat!“ antwortete fie,
Beide errötheten wor einander,
Li
{
310
Der Gedanke, daß jene Dienerin Regine ge-
fehen, daß fie fowohl von ihr als von der Woh—
nung dem Fräulein gefprochen haben koͤnne, drängte
ſich Erich quälend auf. Ein Gefühl zormiger
Befangenheit Fam über ihn. Er hätte Sidonie
um Vergebung bitten, und fie doch tadeln mögen,
daß fte den Berichten einer Kammerjungfer iht
Ohr geliehen hatte. Aber das fühlte er immer Elarer,
ihr Mißfallen war ihm ſchmerzlich, ihre Zuſtim⸗
mung ein Genuß, um ihrer Einfachheit und Wahrs
beit willen. Se beutlicher er fich deſſen bewußt
ward, um fo fchmerer fiel es ihm auf's Herz, daß
Sidonie davon gefprochen, wie hart ed ihr fein
würde, bie ihr theuere Umgebung entbehren zu
muͤſſen. Sie konnte das nicht abfichtslos ger
fagt haben. Es mußte fid) um eine Bewerbung
handeln, der zu folgen ‚fie geneigt war, weil fie
ihm mißtraute. Diefe Möglichkeit verftimmte ihn.
Er ward zerftreut und ſchweigſam, und feine Ge:
brüdtheit hatte fich auch Sidonien mitgetheilt, ald
bald darauf die Mutter mit ihrem Bruder, einem
penfionirten Generale, aus einer Borlefung nad)
Haufe Fam,
8
311
ebder die Mittheilungen der Einen, noch die
idelbare Heiterfeit und Derbheit ded Ans
zogen Erich von jeinem Grübeln ab, Er
e die Vorſtellung von ber wahrfcheinlichen
‚heirathung Sidoniend nicht los werden, die
ipfindung nicht unterbrüden, daß er in biefem
jdchen eine ihm zufagende Lebendgefährtin durch
ve eigene Schuld verlieren werde, Vergebens
ang er fid) zur Unterhaltung, er war und
eb auffallend zerftreut, fo daß, Sidonie ihn
lich fragte, woran er denfe?
„An die grilfenhaften Wege unfered Lebens,
f denen wir und von dem Guten entfernen,
lches das Schickſal uns beftimmt zu Haben jcheint! ”
Das Fräulein fah ihn betroffen an. „Wie
nmen Sie darauf? Davon war ja nicht bie
ede!“ meinte fie.
„DO!“ rief Erich, „rechten Sie nicht mit mir,
ihelten Sie mich nicht zerftreut. Wüßten Sie,
was mic befchäftigt, Sie würden Nachſicht mit
nir haben.“ |
„Nachſicht?“ wiederholte fie theilnehmend und
zleichſam Erklärung fordernd,
‘ 312
Er antwortete nicht darauf. „Die Frauen
find beneidenswerth,* rief er, „weil ihr befchränfs |
tered 2008 fie meift vor Irrthum und Conflicn
behütet.”
Aber diefer unmwillfürliche Ausruf hatte mehr
verrathen, als er felbft gewollt. Indeſſen er de
reuete es nicht, objchon er fich des Vortheils, den
er dadurch über Sidonie gewonnen hatte, in die
ſem Augenblide nicht bewußt war.
Sidonie jedoch fühlte fich plöglich in einem
ganz veränderten Berhältniffe zu dem Freunde
ihrer Mutter, zu dem Gefährten ihres täglichen
Lebend. Sie war feine Vertraute geworden, ff
hatte ihr fein Geheimniß enthüllt, fein Leid ver
tathen, ihre Theilnahme begehrt, Wortloß reichte
fie ihm die Hand, er hielt fie in der feinen und
ließ fie dann mit fohnelem Drude los. Als e
fie .anblidte, fchien es ihm, als füllten ſich ihr
Augen mit Thränen, indeß fie wendete fich fchnell
vorn ihm ab, und vermied ihn den Reſt de
Abende mit einer ihr ganz fremden Scheu,
Das vermehrte feine Befangenheit. Auch Sidonie
Ward einfilbig und fehweigfam, und früher als es
313
eichah, brachen Erich und der General an
Abend auf.
8 fich die ‚beiden Männer auf der Straße
en, nahm der General ven Arm feines juns
jegleiters, ftüßte ſich vertraufih auf ihn
‚agte: „Was haben Sie denn heute mit dem
hen gehabt? Sie fcheinen ja Beide ganz
dem Haͤuſel.“
„Ich trug allein die Schuld davon!” antwor⸗
Jener. „Ich war verſtimmt zu Frau von
deck gekommen, und ſelbſt Sidoniens immer
he Liebenswuͤrdigkeit vermochte den Dämon
: zu bannen, der mich plagte!”
‚Dämon |!" wiederholte der General, und fügte
t lachend Hinzu: „die Welt ift jetzt fo gebildet
den, daß fie fich eine ganz neue Sprache
ıden hat. Ich ſehe aber nicht, daß fie weſent⸗
dadurdy gewinnt! *
‚Was meinen Sie damit?” fragte Erich bes
bet,
‚sh meine — — benn einmal muß es
grade heraus gejagt werden, und wer foll es
en jagen, wenn nicht ein alter Freund Ihres
a
314
Vaters, der Sie von Kindesbeinen an gekannt
hat — ich meine, Sie müſſen machen, daß Sie
aus der Affaire heraus kommen!“
Erich fuhr zuſammen. „Herr General!“ rief
er, „was berechtigt Sie — — *
Der General ließ - ihn nicht zu Worte Toms
men. Er drüdte Erich's Arm an fi und fagte:
„Rur feine Uebereilung, Erich! Ich meine es gut
mit Ihnen, und es ift ja auch die einfachfte Ge⸗
fchichte von der Welt. Wer hat denn nicht ein
Mal einen ähnlichen Handel gehabt? In meiner
Jugend beim Regiment Gensd'armes - find andere
Dinge vorgegangen! Wer alt werden will, mein
lieber Junge! der muß jung, und um Flug zu
werden, muß man ein Thor gewefen fein!“
Sp beftürzt und verlegt Erich ſich bei den er:
ftien Worten des Generald gefühlt hatte, that es
ihm im Grunde dennoch wohl, dad Eis gebrochen
und endlich einmal eine Unterredung über dies
BVerhältniß angefnüpft zu fehen. Und wie ein zag-
bafter Schwimmer zulegt aus Scheu vor dem er:
ften Schritte fih mit zugebrüdten Augen kopf—
über in das Wafler ftürzt, fo fragte Eric:
315
ıben Sie, daß Ihre Nichte um dieſes Ver⸗
B weiß?“
Sidonie ift ein und zwanzig Jahre und
:auenzimmer, lieber Erich!“ antwortete ber
al, „und Sie haben nicht hinter dein Berge
en mit Ihrer Liaifon. Das Mädchen war
unfihtbar an Ihrer Seite, weder im Thea⸗
yh im Magen!“
sch "brauchte meine Freiheit!“ fagte Erich,
H wieder gegen den Tadel auffahrend.
azu hatten Sie ein Recht, ein volled Recht,
Freund! Aber fo ift. Die Jugend jest, fo
e Zeit!" rief der General. „Das kommt
uren verdammten Ideen. Da ſchwatzt Ihr
' 108 von Emancipation, von freier Xiebe,
uch einmal ein bübfches Geſicht in ben
läuft, und Ihr flatt ſolchen Handel abzus
7, wie ed fich gebührt, gefühlvol an bie
Glocke fchlagt und die Sache au grand
x nehmt. Zu meiner Zeit fand man ein
3 Meib auch fchön, aber man machte ſich
langen Roman und Fein heroifches Bewußt⸗
araus!“
316
„Wer thut das?" fragte Erich.
„Ihr Alle, und Sie vor Allen!“ meinte
der General. „Was iſt's im Grunde für ein
Heroisnus, ein Mädchen zu unterhalten? Dazu
braucht man die neuen Lehren nicht, das Fonnten
wir auch, und wir wußten ein Ende zu machen,
wenn’d Zeit dazu war. Das iſt oft die größte
Tugend.
„Eine Tugend?“ wiederholte Erich. „Nennen
Sie es eine Kunft — oder auch eine Herzend
bärte, die mir fehlt!“
„Was da Herzenshärtel Man muß die Sadıe
nur recht anfangen! Wenn man einen Bogel ein-
mal doch nicht dauernd behalten fann, muß man
ihn fliegen lafien in der Sommerzeit. Was fol
aus folhem Mädchen werden? — Gebt ift fie nod)
hübſch und jung, ftatten Sie fie aus, fehen Sie,
daß fie einen honetten Mann befommt, dann find
Sie quitt vor Gott und vor der Welt, und dann
nehmen Sie fih eine Frau, Es wäre Ihrem
Vater wohl zu gönnen, daß Sie wenigftend end
lich eine vernünftige Heirath machten, nad) den Fata⸗
litäten mit Ihrem Bruder und mit Ihrer Schwefter!“
317
Erich war in allen feinen Empfindungen vers
undet, und fühlte fich doch waffenlo8 gegen dem
agriff. Daß man die Bamilienverhältniffe feis
8 Vaterhauſes beklagenswerth, daß man fie
ner ehrenhaften Neuerung bebürftig fand, ers
iff und ſchmerzte ihn tiefe. Es überlief ihn Kalt
i dem Gedanken, daß ein Mann zu ihm in
(cher Weife von Regine ſprechen, daß Jemand
: fi) als den Beſitz, als das Weib eined Ans
m denken, ihm zumuthen fönne, Regine dem
ften Beften in die Arme zu werfen, der niebrig
mug bädhte, für Geld ihre Schande mit feinem
amen zu bebeden. Seine Eiferfucht, fein Ehrges.
bi flammten auf, feine Liebe entzündete fich daran.
„Wir verftehen einander nicht, Herr Gene
1! fagte er ſtolz und kalt. „Ich will gern
auben, daß man foldye Verhältniffe beim Regi⸗
ent Gensd'armen fehr leicht abzubredyen wußte,
) aber werde ein Mädchen, das ich liebe, nicht
if entehrende Weife von mir ftoßen.“
„Sie lieben fiel” rief der Baron nicht ohne
Pott, „ja dann iſt's etwad Anders! Wer vers
ngt dad au, wenn Sie fie lieben? — Nur,”
fügte er nach einer kleinen Pauſe plößlich in ganz
verändertem Tone hinzu, „nur geben Sie dann
das liebe, treffliche Kind, die Sidonie, auf. Meine
Schweſter hat ed nicht um Sie verdient, Heidens
brud, daß Sie ihr dad LKebendglüd ber einzigen
Tochter untergraben. — Das wollte ich Ihnen
zu bedenken geben, Heidenbruf! und nun gute
Nacht! Gute Nacht! Hier find wir ja nahe an
Ihrer Wohnung!” damit reichte er ihm bie Hand
und trennte ſich von Erich, der vor der Gerech⸗
tigfeit ded Tadels fich verfiummen fühlte,
Sidonie unglucklich! unglüdlich gemacht durch
mich!” wiederholte er gedankenvoll. „Alfo Liebt fie
mich, alfo wünfcht die Mutter unfere Ehe! und wie
würde mein Vater grade dieſer Heirath fich erfreuen?
Er dachte ſich Sidonie zum erften Male als
fein Weib, als feine Hausfrau. Der ganze Zaus
ber des eigenen Bamilienlebend tauchte vor ihm
auf. Er mußte fidy vorftellen, wie edel ihre Ge⸗
ftalt, wie würbdevol ihr Weſen, wie fte recht
eigentlich gefchaffen fei, die Ruhe, den Frieden
eined Haufed zu begründen, und voll von biejen
Bildern langte er in feiner Wohnung an:
319
ı faß Regine! — Sie fuhr zufammen, ale
tat, und erbleichte.
Bas ift geichehen?” rief fie und fprang er-
n auf.
Heſchehen?“ wiederholte er, „wie kommſt Du
Frage?“
Du kommſt fo früh!“ ſagte fie noch immer
oll.
rich ſchauerte zuſammen, ein unausſprechli⸗
Mitleid erfaßte ihn. Kein Vorwurf, keine
aus Reginens Munde hatten ihn je ſo
ewegt. Er hatte an ſeine Zukunft, an Si⸗
18 Gluͤck gedacht; aber fie auch, Regine auch,
eine Zukunft von ihm zu fordern.
r hatte ihre Hände gefaßt und ſtand ſprach⸗
or ihr. Die Schönheit und die Wahrheit
Wefens ergriffen ihm mit ihrer alten Kraft.
Weib, das ihn geliebt, an ihn geglaubt,
ihn gehofft feit den Tagen der Kindheit,
bürgerliche Ehrlofigfeit er, er allein verfchuls
das Niemand hatte auf der weiten Welt als
Hein, das Weib follte er verftoßen?
Nimmermehr!“ rief er aus, und zog fie mit
320
Leidenichaft in feine Arme, aber Regine wehrt
ihn mit fanfter Bewegung von ſich ab.
„Regine!* fragte er, „wad bedeutet dad?“
„Laß mich, laß mich! ich flehe Dich darum,"
antwortete fie ihm mit einem Ausdruck der Angf
und Trauer, den er fich nicht zu deuten wußte
„Laß mich, Erich! *
„Und das grade jest, in biefer Stundet“ rief
er, „iest, da ich meine Zukunft von mir fchlew
derte, um — —“
„Sprich nicht! um Gottes Willen fprich nicht
weiter!“ fiel fie ihm heftig in das Wort. „Du
würbeft e8 bereuen, wie Du bie Bergangenbeit
bereuft! — Und ich bin elend genug, auch ohne
diefe Schmach!“
Erich erftarrte vor ihren Worten, mehr nod
vor dem büftern Ausdruck ihrer Etimme, ihre
Züge Maͤchtig und traurig wie fie vor ihm
fand, fchien fie ihm fremd geworben, und bod)
liebte er fie in diefem Augenblicke wahrhaft. Die
Berachtung, mit welcher der General von ihr ge
ſprochen, hatte fie ihm ‚heilig werden laffen. Er
hätte fie befchüßen, fie behüten mögen, aber es
321
i, als habe er die Macht dazu verloren,
fte fie feines Schutzes jegt nicht mehr.
d wir denn nicht biefelben?“ fragte er
en. „Was iſt geichehen Regina! feit ich
ging? was hält Did) befangen?“
hob fie ihre Arme mit langfamer Bewe⸗
wor, preßte ihre Hände gegen die Stirne,
e tonlos: „Die Selbftveracdhtung, die Du
te aufgeladen! “
tt im Himmel!“ rief er und riß fie an fein
; mich, * wiederholte fie, „auch Dir bin
log!“
gelähmt ſanken feine Arme herab, und
verließ dad Zimmer.
Hungen. II. 21
Fünfzehntes Kapitel,
Georg's legte Tage im Vaterhauſe waren di
fhönften geweien, welche er und der Baron m
einander verlebten. Der Gedanke, fih nun für lanı
von dem Bater zu trennen, hatte Georg mit d
Stunden und Minuten geizen laffen, die er nt
in feiner Nähe zu verweilen hatte; das Bewu
fein, jegt frei und felbftftändig zu werben, hatte if
die Unterordnung leicht, ja füß gemacht. U
ein Knabe war der Mann dem Bater überall €
folgt, jeder Dienft, den er ihm erzeigen konn
war ihm mehr noch als je zu einer Luſt gemworbe
und mochte der Baron innerlich den Lebensw
noch immer einen unangemeffenen fchelten, d
323
nant zu gehen befchloffen hatte, er Eonnte
iger nicht verbergen, daß Georg für die
des Soldatendienftes nicht gefchaffen
i.
Rorforge, mit welcher er ſelbſt dem
npfehlungen an bie erften Handeldhäus
ädte zu verfchaffen beflifien war, in bes
ıf feiner Reife längere Zeit verweilen
Schonung, mit der er jegt, da ber Ent-
st, fich jedes Tadels, jedes Bedauerns
Iben enthielt, erregten Georg's Dankbar⸗
einer Stunde vertraulicher Unterhals
: er mit Rührung dem Vater befannt,
Kummer ed ihm von feiner Kindheit
ı fei, feine Zufriedenheit nicht erlangen zu
ine Liebe nicht verftanden, feine Natur⸗
icht. von dem Vater beachtet zu fehen.
nner hatten ein Gefühl der PVerfchuls
n einander gehabt, Beide den Wunſch
jergüten, und wie die Sonne im Herbfte
tam erquidendften über die Erde breitet,
warm verfchönte dies fpäte Verftehen mit
: das leßte Beifammenfein der Beiden,
21*
324
Am Abende vor der Abreife befanden fid
Augufte und Georg noch allein in dem Zimmer
Mit beobachtendem Auge fah der Letztere fich lang
in den Räumen um, feine Blicke bafteten an ba
einzelnen Gegenftänden, und jchienen bei jeden
berfelben lange zu verweilen.
Augufte bemerkte ed. „Was denkſt Du? obe
was ſuchſt Du?“ fragte fie ihn,
„Was ich fuche? was id) denfe? Ich dent
mir den morgenden Tag und fuche mich in bie
fen Räumen! *
„Morgen? morgen wirft Du ja fort fein!
antwortete fie feufzend.
„Eben darum! Ich Fann mir nicht vorftellen
wie ed morgen hier fein wird ohne mich. Unſe
ganzed Weſen ift fo auf unfer Dafein in der Ge
genwart geftellt, daß wir und kaum eine Zufunl
ohne bafjelbe zu denfen vermögen — und ich wa
body Jahre lang von hier entfernt." — Er ſchwie
eine Weile, dann fagte er: „Damals lebte abı
die Mutter noch, Helene, Erih, Richard ware
im Haufe. Und nad ihrer Hochzeit gehen Go
nelie und Pleſſen nun auch davon!“
325
wird fehr einfam werden, wenn Du fort
agte Augufte.
br einfam!“ wiederholte er. „Ich darf es
ſt denken, wenn id auf den Water blide,
h bleiben koͤnnen, wie gern wäre ich ges
* fagte er im Bewußtfein deſſen, was er
ı Vater fein könnte.
e Augufte, ftetS eben fo bereit fich felbft
‚en, als Georg zu rechtfertigen, wenn ihr
and fih über feine Kälte nicht zu täufchen
ochte, bezog die Worte nur auf ſich und auf
Schmerz des Vetters, fih von ihr zu tren-
Sie war gewaltthätig wie alle Frauen, bie
Liebe ald ein Recht empfinden, welches dem
bten Gegenftande Pflichten auferlegt, und bie
niemald fragen, ob er ihr Recht und feine
hten anerkenne? Sie hatte e8 Georg ald männs
Feſtigkeit, ald Schonung gegen fie gedeutet,
er feiner Reife, ihrer Trennung niemald ges
fie gedachte, und gefchwiegen fo wie er. Sept
da er klagte, ſchwoll ihr Herz hoch auf vor
de und vor Leid, und mit plößlicher Bewe⸗
‚tief fie: „Ob ich das weiß, Georg? ob ich.
326
die Schmerzen dieſes Tages mit Dir theile? Aber
fei unbeforgt, fo wie wir heute fcheiden, finden
wir und wieder!“
Eie hielt ihm die Hand hin, er fehlug ein.
„Jal“ fagte er, „Du wirft bier bleiben! ich zähle
feft auf Dich! *
„Bei Gott! dad kannſt Du auch! Sei
Du nur treu!” rief Augufte und trodnete die
Augen.
Die Worte befchwerten fein Gewiffen. Eı
hatte fich feit Monaten in ernſter Ferne von ih
gehalten, und jene Liebeständeleien ſtreng vermieten,
bie fich erlaubt zu haben, er bereute, Er hatte ge
hofft, Augufte folle vergeflen, ſich zurechtgefunden
haben. Sept ward er feines Irrthums, feines Un
rechts inne. Er ſah, daß Augufte, die nahe an
ihn herantrat und ihre Hand ihn auf die Schul.
ter legte, feine Umarmung erwartete, aber er wollte
feine Liebe heucheln, die er nicht empfand.
„Liebe Augufte,” fagte er bewegt, „Du hafl
mir Vieles zu verzeihen, ich fühle mich ſchuldig
gegen Dich. DVergieb mir und vergig — — —“
Sie ließ ihn aber nicht zu Ende fprechen.
337
ef fie, „wie kannſt Du mir fo reden?
tte ih Dir zu vergeben, wie follte ich
ih, Georg! vergefien? Und wenn lange
nd ferne Welten fich zwiſchen und legen,
: Dein. Ic bin fehr treu, *
tand ihr verlegen gegenüber, denn er hatte
Muth, fie grade in diefer Stunde zu ent»
und wußte doch nicht, was beginnen?
der Diener ein, die ©eräthe fortzuneh-
? Lampen audzulöfchen. Als er die Bei-
im Zimmer ſah, wollte er ſich entfers
er Georg zog die Uhr Heraus.
ift wohl Zeit!“ fagte er, Auguſte übers
It dabei. Er fah es, ed that ihm weh, und
te fich vor ſich felber.
ift zwölf Uhr, Herr Lieutenant!” ſagte
ter, „und die Poſt fährt früh um ſechs!“
will ich gehen!“ rief Georg, „Du wirft
de fein, Auguſte!“
[* antwortete fie, verfchloß den Thee, den
ı den Schränfchen, und räumte verfchies
icher und Kleinigfeiten zufammen, bie
ftreut im Zimmer lagen. Es war eine
328
yeinlide Scene, He ichnürte ihm die Kehle 4
unt einem ummiterfieblichen Zuge folgend, tal
er u Anguiten bin, faßte fie um, füßte fie und
ĩagte ihr: „Schlaf wohl, ſchlaf wohl! Du bi
wuteatmal beiter als ich!“
zu neuen Hoffnungen ermutbigt, ſchlief M
unter füßen Thränen ein, während Georg vol
Zeorwürfen gemartert, vergebens den Schlumm
und mit ibm Bergefienheit erwartete.
Sehzehntes Kapitel,
nenn
riedrich hatte verfprochen den Scheidenven
u der erften Station zu begleiten, bis zu
er der Wagen feined Vaters ihn bringen follte,
er fchönften Sommerfrühe brachen fie auf.
Sonne funfelte ihnen entgegen, als fie das
verließen und in's Freie blickten, aber ihre
n waren beflommen und fie fprachen wenig.
fie dann bie Fleine Schenfe erreichten, in ber
h zuerft gefehen hatten, erinnerte Georg den
d an ihr damaliged Begegnen.
sh habe mich felbft ſchon daran mit einer
'hümlichen Empfindung erinnert;” antwortete
Friedrich. „Es war einer der bitterften Tage
330
meines Lebens! Die Zeit iſt vorüber gegangen,
der wilde Schmerz, welcher mich damals bewegte,
bat ſich in Trauer aufgeloͤſt. Ich bin ruhig ge
worden, indeß eine rechte Freude habe ich nie wies
ber gekannt.“
Georg ſprach ihm feine Verwunderung bar
über aus, und fragte bann plöglid: „Sage
mir offen, liebft Du Helene denn noch immer,
obihon fie Dir feit fo langen Jahren verloren
iſt?“
Friedrich ſchwieg eine Weile, dann ſprach er:
„Ja! ich liebe fie noh! — Das mag Dir fon
berbar fcheinen, und doch ift es fo. Ich müßte
ja ein Thor fein, hegte ich noch Wünfche und
Hoffnungen in Bezug auf fie! das ift Alles längft
begraben, aber — —“
„Aber?“ fragte der Andere,
„Sie ift für mich fo unvergleichlich, fie fteht
fo einzig in meiner Erinnerung da, daß ich, fo
oft ich an Liebe, an Ehe denfe, immer an Helene
denfen muß, und daß Fein anderes Weib mir
jemald einen lebhaften Eindrud zu machen vers
mocht hat!“
331
Und Du baft alfo nicht vor, Di einmal
erheirathen ?“
zriedrich ſah ernfthaft vor fih hin. „Daran
ich fogar oft gedacht und befonders jeit in
der Plan feftfteht, auf's Land zu gehen.
ß ich müßte mir wirfli eine Frau juchen,
man eine Magd auswählt. Bon allen Mäd-
bie ich Eenne, zieht mid) Feines an, Sie
eben Alle nicht Helene!”
sn dieſem Augenblide hatten fie einen Zug
er Handwerfögefellen überholt, bie fingend
ı Yortwandernden das ©eleite gaben.
56 war ein Fräftiger fchlanfer Gefell, und fo
ter er auch in das Wanderlied mit einftimmte,
innte man ihm doch an den Augen anjehen,
er geweint hatte.
Werft Euren Ranzen in den Wagen!” rief
g ihm zu, nachdem er dem Kutfcher zu halten
len; „bis zur nächften Station kann id) ihn
mir nehmen!”
Solched Vorſchlages ungewohnt, ftugten die Ges
‚und der Wanderer fchien nicht zu wiſſen, was
8 der Sache machen follte. Georg merkte Das,
320
Leidenfchaft in feine Arme, aber Regine wehrte
ihn mit fanfter Bewegung von ſich ab,
„Regine!“ fragte er, „was bebeutet das?"
„Laß mich, laß mich! ich flehe Dich darum, *
antwortete fie ihm mit einem Ausdruck der Angft
und Trauer, den er fi nicht zu deuten wußte.
„Laß mich, Erich!“
„Und das grade jebt, in diefer Stunde?" tief
er, „iest, da ich meine Zukunft von mir fehleu-
derte, um — —“
„Sprich nicht! um Gottes Willen fprich nicht
weiter!“ fiel fie ihm heftig in das Wort. „Du
würbeft e8 bereuen, wie Du die Bergangenheit
bereuft! — Und ich bin elend genug, auch ohne
diefe Schmach!“
Erich erftarrte vor ihren Worten, mehr noch
vor dem duͤſtern Ausdruck ihrer Etimme, ihrer
Züge. Maͤchtig und traurig wie fie vor ihm
ftand, ſchien fie ihm fremd geworden, und doch
liebte er fie in diefem Augenblide wahrhaft. Die
Verachtung, mit welcher der General von ihr ges
fprochen, hatte fie ihm ‚heilig werden laſſen. Er
hätte fie befchügen, fie behüten mögen, aber ed
321
m, ald babe er die Macht dazu verloren,
ürfte fie feines Schutzes jet nicht mehr,
nd wir denn nicht diefelben?* fragte er
im. „Was ift gefchehen Regina! feit ich
ir ging? was hält Dich befangen?“
hob fie ihre Arme mit langfamer Bewe⸗
‚mpor, preßte ihre Hände gegen die Stirne,
ıgte tonlos: „Die Eelbfiveradhtung, die Du
:ute aufgeladen!
zott im Himmel!* rief er und riß fie an fein
aß mich,* wiederholte fie, „auch Dir bin
ehrloß! “
ie gelähmt ſanken feine Arme herab, und
: verließ das Zimmer.
ndlungen. I. 21
334
Handwerker, ben fein Rängel druͤckt, wirb es nicht
ablehnen, wenn ein Anderer, ber neben ihm hergeht,
ihn fragt: „Kann ich helfen?" Kein Armer weis
gert fid) von feinem armen Nachbar Beiftand zu
empfangen, denn unter ihnen herrfcht bie Gegen
feitigfeit, die, ohme glei den Dank abtragen zu
wollen, ficher ift, früher ober fpäter ben geleifte
ten Dienft vergelten zu können. Ihr aber behan-
delt, wenn Ihr gut gelaunt feid und großmüthige
Anwandlungen habt, den Arbeitenden als einen
Bettler, der froh fein muß, die Gabe Eurer Will
für zu empfangen, und fo beleidigt Ihr, ftatt
wohlzuthun]
Georg fühlte, daß ber Freund Recht Habe.
„Das ift die verdammte ariftofratifche Erziehung,“
fagte er ärgerlich, „von der ſich unfer eins, von
ber fich felbft ein Mirabeau nicht los zu machen
wußte! Es ift das alte: „Mirabeau, depute,
Marchand de draps et puis Marquis!“ das
man ihm als ein Zeichen der Freijinnigfeit
ausgelegt hat und das mir immer ald eine feiner
ariftofratifchften Aeußerungen erfchienen if. Um
ſiehung ift unfer Unglüd, aber ich werde
iß fie befiegen lernen! Du haft Recht!“
u haft e8 auch leichter in unferer Zeit,
n es damals hatte, und glaube mir, Du
ı Dir viel an richtiger Werthfchägung der
en gewinnen, wenn Du nur erft in Deinen
Gemohnheiten, in Deiner Sprache unb
iem Verkehr mit ihnen die üble Gewohns
egft, Die Standesunterfchiede zu bezeichnen. *
ie ic) das jemals?“ fragte Georg.
urchgehend thuft Du es, thun es die Mei«
ter und. Wer giebt Dir das Recht, einen
° mit „Ihr“ oder „Du“ anzufpredhen, da
„Sie" nennen muß? Wie fommft Du
hm die Anrede „mein Herr“ zu verfagen,
Jedem gewährft, der einen Brad und feine
rägt? Und würbeft Du fchließlidy einem
jehenden Studenten ober einem fremden
in unferer Kleidung bdaffelbe Anerbie—
diefem Gefellen zu machen gewagt haben?
nicht Jeder von und Deinen Vorſchlag,
r Weife gethan, eben fo zurüdgewiejen
336
Georg räumte dad ein, und Friedrich fügte
hinzu: „Verlaß Dich) darauf, wärft Du dem Ge
fellen zu Buße begegnet, hätteft Du mit ihm, als
mit Deines Gleichen eine Unterhaltung angeknüpft
und ihm dann gelegentlich angeboten, fein Ränzel
ein Ende zu tragen — oder wärft Du allein im
Magen geivefen und hätteft ihm gejagt: „Steigen
Sie ein, Zwei zufammen find befler daran, ald
Einer allein! " er würde das Alles dankbar ange
nommen und fchnell und herzlich Zutrauen zu
Dir gefaßt haben! *
Der junge Baron gab dem Sprechenben bie
Hand. „Du bift Deines Vaters Sohn," fagte er,
„und wohl Dir, daß Du's bleiben darfſt in feis
nem Sinne. Ich muß aufhören der Sohn mei
ned Vaters zu fein, fol’8 Etwas werden mit
mir!“
„England und vor allem Amerika werben
Dir dazu verhelfen!" meinte Friedrich, und fie
faßen dann fchmweigend bei einander, bis Georg
nach einer Weile anhob: „Du fagft, Du wolle
aufs Land! Denfft Du die Univerfitätscarrier
alfo aufzugeben?”
337
Ja, und zwar fobald als möglich! Ich fange
ich mehr und mehr nad einer freien prafs
Wirkſamkeit zu fehnen. Die Erfahrungen
sten Zeit haben mich belehrt, wohin man
er geiftigen Unterordnung unter eine Autoris
religiöfen Dingen gelangen, wohin ed mit
egoiftifhen Streben nad) einfeitiger Selbſt⸗
dung kommen kann. Auf der andern Eeite
ine einzige, praftifche Thaͤtigkeit als Huͤlfs⸗
in der Schule gänzlih unfrei. Sch bin
Ih an einen Xehrplan gebunden, ber mir,
atlich in Bezug auf den Religionsunterricht,
erſcheint. Welche Bereutung haben für
bis vierzgehnjährige Kinder die mofaifchen Ges
der die Dogmen und Myſterien des Chris
ums? Und eine moralifche Einwirfung auf
naben babe ich in meiner Stellung nicht!“
Aber Deine Eolegia, Dein Dociren machten
och Freude! Du hoffteft viel davon!“
Sie machten mir Freude, ich hoffte viel das
das ift wahr, allein — mir fehlt der
yet“
Der Glaube?“ wiederholte Georg,
Kungen. I.
338
‚Der Glaube an die Unfehlbarkeit meine
Wiſſens,“ berichtete der junge Docent. „Mit
aller meiner Arbeit, mit der Redlichkeit meine
Forſchens komme ich nur immer mehr dahin, mie
unfertig zu fühlen. Zweifelnd und im Kampfe
mit mir felbft, ift es mir aber unerträglich, mid
als unfehlhare Weisheit hinzuftelen und Draft
zu verfünden, wo ich jelbft mich nur von Raͤth⸗
feln, von unvereinbaren Widerfprüchen befangen
finde, und taufendmal habe ich den Wunſch bed
Fauſt in mir wiederholt: „Daß ich nicht weht
mit ſaurem Schweiß zu fagen brauche, was id
nicht weiß!“ -
„Sp Iehre Deine Zweifel!" fill ihm Georg
ins Wort, „fie find ja fruchtbar! *
„Hätte ich fie überwunden, wäre ich durch fie zur
Klarheit gelangt, ich würde eine Lebenserfuͤllung
darin finden, Anderen den gleichen Weg zu zeigen.
Der in ber Irre Sudende darf ſich aber nidt
zum Führer aufwerfen, ohne gewiſſenlos zu han
deln,” wendete Friedri ein.
„Und was wird fih in diefem Deinem Ems
pfinden auf dem Lande, was ald Prediger än-
39 _
‚ wo Du ja au als Lehrer aufzutreten
Ich werde jedenfall die Möglichkeit finden,
as zu nügen, auf bie Moral und auf das
befinden der Pfarrkinder einzuwirken, wenn
auch an mir noch zu arbeiten habe, um zur
e zu gelangen. *
‚Barum fprahft Du aber nie mit mir das
7)
„Ich mußte erft mit mir felbft zu einem Abſchluß
nen. Mein Ehrgeiz, die Luſt mir einen Na-
zu machen, Anſehen zu gewinnen, die Welt
ehen, waren fehr mächtig in mir. Ich hatte
u befämpfen, um zur Entfagung zu gelangen.
Jetzt ift das gefchehen! “
„Was fol das heißen?“ fragte Georg.
„Daß id) gelernt habe, mich zu bejcheiden und
nad einer nüglichen Wirkfamfeit zu ftreben.
ne Welt, ich fühle es immer deutlicher, wird
fein, wie die Berhältniffe, in denen ich erwuchs.
bat mich gefördert, daß ich nach Höheren,
Berem ftrebte, gefördert durch fchmerzliche Erz
ungen. Jetzt, da ich diefen Lebenserwerb in die
23*
340
mir zugewiefene Enge tragen werde, bin ich ruhig i,-
geworden und mit meiner Zukunft ausgeföhnt."
Er ſprach das fehr beflimmt, aber der Ion I;
feiner Stiinme und der Ausdrud feiner Züge wa
ren traurig. |
Sie hatten während biefer Unterhaltung bie J.
Station erreicht, und fliegen nun aus, Biel:
Schneltpoft zu erwarten. Erft jebt fehien Beiden h
ber Gedanke der bevorftehenden Trennung zu fom
men, obfchon ihre ganze Unterrebung auf dem
Wege unmwillfürlich eine Vorbereitung dafür, ein J
letztes Ausfprechen gewefen war. Beide ſchienen h-
erft heute, erft in biefer Stunde zu empfinden, |
wie nahe fie ſich ftanden, wie theuer - fie einande
waren. Schweigend gingen fie vor dem PVofthauft ſ.
auf und nieder, den Blid immer nad) ber Seit,
zurücdwendend von ber bie Poft anfommen mußte ſ.
Endlich, ald fie aus weiter Ferne ein Hom er
Elingen hörten, fagte Georg gepreßt: „Ich bat,
noch Etwad auf dem Herzen, was mich brüMf,
und wobei Du mir helfen ſollſt. — Ich habe — Ja
er unterbrach fich, fuchte nad) Worten und fprad fl,
dann ſchnell: „Augufte wird troſtlos fein über mein J
341
fe — und fie ift fehr einfam. Kümmere Di
ie! und fage ihre, wenn Du zurädkommft,
ich Dich darum gebeten habe, *
Verlaß Dich darauf, Georg!"
Und fage ihr auch, daß ich fie für eins ber
i, feldftlofeften Geſchoͤpfe Halte, die die Erbe
— — Sobald ih in Ruhe bin, fchreibe
Dir Alles. Stehe mir beit! Du allein
tes. Sie hat Vertrauen zu Dir!"
jriedrich Eonnte ſich in biefe Aeußerung nicht
t, da er ftetö an eine heimliche Verlobung
hen Augufte und .Georg geglaubt, indeß cr
in diefem Augenblide feine Zeit zu fragen.
Poſthorn fchmetterte näher und näher, bie
»e wurden herausgeführt, um angefchirrt zu
em. Der alte Kutfcher bed Barons, der bie
ade bis hieher gefahren hatte, brachte den Man⸗
nd den Handſack feines jungen Herrn herbei.
Poſt hielt. Ein Bekannter, der ſich in berfel
befand, bog fich heraus, Georg feine Freude
ver auszubrüden, daß fie die Reiſe bis zur
ytftadt gemeinfam machen würden, und bie
ı Minuten ſchwanden fihnell und wirt dahin,
342
Friedrich fah es, wie Georg fi in den Mantel
huͤllte. Er hörte, wie er mit dem Conducteur vom
Wetter und von ber Morgenfühle ſprach, wie tt
auf die Frage, wohin er reife? „nach England!’
antwortete, — aber ed Fam ihm das Alles traum
haft vor. Es that ihm weh und ließ ihn doch
kalt, er wußte fich’8 nicht zu erklären.
Da rief der Conducteur: „Einfteigen, meint
Herren!“
Sriedrich fuhr zufammen. Georg fiel ihm um den
Hals. „Ic, liebe Dich fehr, Friedrich! * ſagte er leiſe.
Sie umarmten fid) noch einmal, dann ftieg er
ein. Der Schlag ward zugeworfen, der Poftilen
ſchwang die Peitſche, die Pferde zogen an, bet
Wagen feste fich in Bewegung, und ein Paar Mi⸗
nuten darauf war er ben Augen bed Zurückblei⸗
benden entfchwunben.
„Wie lange werde ich das treue Geficht nicht
wieder ſehen!“ fagte Friedrih im Selbftgefpräd
und wendete fi zurüd, Da ftand der alte
Kutſcher und trodnete fich Fopffchüttelnd die Aus
gen, ald wolle ihm die Abreife feines jungen Herm
nicht in den Sinn,
aß fon fchöner Offizier, daß unfer juns
er nun partout Kaufmann werden muß!”
e er vor fih Hin. Friedrich beachtete es
ind ging auf und nieder, fich zu fanmeln..
: Stallfnechte führten die müben Pferde
ıd fegten den Platz. Die Kellnerin trug die
‚ aus denen ein Paar ber Paſſagiere
en hatten, in dad Haus. Diefe ruhige
iltige Thätigfeit hatte für Friedrich etwas
ges. Er wünfchte den Ort zu verlaffen,
; der Kutfcher um eine halbe Stunde Raft
ve Thiere bat, machte fi) der junge Mann
e auf den Weg, mit der Weifung, daß
agen ihm folgen folle.
mochte eine Wiertelftunde gegangen fein,
der Gefellen anfichtig wurde, deren Gefang
n früher gehört hatte,
e Betrübniß des Scheidenden war vorüber.
heiter und wohlgemuth aus, und feine Aus
jauten hell vorwärts in die Weite, Als er
ch erfannte, grüßte er denfelben, „Glück auf
eg!” rief diefer ihm erwiedernd zu.
nd heile Füße, daß er's einholen kann!“
344
entgegnete einer der Begleiter, „dad Glück iſt ver⸗
flucht flink!“ Ale lachten, und waͤhrend ſie ruͤſtig
fortſchritten, ſangen ſie aus voller Kehle:
Welche Luſt, aus enger Stadt
In die weite Welt hinaus marſchiren!
Und zumal wer Nichts daheime hat,
Kann gewinnen Viel und Nichts verlieren.
Darum, Bruder mein,
Laß uns luſtig ſein!
Friſch hinaus, da draußen liegt das Glück,
Thor iſt, wer zu Hauſe bleibt zurück!
Auf die Wanderſchaft laßt uns marſchiren,
Unſer Gluͤck,
Unfer Glücke draußen zu probiren!
Die Melodie des Liedes war fo froh und zu
verfichtlich Fe ald der Inhalt des Textes, und
noch aus der Ferne hörte Friedrich bei dem Schluß
ber zweiten Strophe, deren Worte er nicht mehr
verftehen fonnte, das fehallende jubelnde: „Unſer
Glück, unfer Glüde draußen zu probiren!“
Der Ton Hang fo verlodend, der Morgen
war fo ſchoͤn, die Welt fo funfelnd im Sonnen
lichte. Es zog ihn wie mit Gewalt hinaus, cr
345
orbentlid Scheu vor der Heimkehr in bie
t.
lle wanderten fie fort, Alle wollten fie ihr
probiren, fi) unbefannten Verhaͤltniſſen,
Zufall anvertrauen, Abenteuer fuchen. Er
blieb zurüf und hatte Fein Abenteuer zu
ten.
Jeorg und der Handiwerfögefelle waren nun Beide
ed Fam ihm vor, ald fei ihm auch durch das
den des Lebtern ein Leid gefchehen. Er mußte
e erite Scene ded Zauberringes denken. Es
ihn ald Knaben immer fo gerührt, wenn bie
2 fingend von bannen zogen, die Zelte abge.
n wurden, bie Badeln erlofchen, und ber
Herr Ott von Trautwangen allein zurüds
in der Dunfelheit auf der feuchten nächtigen
, traurig und fehnfüchtig der verfchwundenen
ichfeit nachfchauend. Grade fo war ihm zu
e. Er erfchraf, ald er den Wagen fommen
ils ob ihn derfelbe in einen Kerfer führen follte,
atte fich feit langer Zeit nicht fo muthlos
It und die Entjagung, zu der er ſich zu ge
en ftrebte, war ihm lange nicht fo ſchwer
346
geworden, als eben jegt. Als er in bie Stat
zurüdfam, bünfte fie ihm troß des hellſten Sonne
lichtes düfter. Die Straßen famen ihm eng vor, #
wollte ihn Nichts gefallen, und niedergejchlagen
fagte er fih: „ES ift wohl gut, daß bu die Well
nicht fehen wirft! wie folteft du mit bir fertig wer
den, hätteft du die Freude, die Schönheit gekannt,
deren bloße Ahnung dich unzufrieden und begeh⸗
rensvoll macht?“
Sich zu tröften ſprach er fi die Worte Pl |
tend vor:
Ber die Schönheit angefhaut mit Augen,
Iſt dem Tode ſchon anheim gegeben,
Wird für feinen Dienft der Erde taugen!
Aber es fruchtete Nichts, feine Traurigkeit
wollte nicht weichen,
Sicebenzehntes Kapitel,
— — —
m Heidenbruck'ſchen Hauſe angelangt, ließ
h bei Auguſte melden und ward in das
er geführt, das Georg bisher bewohnt
ie Benfter deſſelben waren geöffnet, die Vor⸗
bereitd abgenommen. Auf den Tifchen las
Jade von Wäfche umher, die Diener trugen
iedene Möbel hinaus, und mitten in ber
aglihen Berwirrung ftand Augufte, und
‚achte zufriedenen Blickes die Ausführung ihr
efehle.
Sie finden mich in voller Arbeit,” rief fie
Sintretenden entgegen, „aber folche Abreiſe
348
auf lange Zeit macht doch eine gründliche Con
trole nöthig und Georg ift fehr unordentlich.
Es war nicht möglich von ihm heraus zu brin
gen, was er mitnahm und was er zurüdlief.
Da muß ich eben nachjehen!“
Friedrich Hatte erwartet nad des Freundes
Heußerungen, dad Mädchen traurig, vielleicht in
Thränen zu finden, ftatt defien war fie in voller,
ihr zufagender Thärigfeit, und er fühlte fich. über
flüffig, da er gekommen war, fie zu tröften.
Dennoch glaubte er, es fei feine Pflicht, bie
Aufträge des Reifenden auszurichten. «-
„Ich bringe Ihnen die herzlichften Grüße von
Georg! Seine Abfchiedsworte galten Ihnen und
waren vol Liebe und Verehrung für Sie!" fagte
er leiſe.
Bei der Zartheit feiner Natur fprach Fried:
rich das mit jener Zurüdhaltung, die fich feheut,
ein fremdes Geheimniß anzutaften und fich un:
aufgefordert einem Dritten als Vertrauten aufzu-
drängen. Augufte aber fchien Nichts davon zu
empfinden, fondern fagte plößlich, zu einem Aus-
druck von Trauer übergehend: „Gott weiß auch,
349
y das nicht endlich von ihm verdient habe!
bat er mir für Kummer gemadht! Wie uns
; ift unfere Zukunft! und das allein, allein
feine Schuld! *
aß ſie einen Scheidenden anzuflagen vers
e, ber ihrer fo dankbar gedacht, mißfiel
ih, und fein Geſicht mochte fein Erftaunen
hen. Wenigftend lenkte Augufte augenblids
nit der Bemerkung ein: „Wer fo, wie ich,
Jugend an auf ſich felbft gewieſen worden,
nuß es lernen, auch mit ſich allein abzufchlies
Sch arbeite mich müde, dann wird ber
jerz ſtill! — Mit fich fertig werden, daß ift
yauptfache im Leben!”
Mit fich fertig werden, das ift die Haupt-
im Leben!” wiederholte Friedrich gedanken⸗
und ſah dann Augufte betroffen an. Es
Zuftände, in denen die einfachfte, bekann⸗
Bemerfung, der größte Gemeinplag und wie
tiefe Erfenntniß erfcheinen, weil fie unferm
‚blilichen Seelenbeduͤrfniß entfprechen; das
jest mit Auguftend Aeußerung ber Fall.
seftigfeit, mit der fie ihren Schmerz beftegte,
350
die Entſchloſſenheit, mit welcher fie ſich felbfiver
geflen fchnell wieder in bie Arbeit werfenkt,
machten Friedrich den Eindruck großer Tüchtigleit;
fogar der ihm noch kurz vorher jo mißfähige To
bel gegen ben Freund gewann für ihn im hielem
Madchen eine andere Bedeutung.
„Ich beneide Sie um bie fichere Klarheit Ihres
Weſens!“ fagte er, als Auguſte die Schraͤnke
und Schiebladen zugeſchloſſen Hatte und mit ihm
in das früher von Erich bewohnte Nebenzimmer
gegangen war, in bem fie ſich mit ihm nieder
ließ.
„Ach!“ antwortete fie, „ed IE ein alles
Sprichwort, aber die alten Sprichwörter haben
ihren tiefen Sinn: Gott läßt ed nad bem Klei⸗
bern frieren | *
„Was meinen Sie damit?“
„Sch meine, wie ich wohl hätte durchkommen
follen ohne die Ruhe und Feſtigkeit, die Sie
Klarheit in mir nennen? Denken Sie doch, daß
ich, noch ein halbes Kind, in eine Familie einge
treten bin, in der eigentlich Jeder, obſchon fie
Alle im Grunde vortrefflich find, fein eigenes
%
351
ntaftifches Weſen und dadurch Alle folch’
intaftifche Rebenswege hatten, daß man fchwins
ıd werden Ffönnte, wenn man fi) nicht immer;
t auf fich ſelbſt und auf feine eigene Lage ber
nen hätte, Dabei war bie Schule, die ih in
ined armen Baterd Haufe durchzumachen hatte,
h eben nicht bie Teichtefte |“
Sie ſchwieg zurüdhaltend und Friedrich bes
ehtete fie mit wachſender Theilnahme. Ihr ges
ides Ffräftiges Ausfehen, ihr ſtarkes, glaͤnzen⸗
; Haar, die Feſtigkeit und Sauberkeit ihrer
dung, ja felbft ihr etwas harter Dialekt, was
: fo aus einem Gufie, fp fehr das Gepräge
es beftimmten Charakters, daß Friedrich feine
ude darın hatte und es fich zum Vorwurf
hte, Augufte bisher nicht nady Gebühr ge
Abt zu haben. Kr glaubte jest zu verftehen,
3 grade einen Mann, wie Georg, an dieſes
aͤdchen feſſeln konnte, mag «8 ihm in allen
yensverhältnifien fein mußte, und wenn er
:an dachte, daß ber Freund ihm von ber Adı-
ig und von dem Vertrauen gefprochen, die. Aus
te für ihn begte, fo fchämte er fi, daß ber
nn
352
— — —
richtige Blick des Maͤdchens ihn herausgefunden,
während er fie nicht gewuͤrdigt hatte.
In dem Beitreben, dad Berfäumte gut zu
machen, fagte er: „in fo gluͤcklich organifitd
Weſen, wie Sie, ein Mädchen, das fich ſchon
in früher Jugend zur Celbftftändigfeit erzogen,
fann ficher, ich weiß das wohl, auch ferner in
fich felbft beruhen. Aber Georg's Wünfche wer
den Ihnen ja heilig fein. Er bat mich zu Ih—⸗
nen gewiefen, weil er fühlte, wie einfam jeine
Entfernung Eie laffen würde, weil er wußte,
was ich durch biefelbe verliere, und er meinte,
daß ich Ihnen nicht ein Troft, wohl aber ein
Freund zu werden vermöchte!“
Sie fah ihn mit ihren hellen Augen langſam
prüfend an, ohne eine Silbe zu entgegnen, fo daß
Hriedrih, dem diefe Beobachtung peinlich wat,
ihr die Hand entgegenhielt und fie bat: „Laflen
Sie mich um feinetwillen dafür gelten, bis Sie
felbft mich als einen Freund erkennen.“
„Ich habe Sie immer für meinen Freund ge:
halten!“ rief fie nun plöglich, feine Hand ergreis
fend und herzlich drückend, „ich fah Sie nur um
353
b fo verwundert an, weil Sie foldhe Eins
y für nöthig hielten. Sie müffen ja wiffen,
Beorg und ich fanden! Und bie Anderen
es eben fo gut wiſſen fönnen, fähen fie
etwas Anderd als fich felbft in biefer
4
8 entftand eine Pauſe, Friedrich erhob fich,
ufzubrechen. Sie hinderte es nicht. „Ich
Sie nicht bitten zu bleiben,” fagte fie, „benn
abe wirklih zu thun. Aber Sie kommen
wieder, und wenn Sie von Georg Briefe
, fo werden Sie fie mir zeigen.”
Sicherlich! ich rechne auch auf Ihre Güte im
en Falle! *
Zeigen? Nein! zeigen werde ich Ihnen feis
Brief von ihm. Wie fönnte ich das? Aber
en will ich Ihnen Alles, wad Sie wifien
n — es ift fo angenehm, von einem Entfernten
enfchen zu fprechen, die ihn lieben und verfte-
und wer hat ihn hier wohl verftanden außer
md Ihnen, außer uns Beiden ?“
Der Doctor unbedenklich!“ meinte Friedrich.
D ja! aber dem find die Menfchen nur wie
ndfungen. IL 23
354
die Medikamente in ber Apothefe, Mittel zu feis
nen Kuren. Ein Offizier, der Kaufmann wird,
ein Edelmann, der feinen Adel ablegt, fo unredt
und ſchaͤdlich es für denfelben fein mag, find ihm
willfommen; dad find DBlafenpflafter, bie er
brauchen fann. Georg weiß es auch, daß mir
der Doctor fchredlich zuwider ift.“
Zuwider? aber was fagte Georg dazu?
„Er tadelte mi) und wollte mir beweifen,
daß ich Unrecht hätte. Aber ich laffe mir Nichte
beweifen, wo ich mit meinen zwei gefunden Au
gen fehe und mit meinen beiden Ohren höre.
Ich weiß fo gut als Einer, was recht ift umd
wer gut ift. Ich habe meinen eigenen Kopf und
laffe mich nicht fo leicht abbringen.” Dabei
padte ſie verfchiedene Kleinigkeiten, die fie aus
Georg's Zimmer mitgebradht hatte, in ihr Schlüf
felförbchen und ging mit Friedrich in das untere
Stodwerf hinab, wo fie von einander ſchieden.
Achtzehntes Kapitel,
Doctor hatte ſich während aller biefer
ge fehr ruhig gehalten und anfcheinend
t feinen perfönlichen Angelegenheiten bes
‚ denn noch war die Anklage, welche ſei⸗
tiften halber gegen ihn erhoben worden,
feitigt, fondern ging in dem langfamen
nzuge der damaligen Rechtspflege ununs
n vorwärts. Zwei Gerichtöhöfe hatten
yn auf Majeftätöbeleidigung erkannt, er
ıtte die juriftifche Geſchicklichkeit befreun-
wofaten von ſich abgewiefen, feine Ders
19 vor den Richtern felbft geführt, und
rtheidigungen im Auslande bruden laffen,
23°
356
woraus ihm neue Anflagen erwachſen waren, unb
von nah und fern riethen ihm feine Freunde,
fich der ihm ficher drohenden Etrafe einer langjähri-
gen Gefangenſchaft durch ein freimilliges Exil zu
entziehen. Indeß ein ſolches Verfahren lag vol
fommen außer feiner Sinnedartt, Das Feld aus
Furcht vor einer möglichen Niederlage zu räumen,
dünkte ihm eben fo ſchimpflich ale thöricht; ſich
von feinem Berufe, von feinem Wirkungdfreife
zu trennen, ehe feine Thätigfeit für diefelben ihm
unmöglich gemacht wurde, das wußte er weber
mit der Liebe für diefen Beruf, noch mit feinem
Gewiſſen zu vereinen, und endlich Fam bie fors
gende Neigung für Gornelie dazu, ihn in de
Baterftadt zu fefleln.
Niemand konnte fi) darüber täufchen, daß
mit ber Verlobung berfelben für ihren Frieden
Nichte gewonnen worden war. Ihre Geſund⸗
heit befferte fih nicht, ihre Niedergefchlagenheit
blieb dieſelbe. In launenhafter Unruhe befchäfs
tigte fie fich mit Pleſſens Zufunftsplänen, bei
denen ihr ſtets die gewagteften und fernliegendften
bie erwünſchteſten fchienen, und mit leidenfchaft
357
Sifer betrieb fie das Studium aller Mifs
te, ſuchte fie Pleſſens Neigung für
ıfbahn eined Miſſionairs zu beleben.
bie geiftige Bedeutung derfelben ihn nicht
n, feine Wünfche nach einem ftillen Leben
ern, fo ftrebte fie, feine frühere Reife
bachtungsluſt in ihm wieder zu erweden
ı die Vorzüge darzuftellen, welche das
wärmeren Zonen für ihn haben müfle;
e ihre Benühungen blieben erfolglos.
pannfraft feiner Natur war gebrochen,
nd DBerfuche, fie zu beleben, riefen nur
enblidliche Erregung hervor, welche nach«
yald die Urfache derfelben aufhörte, und
an, das Verfahren feiner Braut mehr
r al8 eine Lieblofigfeit und eine Unger
t zu empfinden, vor benen er fidh zu
vor denen er Ruhe zu fuchen babe, wollte
untergehen.
elie ihrerſeiss ſah bang dem Heran-
8 Hochzeitätaged entgegen, der für den
eftgefegt war, und der Aufenthalt in
rei, den dad junge Ehepaar auf alle
358
Falle nach der Verheirathung für einige Monate
machen follte, fing an ihr immer troftlofer zu
erfcheinen. Es wiberftrebte ihr, in eine Gemein
ſchaft einzutreten, beren Mitglieder fie nicht pers
ſoͤnlich kannte. Eine Lebensrichtung einzufchlagen,
bei der fie fortan der Freude entbehren folle,
welche die Künfte dem Menfchen gewähren, duͤnkte
fie barbarifch; und fich einer Autorität in geiſti⸗
gen Dingen zu unterwerfen, auf’ Neue den abi
Iuten Glauben ohne Verftandeöprüfung zum Pa
niere zu erheben, fam ihr nach den eben gemach⸗
ten Erfahrungen mehr ald bedenklich vor. Ber
ſonders aber fträubte fich ihr Unabhängigkeitsfinn
gegen den Zwang der Gemeindeordnung, und fie,
die feit Jahren freiwillig den äußeren Genüflen
des Lebens entfagt, die ſich alles. Schmudes ent-
halten hatte, fand e8 unerträglich, grade in dieſen
Dingen nicht Herr ihres Willens und ihres Ges
ihmades zu fein.
Mit Erftaunen bemerften ed die Berfonen ih:
rer Umgebung, daß fie bisweilen wieder in hell⸗
farbiger Kleidung erfchien, daß fie Armbänder
und Ohrringe anlegte, daß fie es war, die zum
359
uche bei andersdenkenden, befreundeten Fami⸗
aufforberte und an bie Nothwendigfeit erins
e, bdiefe oder jene Fremde einzuladen, mit
m Worte, daß fie fi) wieder der Geſellig⸗
und dem gewöhnlichen- Leben zuzumwenden
ann,
Seit der Prediger gefänglicy eingezogen worden,
te die Gemeinde fidh um einen jüngern, ihr im
ifte angehörigen Theologen verſammelt, und
Berftunden und Antahtsübungen waren für
nere Gruppen der Frommen in einzelnen Pris
thäufern abgehalten worden, während die Aus—
oählten fich nad) wie vor um die Gräfin fchaars
i, welhe das Anathem gegen ihre frühere
eundin zum Geſetze unter ihnen erhob. Alle
erſuche Corneliens, fich mit der Gräfin zu vers
ndigen, ihre flehende Bitte um ein volled Ders
wen, damit gemeinfamed Forſchen ihnen möge
h und der Bund ihrer Freundſchaft erhalten
erden fünne, waren von ber Gräfin mit der
älte geiftigen Hochinuthes zurüdgewielen worden,
„Wer nicht für mich ift, der ift wider mich!“
itte fie der Freundin geantwortet, ald dieſe fie
360
vor dem Derhöre um Aufklärung, um Wahrheit
befchworen hatte. „Wermagft Du nicht unbe
dingt zu glauben an die Menfchen, die Du fieht
und fennft und liebft, vermagft Du nicht zu glaw
ben an uns über Dein Verftändniß hinaus, wit
wilft Du glauben an den Unfichtbaren? wie
willſt Du glauben an die Wunder, mit denen a
und umgeben, und zur höchften menfchlichen Tu
gend, zum Glauben zu gewöhnen? Wer aber
nicht mit uns glauben kann, der kann audy nid
mit und wirken!”
Unter dieſem Borwande hatte bie Gräfin
plöglich Eornelie von dem Unterricht an den Ar
menfchulen und von der Armenpflege auszufchließen
gewußt. Man hatte ihr, mit der offenen Er
Härung, daß fie dad Vertrauen und die Achtung
ber Gemeinde durch ihre im Verhöre und in pris
vater mündlicher Beiprehung Fund gegebenen
Zweifel an den Häuptern ber Gemeinde verfcherzt
habe, die Gaffenverwaltung abgenommen. ben
fo waren die Nothleidenden, deren perfönliche Bes
auffichtigung ihr obgelegen, angewieſen worden,
feine Hülfe und feinen Rath mehr von Fräulein
361
deidenbrud anzunehmen, da der gute Geift
ihr gewichen und alſo ihr Beiftand nicht
heilfam fei.
ie Meiften biefer Pflegebefohlenen wußten,
Sornelie nur noch kurze Zeit an diefem Orte
ilen, daß die Gräfin dauernd au demfelben
n werde, und zogen die bleibende MWohlthäs
der Fortgehenden vor. Andere waren jelbft
eit fanatifirt, Cornelie zu mißtrauen, jo daß
ch plöglich von allen Seiten mit Mebehvollen
Zurüdweifung bedroht und in eine gänzliche
ätigfeit verfebt fahb. Je mehr fie an ber
in, an der Gemeinde, an ber eigenen Wirk
eit und ihren Schüglingen gehangen, um fo
: mußte diefer Schlag fie treffen. Ein Menſch,
lange in einer ihn mit ſich tragenden
reinfchaft lebte, gleicht der am Spalier erzos
n Treibhauspflanze,. die Luft und Freiheit
t ertragen kann.
Cornelie fühlte fich ihrem Element entfrembet.
tlos, ohne Beichäftigung, ohne Liebe für ihren
lobten, ohne DBertrauen und ohne Neigung
die von ihm beabfichtigte Zufunft, konnte nur
362
ein gewaltiger Entjchluß ſie retten, aber er mußte aus
dem eigenen Innern fommen, um nachhaltig zu fein,
Niedergebeugt von der offenen Verachtung
welche ihre früheren Glaubensbrüder ihr bewiefen,
aufgerieben von Pleſſens Ermahnung zur Demuth
und Unterwürfigfeit, erwachte plößlich jene Leiden
ihaft in ihr, welche meift der Vorbote der Frei
heit ift, der zornige Trotz. Eie fragte fih: „We
hat alle diefe Menfchen zu Herren und Meiftern
über mid) gemacht? Wer hat Pleſſen Rechte über
mich gegeben, ald nur mein Glaube und mein
freier Wille? Hört mein Glaube auf, fo endet
feine Herrfchaft über mich, erfenne ich diefe nicht
mehr an, jo bin ich frei!” Mit diefem Gedanken
fam ein neues Leben über fie.
Ceit fie nicht mehr fragte, was die Gräfin,
was die Geiftesgenofien zu ihren Zweifeln fagen,
wie fie über ihre rüdfehrende Selbftändigfeit ur
theilen würden, fiel e8 wie Schuppen von ihren
Augen. |
Zögernd holte fie aus der Bibliothek des Bar
ters die Wolfenbüttel’fchen Fragmente, zögernder
nod) ging fie daran, die Werke Kant's und Fich⸗
363
te’8 zu lefen, fo weit fie ihr verftändlich waren,
aber mit jedem Tage wuchs ihre Zuverficht bei
ber Lectüre und mit der Zuverficht auch ihre Kraft.
Ihr feftes Gottvertrauen ward ihr befter Xehrmeifter.
Ihr Glaube an feine Allweisheit, welche nicht das
Geringfte nutzlos gefchaffen, Nichts von allem Ge:
fchaffenen zur Unthätigfeit verdammt, gab ihr den
Muth wieder, ihre Seelenfräfte, ihr Urtheil zu ge
brauchen.
Wie Verbannte, die fich ihr Vaterland wieder
erobert haben, fo fühlte fie, als fie fich die reis
heit des Denfend wieder zuerkannte. Wie der
Genefene froh die Glieder regt, fo freudig übte
fie den Geiſt in immer fortfchreitendem Verſtehen
der Spfteme, die den Menfchen einfegen in feine
Heimath, in die Erde, in feine Rechte, in bie
freie,. nur durdy die eigene Fähigfeit befchränfte
Forſchung und Eelbftbeftimmung.
Niemand wußte um diefe Studien, Allen aber
war die Veränderung in ihrem Aeußern fichtbar.
Ihr Auge fchaute wieder hell umher, ihr Gang
ward ficher, als habe fie aufs Neue feiten Buß
gefaßt auf diefer Erde. Ihre Stinnme verlor den
364
Hagenden Ton, der fortdauernd die Unvollkom⸗
menbeit des irdifchen Dafeind zu beweinen ſchien,
und feit fie fich nicht mehr gewaltfam verſchloß
gegen die heitere Schönheit des Lebens, begann
bafielbe ihr wieter mit feinem Sonnenſchein bie
Seele zu erwärmen.
Mit Freuden begrüßte fie den Zeitpunft, in
dem ihr Vater die Stadt zu verlaffen und fid
auf dad Land zu begeben pflegte Bei großen
inneren Krifen ift ed eine Wohlthat, fich von
dem Orte zu entfernen, ber Zeuge unferer Leiden,
unferer Irrthuͤmer geweſen ift. Die Unmoͤglich⸗
feit, den früheren Genoſſen zu begegnen, bie früs
heren Beichäftigungen fortzufegen, mußte Gornelie
auf dem Gute das Vergeſſen leichter machen, und
eine fchmerzliche Vergangenheit muß man zu ver
geffen fuchen, will man eine neue Zufunft be
ginnen.
Pleffen war verhindert, ber Yamilie gleich
auf dad Gut zu folgen, aber Friedrich follte mit
ihnen gehen, um dort einen längeren Aufenthalt
zu machen und fi) allmählich jene Einficht in die
Xandwirthfchaft zu erwerben, ohne welche ber
365
— —
Mliche auf dem Lande immerdar ein Fremder
er feinen Pfarrfindern bleiben muß, denn der
uer glaubt nicht, daß Jemand ihm in ben
bien Dingen Rath geben könne, der in den
lichen Erlebniſſen weder fidy noch Anderen zu
ren weiß.
Am lebten Abende, den fie in der Stadt zus
chten, kam der Doctor fo fpät zu feinen Freun⸗
„daß man ihn kaum nocd erwartet hatte.
ſah Blei und abgeipannt aus, als habe er
e heftige Anftrengung gehabt, erklärte aber,
man ihn deshalb fragte, er fühle fih wohl
> habe nur einen weiten Spazierweg durch die
der gemadt. „Da ich felten dazu komme,“
te er hinzu, „fo gehe ich denn immer zu lange
d zu weit, und ziehe mir meift eine große Ers
dung zu, welche mir indeß fchließlich doch
hithätig ift!*
Der Baron tadelte ihn, daß er im Ganzen
wenig für fich felbft lebte; Pleſſen meinte, fo
n dem Genuſſe der Ratur, müſſe endlich
8 Gefühldvermögen für diefelbe ſich abftums
n, aber der Doctor beftritt diefe Behauptung.
366
„Wir haben uns leider fo fehr gewöhnt, ben
Menſchen und die ihn umgebende Welt zu tra
nen, fagte er, daß wir ihn berfelben entgegen
fegen, daß wir von Menfchenbeobadytung und von
Naturbeobachtung fprechen, als ob die erftere nicht
au eine Naturbeobahtung wäre. Wir nennen
die Freude an ber Welt Genuß, die Freude an
einem Menfchen Liebe, während man reinen Ras
turgenuß empfinden fann im Anfchauen und Bes
trachten eines in fich vollendeten Menſchen, und
die Natur lieben mit der Hingebung ſeines gan⸗
zen Wefens. Ueberhaupt könnten wir mit viel
weniger Worten fertig werden, wären unfere Be
griffe Far, unfere Gefühle nicht verwirrt.“
„Sie find heute fo aphoriftifh, Doctor!"
meinte Pleſſen, „wie bie goldnen Sprüche des
Pythagoras!“ |
„Keinesweges! es handelt ſich hier um eine
fehr einfache Wahrheit und um eine noch einfas
chere Erfahrung! *
„Und welche wäre das?“ fragte der Baron,
„Die Erfahrung, daß aller Idealismus Liebe,
aller Realismus Selbſtſucht ift, und der Kampf
367
beiden gleichberechtigten Kräfte das bewe⸗
Prinzip im Menfchen. Ohne eine aus
nde Selbſtſucht kann der Menſch nicht be
, fie ift feine Bedingniß, feine Nothwendig⸗
— aber feine Schönheit liegt in der bewuß⸗
tiebe, wenn dieſe mächtiger wird ald das
hi der Selbfterhaltung! *
8 war felten, daß der Doctor fih in Ers
agen und Beiprechungen folcher Themas ein,
darum fiel es Allen auf, Er fchien jedoch
einer Behauptung die Sache für erledigt ans
n, und fragte abbrechend den Baron, welche
ichten die Zeitungen gebracht, fo daß
Interhaltung fchnell eine andere Wendung
‚ ohne deshalb wie fonft eine angeregte zu
n. Der Doctor blieb gegen feine Gewohn⸗
heilnahmlos, und als er kaum eine Stunde
yefen war, ftand er mit dem zehnten Glodens
e auf, ſich zu entfernen.
t fagte dem Baron LXebewohl, man ſprach
von kleinen Dienftleiftungen und Beforgun-
die man von einander erwartete, ed war
anz gewöhnlicher Vorgang, und doch legte
368
fi) eine Befangenheit über die Anweſenden, die
Jeder fühlte und Niemand ſich zu erklären vers
mochte. Hatte der Doctor ſich fchnell und ploͤtzlich
erhoben, fo zögerte er jest, obſchon alles Nöthige
burchfprochen war. Gornelie hielt fich fern von
ihm, und eben trat er an fie heran, ihr zum Ab
fchiede die Hand zu geben, als Augufte die Be
merfung machte: „Sie Beide werden ſich alio
nun vor Gorneliend Abreife wohl nicht meht
wiederſehen?
„Nein!“ ſagte der Doctor ruhig, aber es flog
eine heftige Bewegung über feine Züge, die et
nicht bemeiftern Fonnte.
„Ih fol Sie nicht mehr wieberfehen !* ſprach
Eornelie nad), und ihre Rechte ward kalt in ber
feinen.
„Rein!“ fagte er nochmals, „aber vergefien
Sie mid nicht!“
Er drüdte dabei ihre Hand und fchritt fchnell
der Thüre zu. Cornelie war bleich geworben,
die Thränen traten ihr in die Augen, fie ſah ihm
einen Moment fprachlod nad), dann raffte fie fid
zufammen, und folgte ihm mit rafchem Entfchluffe.
369
3 fie in das Nebenzimmer traten, fagte fie:
ch kann ed nicht faffen, daß ich fo und jept
a Ihnen fcheiden fol, Ic hatte nie daran ges
ht!"
„Sie hatten nicht daran gedacht?” fragte er.
„Es war mir, als hätte ich Ihnen noch fo
1, fo viel zu fagen!” fprach fie mit ängftlicher
aft.
„Und was, Cornelie?“
„Ich meinte, Sie follten mir rathen, mir bels
n! — Nun ift es zu ſpaͤt!“ fügte fie faft ton»
8 hinzu, ald Friedrich und Pleſſen aus ver
zohnſtube herein traten.
Soda ergriff der Doctor Gorneliend beide Hände
fagte leife: „Für das Rechte ift ed nie zu
!“ und ehe fie ein Wort erwiedern Fonnte,
e er dad Zimmer verlaffen.
Friedrich eilte ihm nad), um mit ihm zuſam⸗
. nah Haufe zu gehen, Pleſſen und feine
mt blieben allein zurüd. „Was war daß,
melie?* fragte er.
Eie antwortete nicht.
„Der Doctor” — — hob Pleffen wieder an.
Wandlungen. I. 24
_ ID
„Sprih nicht von ihm! ich bitte Dich!“
flehte Gornelie, „er war mein ältefter, mein
treuefter Freund |"
„Und das fühlt Du erft jebt, erſt fo plöß
(ih in dieſer Stunde?“ .
„Die Todeaftunde macht hellſehend!“ ant
wortete fie, und brach in Thränen aus. Dann
ſchwiegen Beide,
„Sch werde Euch morgen bis Mitteldorf bes
gleiten! der Vater hat ed mir angeboten!“ fagte
Pleſſen endlich.
„So jehen wir und ja noch!" entgegnete
Cornelie, erwiederte mechanifh den Haͤndedruck
ihres Bräutigamd, und Plefien verließ das Haus.
Neunzehntes Kapitel,
a8 Leben auf dem Lande war für Fries
ben fo neu ald die Muße, welche er genoß.
te feine Unterrichtöftunden aufgegeben, feine
a gefchloffen und den Vorſatz gefaßt, beide
vieder zu beginnen, fondern fi) auf dem
ür fein fünftiged Landleben vorzubereiten.
em Snabenalter war feine Zeit ftetd einer
ı Eintheilung unterworfen geweſen. Fruͤhe
frühe Liebe, Ehrgeiz und Wiſſensdrang
ihn in ihren Bahnen umbergetrieben, fo
ber Ruhe, bie er fich bereitet, jetzt als
ahren Heiligung genoß. |
üh bei Tagesanbruch die Felder zu durch⸗
24*
372
—
fhweifen, Mittags im Waldesſchatten zu raften,
oder am fchilfbewachfenen Teich finnend dem
Spiele der Waſſerinſekten zuzufchauen, den Abend
im Freien audzufoften, und mit dieſen Bildern
in ber Seele einzufchlafen, wenn das Mondlicht
durch feine Fenſter zitterte, dad war Alles, was
er begehrte. Jener Egoismus, welcher den Kran
fen eigen und ber ihre größte Hülfe in ber Ge
nefung ift, hatte ſich plöglich feiner bemächtigt,
als er die Ruhe kennen und fühlen lernte, wie
nöthig er ihrer bedurfte,
Es ift ein doppelter Zug im Menfchen, ber
ihm ten Befig erftrebendwerth und das Nichtbes
fiten erwünfcht macht. Haben wir gearbeitet
und getracdhtet, und einen feften Wohnſitz, Hab
und Gut zu fehaffen, fo fühlen wir, wenn wir
ben Reiſewagen befteigen, daß der Beſitz eine
Laft ift, und genießen es ald eine Freude, los
und ledig und mit leichtem Gepäd auf uns felbft
geftellt zu finden. Dann jhäßen mir gering,
wad wir mühſam erworben, dann möchten wir
von und werfen, was und bald wieder weſentlich
und unentbehrlich fcheint, und unfere Natur ver
373
— —— — ©
auf dieſe Weiſe zu immer neuer Zufrie⸗
u immer neuem Genuſſe. Eine aͤhn⸗
ihrung hatte Friedrich in Bezug auf
itniſſe zu machen.
in der Stille des Landlebens dünkten
h alle ſeine Studien uͤberflüſſig, ſein Wiſ⸗
. Der Bauer, ber feinen Acker zu beſtel⸗
‚ahreözeiten zu begegnen und ihnen ihre
zugewinnen weiß, Fam ihm beneidens-
weil derfelbe, mit Eeinem unmefentlichen
aden, Zwed und Erfolge feiner Arbeit
Yugenbli zu überfchauen vermag. Eine
sung aller Abftraction und Specula-
htigte fich feiner, die Bücher, weldye
igem Studium ſich mitgenommen, lagen
rt und ftaubbebeft, die Tinte trocknete
Friedrich's Auge fchaute immer heller
in Herz wurbe leicht und frei; wie ein
Standpunkt und alle Gegenftände uns
Lichte zeigt, fo Anderte fi) auch jeine
er bie eigene Vergangenheit.
: er ed fonft ftetd für ein Unglüd ge
ı niederm Stande und in Dürftigfeit
374
geboren zu fein, fo fah er dies jet als einen
Bortheil an. Das Wenige, was er vom prafs
tifchen Leben und von der Arbeit für daſſelbe
Eannte, ſtammte aus jener Zeit, banfte er bem
engen Baterhaufe, und die Erinnerung an daſ—
felbe bahnte ihm den Weg, ſich mit den Men
fchen zu verftändigen, für die er Tünftig zu leben
und zu wirken dachte. Auch den Verluft Hele
nend lernte er bier ald eine durch die Verhaͤlt⸗
niffe gebotene Nothwendigkeit betrachten, und dad
Gefühl einftiger Kränkung, erlittenen Unrecht,
das ſich bisher in ihm ftetd mit der Erinnerung
an jeine Jugendliebe gepaart hatte, ſchwand hier
mehr und mehr dahin,
Wenn er Abends durch die Felder ging und
dad ftattliche Schloß mit feinen vier Thürmen
fi) vor ihm außbreitete, wenn er die Unterthänig-
feit jah, die der Baron von feinen Leuten für alle
Glieder feiner Familie forderte und empfing, und
wenn er die huldigende, durch mannigfadhe Wohlthat
erzeugte Liebe der Dorfbewohner für die Schloß⸗
berrfchaft gewahrte, fo konnte er es ſich nicht ver
bergen, daß Helene auch im günftigften Yalle
IT
——
Nenge gewohnter Befriedigungen an ſeiner
entbehrt haben wuͤrde; er konnte ſich es
oerhehlen, daß die ſelbſtherrliche Freiheit, die
lich geſunde Schönheit eines Lebens, wel⸗
im Befig bed feſten Grundes und Bodens
t, kaum durch etwas Anderes zu erſetzen fei.
er ihm bier die Frage in den Sinn kam, ob
end Liebe ftark genug gewefen fein würde, auf
iefe Vortheile zu verzichten, je deutlicher ihm
erantwortlichfeit zu werben begann, bie er
r Unerfahrenheit ber Jugend über fich zu
n bereit gewefen war, um fo mehr trat die
erung in ihm zurüd, daß er Helene einft
Weibe begehrt hatte, um fo anbächtiger Tiebte
ihr fein Ideal, und diefe Verheißung, welche
aronin einft tröftend ber Tochter gegeben,
e fich für ihn,
chon feit lange hatte er ed vermieden, nad)
Ergehen der Gräfin zu fragen, denn fait Als
vas er in den letzten Jahren über fie ver-
ten, war ihm fehmerzlich gewefen. Hier aber,
e ald Kind gefpielt, ald Mädchen gemeilt
376
hier, wo ihr Andenken geliebt und freundlich in
dem Gedaͤchtniß aller Dorfbewohner lebte, hier
ward er es nicht muͤde, nach ihr zu fragen und
von ihr zu hoͤren; denn uͤberall begegnete er dem
reinen Bilde, das er in ſich trug. In dem Hauſe
des Predigers, der ſie unterrichtet und getraut,
in der alten Anna Wohnung war er bald ein gern
geſehener Gaſt geworden, und auch die Bauern
und Dienſtleute hatten ſich ſchnell an den fremden
Herrn vom Schloſſe gewöhnt, dem fie mit dem
Infpector oder mit dem Jäger in Feld und Wald
zu allen Stunden begegneten.
Eined Tages, zur Zeit der zweiten Heuernte,
ging Frievrih am Nachmittage hinaus, den In
ſpector auf der Wiefe zu treffen, die jenfeits bes
Sluffes gelegen war, Die Sonne fand hoch am
Himmel, und rüftig zufchreitend, um die Erlen zu
erreichen, welche dad Bächlein des Dorfes bis zu
feiner Mündung in den Fluß begleiteten, hatte er
bald einen Mann eingeholt, der ein tücdhtig Ente
vor ihm voraus geweſen war.
„Buten Tag! Herr Schöne!” rief er ihm zu.
Der Andere, ein ftarfer, Fräftiger Sechs;iger,
377
te fich langfam um, rüdte den Hut und fagte:
sten Tag! Herr Candidat!“
„Was ift das für eine furchtbare Hitze!“ bes
kte Friedrich und trodnete fi) den Schweiß
ber Stirne.
„Ja! ſchoͤn Wetter!” entgegnete der Landmann,
fommt heute Alles ’rein!“ er fegte dabei den
ıen fchwarzen Filzhut wieder auf, Flopfte im
en forgfältig die Furze Pfeife aus, und ftedte
in den Stiefel, ven er über bie graue Tuchs
: gezogen trug. Als das gefchehen war, fah er
Friedrich's, vom rafchen Gehen hoch geröthetes
icht und fragte: „Sie kommen doch wohl nicht
Schloß?“
„Sa wohl!" — Der Bauer fchüttelte den
f und fchwieg, bis Jener zu wiffen verlangte,
weit ed nach dem großen Vorwerk fei.
„Da wollen Sie doch nicht hin?“ meinte der
2
„Rod darüber hinaus, nach der Schloßwiefe
unter!“
„Das ift 'ne gute Stunde Wegs und noch
3 drüber. Ich muß auch nad der Seite!“
4
„Der Infpector fügte mir, es fei nicht weit!”
wendete Friedrich ein.
„Sa, auf dem Sattel! aber fragen Sie ’n mul
fein Pferd! Wer's laufen muß, der kennt's!“
Sie gingen, während fie fo fprachen, vorwärts,
wobei der Alte durch feine Ruhe den fchnellen
Schritt ded Juͤngern mäßigte. Auf den Wicfen
war muntered Leben, der fammetweiche, frifch ge
mähte Plan funfelte goldig grün in der Sonm,
überall fah man die Mädchen mit ben Rechen
das Heu zufammenbringen, das bei dem Aufladen
von den Wagen herunterfiel, oder bepackte Wagen
davon fahren. Es war ein heiterer Anblid,
„Solche Arbeit ift eine wahre Luft, wenn man
fie mit der Arbeit vergleicht, die in den Stäbten
gethan wird!” meinte Friedrich. „Wie Viele
figen dort vom Morgen bis in die Nacht in ihren
engen Werfituben, die dad ganze Jahr nichts
Grünes fehen!“
Der Bauer antwortet felten auf eine Refle
xion, auch fehwieg der Alte, und der Andere bes
merfte: „Man fieht recht, welch ein Segen es if.
379
und fehen die Leute aus, wie wohlgenährt
ch find fie Alle!“
fallt bier auch Nichts vor!” erwiderte
alt Nichts vor? Was fol das heißen?“
riedrich.
geſchieht hier Nichts! Seit Jahren und
iſt hier Nichts geſtohlen und ſonſt Nichts
mmen!“
)as fagte mir der Pfarrer auch mit großem
7 Alte bob lächelnd den Kopf empor, „Der
folt’ ihm wohl vergehen, wenn fie hier
ten! Aber fo find fie Alle!“
dh meine, Herr Schöne! Sie müßten mit
yeren Pfarrer wohl zufrieden fein, er ift ein
und gelehrter Mann und ein treuer Seel⸗
ya fag’ ich Nichts dagegen, Herr Kandidat!
ichtd dagegen! Wir find mit ihm zufrieden
wird’8 auch mit und fein, denn er befommt
seinige. Aber dad Ceelforgen ſollt' ihm
vergehen, wenn’d anderd wäre. Da druͤ⸗
ben in Lippfenfeld, da predigt ſich der Paper dit
Lunge aus dem Leibe, und der Schulmeiſter bring %
den Jungen die zehn Gebote bei, jo wie fie auf
den Beinen ſtehen fönnen, aber gehen Sie mal
bin und ſehen Sie ſich dort um. Wer Hände
bat, der ftiehlt, Alles ift dort herunter gefommen,
und fein Paftor hat's hindern können mit allem
Predigen. Das Predigen macht's juft am wenig
ften! *
Friedrich war überrafcht. „Aber ich habe Sie
doch Eonntags immer in der Kirche gefehen, und
Eie fchienen von der Predigt viel zu halten!“
wendete er ein.
„Das thu' ich auch, und unfer Herr Baftor
macht's auch fehr erbaulid und fehr gut, man
muß nur dazu haben!“
„Was muß man haben und wozu?“
„Schen Sie, Herr Kandidat!" antwortete der
Alte, „zu Allem muß man’d haben und zum Recht⸗
thun zu allermeift, denn Noth Fennt fein Gebot.
Da drüben in Lippfenfeld haben fie nicht dad
Hemd auf dem Leibe und feinen Biffen im Munde,
und kommt die fehlimme Jahreözeit, fo ftehlen fie
381
iſch wie die Raben, und feine Scheune und
ztall ift vor ihnen ſicher. Berhungern will
und feine Kinder hungern laſſen erft recht
a
hielt eine Weile inne und fuhr dann fort:
lernen dort drüben auh: Du folft Vater
Rutter ehren! und unter den paar Bauern,
rt noch etwas haben, da Liegen ſich Vater
Sohn beftändig in den Haaren.“
Iber woher fommt bad?" fragte Friedrich,
lebhafter von der Unterredung angezogen.
Dad kommt von ber fhlechten Wirthichaft,
von der Wirthfchaft. Ein Stein, der rollt,
st fein Mood an, Fein Thier hält ſich
. Drüben das Gut, das ift wohl in acht, neun
mn geweien, daß ich denfen fann! Erſt
e8 der Sohn vom alten Orafen, der hatte
n Krieg dad Spielen angewöhnt und hat's
fen müflen. Dann kam's an Einen, ber
Lorf graben und Glashütten anlegen, da
Mes in die Fabrik, fogar die Kinder wurden
eingeſteckt. Nachher, wie's fchief ging und Die
Nichts brachte, da ſaß Alles da. Die
382
Acer waren ’runtergefommen, benn Alle hatten
fi) auf's Speculiten gelegt und hatten fih Ale
verfpeculitt; da ging’ an’d Verkaufen — be
Bauer wie der Herr. Erſt von jedem Bauergute
eine halbe Hufe an den Müller oder an den neuen
Gutsherrn, dann wieder ein Stüd an ben nad»
ften Gutsherrn. Der Jetzige hat's AN in ber
Hand, und es figen nicht mehr drei Bauern auf
den alten Hufen, und die da find, bie find in
Noth und find alt, können aber doc) nicht fort
vom Hofe, kommen nicht in's Ausgeding, denn
für Zwei trägt’d dad verarmte Wefen nicht, und
ein Alter Fann doch nichts Rechts mehr fchaffen.
Das wird den Jungen zu lang, und es ift Zanf
ohn Abfehen und End’ zwijchen Vater und Sohn,
Da laffen Sie denn einmal den Paſtor Davon pre
digen, daß fie Vater und Mutter ehren follen und
nicht begehren des Nächften Hab’. und Gut! —
Wer gotteöfürchtig fein foll, der muß es dazu
haben, das ift die Hauptfache! *
Friedrich hörte dem Alten mit Erftaunen zu. Es
war einer ber vermöglichften und bravften Bauern des
Dorfes. Wie er fechzig Jahre alt geworden, hatte er
383
ne die Wirthſchaft uͤbergeben und war in's
g, in ein kleines Haus gezogen, das zu
ut gehörte. Seinen Unterhalt bezog er
m feften Abkommen von feinem Sohne.
beftellte nur dad Stück Gartenland, das
‚rbehalten, und hatte fi) nun ganz auf
nzucht gelegt, die er mit Glüd und Vor⸗
eb. Dabei galt er für einen guten
und ihm und feinem Sohne ward es nach»
daß nie ein Armer bülflos von ihrer
ging. Aus dem Munde eines folchen
befamen diefe Worte für den fünftigen
ichen ein bedeutendes Gewicht.
n man Sie fo fprechen hört, Herr Schös
e er, „fo folte man eigentlidy) meinen,
or wäre ganz überflüffig auf dem
Bauer antwortete nicht glei. Er nahm
ab, Fämınte fic mit dem runden, breiten
der fein Haar im Naden zwijchen den
hren zufanımenhielt, mehrmals über den
d fah fich dabei feinen Gefährten behuts
als wolle er erforfchen, wie weit man
384
mit ihm gehen dürfe. Dann feßte er den Su
wieder auf, brüdte ihn tief in die Stine, ſo dej ſJ
er ihm die Augen ganz befchattete umd meinte:
„Ueberflüffig? I nun! juft überflüffig ift der ge
wis nicht, denn wie fol man fich taufen und
einfegnen und trauen unb begraben laſſen ohme
einen Baftor, und unferer ift von ben Als
beften Einer — aber anders koͤnnt' es freilich
fein!“
„Sa! wie denn aber?” fragte Friedrich.
„Zu arbeiten giebt's immer, Herr Candibat!
ift’d nicht das Eine, iſt's das Andre, und wer
richtig arbeitet, der wird auch fat. Da war
bier der Weber im Dorf, der bungerte mit Weib
und Kind, denn die Weberei ging nicht, und al’
Augenblid hatte ic einen von feinen Jungen in
meinem Garten beim Rübenausziehen und Apfel
ftehlen abzufallafchen. Aber faum war ihnen ber
Budel heil, fo waren fie wieder da, und ed wa
ren Jungens, die faum die Haut über die Kno
chen hatten, Zuletzt fah id, dad Prügeln nutzte
Nichts, fie ftahlen anderwärtd und der Eine fam |
zulegt in’d Loch,“
385
ad was wurde dann aus ihnen?” fragte
ich.
Was dann geworden ift? Ich bin dann hins
gen und hab’ den Weber genonmen und
gefagt: Wenn ich ſeh, mein Ader will
Kartoffeln mehr tragen, fo muß ich Nüben
Wenn Deine Weberei Nichts abwirft, da
u ein Narr, wenn Du immer weiter webft
ie Jungens Nichts lernen läßt, ald die Wes
bei der fie aus Noth fehlen und alle noch
Zuchthaus wandern. Du haft ja ab und
m Korb gemacht, wenn’d nöthig war, und
8 gut bezahlt befommen, mad)’ Körbe. — Und
ind fie auf dem Strumpf Alle fammt, fah⸗
it nem eigenen Efel 'rum durch's Land bie
: Stadt, und es ftiehlt Feiner mehr. Sind's
Körbe, fo ift’d was Andres!" —
Sie meinen alfo, der Paſtor follte darauf
daß die Leute Arbeit und ihr Ausfommen
i, damit der Mangel fie nicht zu Verbrechen
au
Es ſollt' wohl gut fein, Herr Kandidat! Es
manch’ Einer in den Himmel kommen,
ndlungen. II. 25
wenn's ihm nit gar zu fchlecht ging in da ſu
Welt. Blos preb’gen, was man nicht fol mi ir
wie man nicht in den Himmel kommt, das mahlt fi
lange nicht!“
Eie waren dabei bis zu dem ‘Punkte gelangt, Je
an tem ihre Wege ſich trennten. Der Baur J
blieb ftehen, zeigte Friedrich den Fußpfad, den a fi
einzufchlagen hatte, und fagte dann: „Nichts für |
ungut, Herr Candidat! und ed mag aud) fein
Gutes haben mit der Gelehrfamfeit, nur hier und
draußen nutzt's nicht viel! Alfo Nichts für un
gut!“
„Im Gegentheil! ich will mir's merken, und
ich danfe Ihnen, daß Sie mir es fagten! Ich
will von Ihnen lemen, wie man helfen Tann!“
tief Friedrich warm.
„Lernen? lernen kann ſo'n ſtudirter Mann wohl
Nichts von unfereinem, Herr Candidat! aber wad
ich fo gejehen hab’, das will ich Ihnen fagen,
wenn Sie's hören wollen! Guten Weg und Ab
jes! Herr Candidat!“
Damit wendete er fi) zur Rechten, und $rie
drich ſchlug den Steg zur Linken ein, Immer bem
387
— u
r entlang, defien leifes Murmeln ihn begleis
ber fo liebevoll er fich fonft in den Ges
ver Ratur verfenkte, heute fah er Nichts von
x fanften Schönheit um ihn. ber. Die Uns
ang mit dem Bauern befchäftigte ihn ganz
‚fie hatte eine Menge von Fragen und Ges
ı in ihm angeregt, die ihn ale in das
[che Leben hinauswielen. Was hatte auch
Studium der Kirchenväter, dem er durch
Jahre die ganze Thätigfeit, die ganze
gewidmet, mit den Bebürfniffen, mit der
l des täglichen Lebens gemein? Was hatte
Grunde in ihm felbft gefördert, als jene
el und Anfchauungen, welche feinem Water
ieſem Bauern aus ber eigenen Vernunft ges
:n waren, weil biefelbe nicht durch abfichts
Srziehung für die Theorie und für das Jen⸗
son der Erde und von ber Thätigfeit auf
gewendet worden waren,
er Nachtheil, welchen der Alte in dem Wech-
r Outöbefiger für dad Dorf erblidt, bie
Folgen der Fabriten auf den ruhigen Er⸗
eiß ber „Sanbbewohner ‚ bie Neorwendigkeit
388
des Erwerbwechfels bei wechfelnden Eulmrzuftin
den und eine Menge fi) daran Fnüpfenter Fra
gen, drängten fid ihm ploͤtzlich als ein Raheliv
gendes auf, und des Doctord Borausfagung, def
ein Aufenthalt auf dem Lande ihn lehren werk,
wie wenig bie Geiftlichen durch ihre theologiſchen
Etudien darauf vorbereitet würden, Seeljorger und
Volfserzieher zum werden, madıte fi ihm nur zu
ſehr als Wahrheit geltend.
Wie es in folchen Augenbliden geht, hatte
Friedrich kaum die Schloßwiefen erreicht und den
Inſpector aufgefunden, ald er von ben Dingen
zu reden begann, bie ihm im Sinne lagen. Er
erzählte, welches Geipräd er mit dem Bauern
gehabt hatte. Der Infpector hörte ihm ruhig zu
und meinte dann: „Es hat feine Nichtigfeit mit
Vielen, was er Ihnen fagte, aber der Alte ift
doch ein Fuchs!“
„Ich Habe nichts Liftiged, nichts Habfüchtigee
in ihm und feinen Behauptungen bemerfen koͤn⸗
nen!” entgegnete Friedrich,
„Sch meine auch nichts Schlimmes damit, er
ift eben ein Bauer, und in jedem. Bauer ftedt
389
chs und ein Ariftofrat zugleich!“ lachte
fpector, „denn gegen ben Hocmuth und
tolz des Bauern, der auf feinem Hofe figt,
der Adelſtolz unfered Herrn Barons nur
keit.“
ging dabei mit Friedrich auf der Wieſe
hatte die Augen uͤberall, und gab ab und
en Befehl oder eine Anweiſung, wenn das
ber Wagen nicht nach feinem Sinne ges
oder fonft irgendwo eine Verſäͤumniß ſich
en ließ.
ch glaube,” fagte er nad einer Weile,
ber junge Schöne ſich's beikommen liche,
auſch einzugehen, den wir ihm vorgelchlas
iben, der Alte ginge nicht mehr über feine
Ile, und der Sohn ift grade fo.”
3on welchem Tauſche fprechen Sie?“
5ie haben anderthalb Morgen Wieſe, dicht
zaſſer hier bei der unfern, die ihnen viel zu
om Hofe liegt und alfo unnüg Zeit weg⸗
Uns paßte die Wiefe, denn fie ift von
ıfern umfchloffen, und Schöne muß forts
id uͤber unſern Grund und Boden. Da
382
Aecker waren 'runtergekommen, denn Alle hatten
ſich auf's Speculiren gelegt und hatten ſich Alle
verſpeculirt; da ging's an's Verkaufen — der
Bauer wie der Herr. Erſt von jedem Bauergute
eine halbe Hufe an den Muͤller oder an den neuen
Gutsherrn, dann wieder ein Stuͤck an den naͤch⸗
ſten Gutsherrn. Der Jetzige hat's All in der
Hand, und es ſitzen nicht mehr drei Bauern auf
den alten Hufen, und die da ſind, die ſind in
Noth und ſind alt, koͤnnen aber doch nicht fort
vom Hofe, kommen nicht in's Ausgeding, denn
für Zwei trägt's das verarmte Weſen nicht, und
ein Alter kann doc nichts Rechts mehr fchaffen.
Das wird den Jungen zu lang, und es ift Zanf
ohn Abfehen und End’ zwilchen Vater und Sohn,
Da laflen Sie denn einmal den Paſtor davon pre
digen, daß fie Vater und Mutter ehren follen und
nicht begehren des Nächften Hab’ und Gut! —
Wer gotteöfürchtig fein fol, der muß es dazu
haben, das ift die Hauptfache!
Friedrich hörte dem Alten mit Erftaunen zu. Eß
war einer der vermöglichften und bravften Bauern dei,
Dorfed. Wie er fechzig Jahre alt geworden, hatte er
383
— —
Ihe die Wirthſchaft übergeben und war in's
ing, in ein Fleined Haus gezogen, das zu
s But gehörte. Seinen Unterhalt bezog er
einem feften Abkommen von feinem Sohne.
elbft beftellte nur das Stück Gartenland, das
h vorbehalten, und hatte fih nun ganz auf
3ienenzucht gelegt, bie er mit Glüd und Vor⸗
betrieb. Dabei galt er für einen guten
bar, und ihm und feinem Sohne ward es nach⸗
ymt, daß nie ein Armer hülflos von ihrer
velle ging. Aus dem Munde eines folchen
ned befamen diefe Worte für den Fünftigen
geiftlichen ein bedeutendes Gewicht,
Wenn man Sie fo fprechen hört, Herr Schös
fagte er, „fo ſollte man eigentlich meinen,
Paſtor wäre ganz überflüffig auf dem
e!“
Der Bauer antwortete nicht gleich. Er nahm
Hut ab, kämmte ſich mit dem runden, breiten
me, der ſein Haar im Nacken zwiſchen den
n Ohren zuſammenhielt, mehrmals über den
‚ und fah ſich dabei feinen Gefährten behuts
an, als wolle er erforfchen, wie weit man
3904
hatte er ſich gewendet, ſondern zuruͤck, zum Dorfe
hinaus.
Flůchtigen Fußes eilte er davon, vorwärts,
immer vorwärtd. Die Arbeiter, die vom Felde
famen und grüßend an ibm vorüberzogen, wur
berten fi, daß er ihnen feinen Gruß erwiberte
Cr ſah fie nit, er wußte aud) nicht wohin er
wollte. Ein unflared Empfinden hatte ihn von
dannen getrieben, endlich zwang die Ermüdung
ihn an fid) zu denfen, und er ftand ftille,
Die Dämmerung war angebrocdhen, im mals
tem Blau zeichnete ſich die lange Linie des Hori⸗
zonted vor ihm ab, Der Nebel ftieg aus den
Wiefen empor, denn der Abend war fühl gewor⸗
ben. Erhitt wie Friedrich es war, fehauerte er frös
ftelnd zufammen, Er befand ſich auf der Brüde,
Das Waſſer floß langfam unter dem Bogen bin,
Ri und kühl, Er blidte hinab, als folle ihm
von dort her Zöfung kommen, „Auf welche Frage
bedarf ich denn der Löfung? was ift mir denn
geſchehen?“ fragte er ſich.
Er hatte keine Antwort darauf, aber er fühlte
alle Schmerzen und Freuden der Bergangenheit
395
fen in feiner Bruft, er fühlte, daß er wies
r Ruhe entriffen war, die er fo fchwer errun⸗
atte, und er fragte fi, ob es nicht weiler
ch und ber Gräfin ein Wieberfehen zu er-
‚ das Beiden doch nur traurig fein konnte.
a wendete er feine Augen nach dem Dorfe
r, — bie Fenfter des Schloffed waren er-
t. „Dort alfo ift fiel” dachte er. Sein
wallte auf — und gezogen von dem Bers
‚ fie nur einmal noch zu fehen, Tehrte er
yorf zurüd,
8 er dur) bie dunklen Alleen des Parkes
trat ihm in deutlicher Erinnerung die Nacht
n, in der er fih von ihr getrennt, So
ı Luftzug fich regte, glaubte er, fie müfle
ber Zufall müfje ihm wie damald günftig
Er konnte den Gedanken nicht ertragen, ihr
jenwart des Grafen, in Gegenwart der Ans
ju begegnen — aber Niemand kam und ein
langte er an’d Schloß.
der Halle war Alles leer, Keine unge
che Bewegung verrieth der Gäfte Ankunft,
n Borfaale des obern Stodes fand er einen
3%
Diener, den er fragen fonnte, wo bie Herrichaft
jei?
„Im Theezimmer!“ erwiderte diefer und fchien
verwuntert über feine Frage.
Der Athem ftodte ibm in ber Bruft, nur
no ein Zimmer trennte ihn von ihr. Die
würde er fie wiederfinden? Wie würde fie ihn
entgegentretn? Gr zauderte. — Rod konnte er
zurüd — abet er mußte fie ſehen. Mit rafchen
Entſchluſſe öffnete er die Thüre des Gemaches,
das fi zwiſchen dem Vorſaale und dem Thee⸗
zimmer befand, ein lebensgroßes Bruftbild, von
der Lampe heil beleuchtet, ftand auf einer Staf
felei — es war Helene.
Wie angewurzelt blieb er vor bemjelben ſte⸗
ben. Gin dunfelrothed Sammtkleid umgab ih—
ren Leib, ein Diadem von Brillanten Frönte ihre
Stirne. Kin ftrahlended Siegeöbewußtfein war
über die ganze Erfcheinung ausgegoflen. Sein
Herz Frampfte fi) zuſammen, dieſe Gräfin Et.
Brezan war nicht mehr Helene, fie war ihm eine
Fremde.
In ſchmerzlicher Verſunkenheit konnte er die
N
— — —— — —
nicht von dem Bilde wenden. Es war
18 muͤſſe ver Ausdruck der Graͤfin ſich uns
em Auge aͤndern, als müffe die Geliebte
Jugend daraus hervorgehen in ihrer uns
polen Schöne, aber das ftrahlende Lächeln
ch nicht, und mit Thränen in den Augen
er: „Mußteft Du mir auch noch die Ers
ig nehmen, unglückſel'ges Weib?"
ſchreckte auf, als die Thüre fich öffnete.
it Cornelie, die hereintrat.
3ie finden Sie das Bild?, rief fie ihm ents
„Helene fehreibt, es fei das Beſte, das
r gemacht iſt!“
ie ſchreibt?“ — wiederholte er, als vers
: fie nicht.
uch Seldheim und die Frau, die es mitgebracht
halten es für gelungen,“ fagte Cornelie.
Baftorin war eben mit ihnen hier und ganz
ich vor Freude über ihred Bruders Ankunft.
ehn Jahren Hatten fie ſich nicht gefehen!“
r Umfchwung in Friedrich8 Ideen und Em-
ıgen war zu heftig geweſen. Seine ®lies
fagten ihm den Dienft, er mußte fich feßen.
398
Sein Kopf brannte, bunte verſchwimmende Fun
fen flirrten vor feinen Augen auf und nieht,
und zwifchen ihnen durch blidte ihn immer dab
Bildnis der Gräfin mit feinem ftrahlenden %
chein an, das ihm das Herz zerriß. Er glaubte
fih auf der Brüde zwifchen den Wieſen, die Falte
Abendluft durchfchauerte ihn wieder, die Tiefe dun⸗
felte unter ihm, und ſchwindelnd ſank er hinab,
während er einen Hülferuf Eorneliens zu verneh⸗
men glaubte.
Zwanzigfied Kapitel,
ierzehn Tage waren feit jenem Abende ver
n und nod) lag Friedrich in den Phantas
eines Nervenfiebers. Die Lampe leuchtete
Yinter dem Schirme hervor und ließ bie bleis
abgehärmten Züge einer greifen Frau erfens
die mit gefalteten Händen zu Häupten feis
jettes wachte. Es war feine Mutter, hr
iber faß Augufte,
uf diefe Nacht haben wir nun fo gewar-
fagte die Meifterin, ohne bie forgenvollen
von ihrem Sohne abzuwenden, „nun wird
d um fein, und es rückt und rührt fich nicht
m!“
400
„Er ift doch aber nicht mehr ganz fo lebles
ald noch geftern Abend, * tröftete Augufte.
„Sa! es fieht jo aus, als fchliefe er nur!“
gab die Mutter zu, bereit fich jeder auch ber les
feften Hoffnung hinzugeben. Allein des SKranfen
Todtenbläffe ließ Feinen rechten Glauben in ihr
auffommen. „Den Schlaf ift aber nicht zu
trauen!“ feufite fi. „Er wird mohl fo file
wegfchlafen, wie fein Vater auch. Der Arme fol
ja einmal nichts haben! —“ Dabei legte fie die
Hand taftend auf ded Sohnes Stim und Wars
gen, ſah voll Zärtlichkeit zu ihm herab und fagte:
„Und wie hat er mir zugeredet: hab' nur Ge
duld, Du ſollſt nicht mehr lang’ allein fein, Du
fommft zu mir auf die Pfarre und wir wirthfhaf
ten zufammen! Er hatte von je das beſte
Herz! — Daß ift nun aud) vorbei! ch wollte
nur, ich läge da, denn ich bin alt und bin mein
Leben fatt — aber wenn Einer fo jung iſt!“ —
Sie fonnte nicht weiter fprechen, fondern bemegie
langfam und ſchmerzlich den Kopf, als könne fie
das Schickſal, das ihr drohte, nicht erfaffen.
Augufte hatte ihr theilnehmend zugehört. „Ad,
401
te bei den letzten Worten der Meifterin,
gend thut's nicht. Mancher ift jung und
rzlich gern an feiner Stelle!“
rädige® PBräulein, verfündigen Sie ſich
ı Gott und Ihren Eltern!" warnte bie
“
tem? Ich habe Feine Eltern mehr, Frau
er doch Geſchwiſter?“
e kenne ich faſt nicht! Ich bin ſo allein
e Welt,“ rief fie leiſe mit unterdruͤcktem
„jo allein und verlaffen, und fo über
daß ich Gott danfen wollte, Täg’ ich bier
drich's Stelle. Um mid würde feine
fließen, feine! Glauben Sie mir das! -—
jt er fi) nicht, Frau Brand?“
e Frauen bogen fid) über ihn nieder,
hatte fich getäufcht. Die Lethargie dau⸗
, und nachdem das Fräulein der Mutter
hatte, die Kiffen ded Kranken zu ordnen
ı wirred Haar von feinen heißen Schlaͤ⸗
Azufchlagen, herrfchte ein tiefes Schwei⸗
dem Zimmer,
ungen. II, 26
402
Draußen begann bad erfte Grau des Tageb
aufzubämmern, die Vögel erwachten und zwiticher ii
ten ihm entgegen. Das machte die Traurigkeit
und Angft noch Laftender in der Krankenftub, fi
denn die Natur übt ihren Einfluß auf und au,
auch, ohne daß wir und Nechenfchaft davon ji
geben wiflen. Wenn ein Menfchenleben feinem
Ende zufinft, fcheint der Tagesanbruch und wie fi
bittrer, Falter Hohn. Augufte faß traurig und in fid
verfunfen da, ber Mutter Blide wurden immer fi
ängftlicher, je mehr bie wachfende Tageshelle fe J
die veränderten Züge ihres Sohnes unterſcheiden J
ließ; aber fo fehr fie auch mit ihm befchäftigt
war, konnte fie fich nicht erwehren, auch an bad
Sräulein und an deſſen Kümmerniß zu benfen,
denn Augufte hatte dad ganze Herz der Meifte
tin gewonnen. Grau Brand hatte fich ihr feit der
Stunde ihrer Ankunft auf dem Schloffe nicht fo fremd
gefühlt ald Cornelien und- dem Baron gegenüber,
und mit richtigem Tacte empfand fie es, daß
Augufte ſich nicht herabzuftimmen brauchte, um
ihr wohlthuend zu werden. Mitleidig von Na
tur hatte fie ſchnell Auguftens ftillen Gram br
403
jet hielt fie fich nicht mehr und mit
urüdhaltung fagte fie: „Sie find fo gut
en Brig und fchonen fich felber nicht bei
md Nacht. Es kann mir leid thun, daß ich
» gering bin; aber Ihnen drückt auch Ets
ad Herz ab, das kann ein Blinder fehen!“
8 löfe das einfache Wort alle Schmerzen
er Bruſt, fo plöglic und fo heftig ftürzten
tens Thränen hervor, Sie preßte ihr Tuch
das Gefiht und trat an's Fenfter. Die
rin folgte ihr, Sie wußte fich felbft nicht
then und wollte doch fo gern helfen. Uns
fig, was fie thun folle, legte fie die Hand
auf Auguftend Schulter, ftreichelte fie fanft,
man einem Kinde liebfoft, und fragte leife:
weinen wohl um ihn, und waren ihm wohl
n
Iugufte richtete fih empor. Das liebevolle,
erliche Wefen ergriff und rührte fie, dennoch
cat fie vor dem Irrtum der Meifterin, und
ell gefaßt entgegnete fie: „Ach, Sterben ift noch
‚t das Schlimmfte! aber verlaffen und verra-
en werden, das iſt's, das ift es! — Ich war
26*
402
Draußen begann das erfte Grau des Tages
aufzubämmern, die Vögel erwachten und zwitfcher
ten ihm entgegen. Das machte die Traurigkeit
und Angft noch laftender in der Krankenſtube,
denn die Natur übt ihren Einfluß auf uns aus,
audy, ohne daß wir und Rechenfchaft davon zu
geben willen. Wenn ein Menfchenleben feinem
Ende zufinkt, fcheint der Tagesanbruch und wie
bittrer, Falter Hohn. Augufte faß traurig und in fid
verfunfen da, ber Mutter Blide wurden immer
ängftlicher, je mehr bie wachfende Tageshelle fi
bie veränderten Züge ihres Sohnes unterfcheiden
ließ; aber fo fehr fie auch mit ihm befcyäftigt
war, Fonnte fie fich nicht erwehren, auch an das
Sräulein und an befien Kümmernig zu benfen,
denn Augufte hatte dad ganze Herz der Meifle
rin geivonnen. Frau Brand hatte fich ihr feit ber
Stunde ihrer Ankunft auf dem Schloffe nicht fo fremd
gefühlt als Cornelien und dem Baron gegenüber,
und mit richtigem Tacte empfand fie es, daß
Augufte fi nicht herabzuftimmen brauchte, um
ihr wohlthuend zu werden. Mitleidig von Ra
tur hatte fie fchnell Auguftens ftilen Sram be
405 __
ad erfte Zeichen von Bewußtfein, das
Beginne feiner Krankheit gegeben hatte,
ſich vor Freude, fiel die Meiſterin dem
m den Hals.
ieſer Stunde begann die Beſſerung, ob⸗
ur ſehr langſam vorwärts ſchritt. Die
und Sorge der Schloßbewohner ließen
nach, das Leben kam wieder in ſeinen
Gang zurück, und die Anweſenheit der
hen Familie erwies fich bald als ein
tille des Pfarrhauſes verwandelte ſich
igfte Treiben. Die Eltern waren froh,
mn die Freuden bed Lanblebend auf
hen Dorfe zu bereiten, von denen fie
talien fo oft erzählt, und die jebt vier
hellblonde Agnes ſchien recht eigents
je Umgebung bineinzupaffen. Bei dem
n bed Vaters hatte dad junge Mäd-
Reiz einer feftbegründeten Haͤuslichkeit
n lernen, fo fchön fie den Segen
flihen Familienkreiſes auch genoffen
auf ben Augenblid und dad nächfte
%*
404
Braut und — das ift nun vorbei!” ftieß fie mi
Meberwindung hervor.
Damit ging fie an dad Kranfenbett zurüd
dem Gefpräche ein Ende zu machen. Aud bi
Meifterin feßte fich wieder zu dem Sohne hin
indeß ihre Gebanfen waren wie verwirrt. Da
man um etiwad Anderes weinen fönne, als u
ihn, däuchte ihr unmöglich, daß Augufte, bie |
treu mit ihr bei Friedrich wachte, ihn liebe un
um ihn verzweifle, hatte ihr fo natürlich gefcji
nen. Friedrich wollte ja immer nur eine gebilbe
Frau. Warum liebte fie ihn denn nicht? warm
einen Andern? „Ein Mädchen figen laflen! ta
hätte der Brig nicht gethan!“ fagte fie Taut ir
Selbftgefpräch, „denn der ift treu wie Gold!“
Augufte fah fie verwundert an, aber in ber
Momente athmete der Kranke tief und langfam
und fehlug matt die Augen auf. Sein Blid fi
auf Augufte, er fehien fie zu erfennen, denn t
hob mühfam die Hand empor, als wolle er fi
ihr reichen; indeß bie Kraft verfagte ihm, un
ohne zu der Mutter aufzufchauen, bie fich üb
ihn berabneigte, ſchloß er die Augen wieder
zer Jubiläum verehrt; und von ber Uhr
dem Beinen Hausrath war Alles Bier
iligthum, eine Reliquie für Feldheim for
% für die Seinen.
Einderlofe Pfarrerin aber fühlte fich wies
3, wenn fie mit Agnes die Plaͤtze befuchte,
n fie den Maler, den Rachgebornen ber
‚ als Kleines Kind behütet, fie ftand
igem Lächeln Hinter dem Mädchen,
8 mit Luft die Kleinen altmodifchen Ges
: oder gar das verblichene Brautfleid der
anverfuchte, und dankbar gerührt für fo
be, fühlten: fi rau Feldheim und Agnes
ter zu der Pfarrerin gezogen, deren eins
ſtilles Leben ihr fchon feit Jahren eine
nhafte Haltung angeeignet hatte. Dom
bi8. binab:-zum: füngften Knaben Feld⸗
war Alles voll Behagen, voller. Liebe uns
befcheidenen Dache, und ſchon nad wes
gen hatte auch Corneliens Berhältniß zu
ften des Pfarrers eine Bedeutung für fie
en, die Zufriedenheit ber Gatten und der
ihr wohlgethan und fie ihr werth gemacht.
X
408
— — — — —
Die ſichtliche Verehrung, mit welcher Feldhein
und feine Frau der Gräfin anhingen, war ein
Grund geworben, fie und Eornelie noch ſchneller
zu einander zu führen, und es verging bald
Tag, an dem fie fi nicht fahen, an dem €
nelie nicht eine Stunde in dem Dachftübchen ver
weilte, das Zeldheim ſich zum Atelier erkohren,
weil er dort ald Kind gewohnt.
Eines Abends, als das Fräulein zu ihm cin
trat, hatte er Pinfel und Palette ſchon fortge Wi
legt, und ſah, die Frau im Arme haltend, zu dem fi
geöffneten Kleinen Fenſterchen in’d “Dorf hinaus.
„Ih ſprach in dieſem YAugenblide von Ihnen!“
fagte er, nachdem er fie willfommen geheißen
hatte. „Sie folten die Gräfin überreden, einen
Sonmer bier mit Ihnen zu verleben !“
„Wie fehr wünfche ich das felbft!* entgegnete
Gornelie, „aber fo oft wir fie darum gebeten ha
ben, bat fie es abgelehnt. Noch in diefem Jahre,
als ihe Georg die Hoffnung ausſprach, fie vor
feiner Abreife aus dem Baterhaufe wiederzufehen,
bat fie verfichert, nicht kommen zu können“ “
Feldheim fann eine Weile nach, dann rief er:
409
fenne Sie noch nicht lange, aber mich
id Eenne Sie gut. Man darf ein offen
m Ihnen ſprechen!“
nbedenklich!“ entgegnete Gornelie.
un denn! fo geftehe ich Ihnen ehrlich, ich
‚ die Sräfin fehnt fich hieher, aber fie fürch⸗
Rückkehr in dad Baterhaus |” |
rnelie fchien betroffen, Frau Feldheim kam
r Hülfe. „Die Gräfin ift fo ungluͤcklich,“
te, „daß ihre die Erinnerung an ihre Ju⸗
che thun würde, und —*
ein!® fiel ihre der Maler in's Wort, „ed
nmal gefagt fein zu einem Weſen, das ber
Helene Schidfal liebevoll im Herzen trägt;
ie Erinnerung an ihre Jugend ift es, bie
htet, fie ſcheut die Stille des hiefigen Les
weil fie die Einkehr in fich felber ſcheut.“
elle, .von der Schwere biefer Worte ges
‚ flog die Augen mit der Hand. „Und
je fie fo fehr geliebt!“ rief fie aus.
hun Sie das, thun Sie dad auch jetzt!“
du Feldheim, „denn die arme Gräfin hat
big!“ |
410
„Wir find uns fremd geworben!” klagte Cor
nelie. „Als Erich in Italien war, Hatte fie. eine
Leidenfchaft für einen Maler gefaßt. Damals
ſprach fie mir nody davon in ihren Briefen, und
ichilderte mir den Zuftand ihres Herzens. D4
die Sorge, die ich um fie begte, ob meine Ber
griffe von der Heiligkeit der Ehe, die ich ih
nicht verhehlen Eonnte, ‚fie dann beivogen haben,
gegen midy zu fchweigen, weiß ich nit — — —
dann glaubte ih —“ fte hielt ime — „id; hatte
mich felbft verloren und fie faſt wergefien!“ rief
fie im Tone fchmerzlicher Selbftanflage.
„Ich weiß das!“ fügte Feldheim, „meine
Schweſter hat mir davon gefagt. Wohl Ihnen,
dag Sie ſich zuruͤck in's Xeben finden. Ihr tuͤch⸗
tiger Kopf iſt auch zu gut für Weltentfremdung-
Sie. hatten e8 bach nur mit ſich allein zw thun,
die arme Gräfin aber ift, feit Camillo ſich mit
einer reichen ruffifchen Prinzeß verheirathete, in
bie Hände eined wahren Daͤmons gefallen, ber
feine Gründe hat, fie feft zu. halten.“
„Aber der Graf?“ ‚fragte Cornelie beängftigt,
— „läßt denn ber Graf fie ſchutzlos?“
N
1
411
et Maler zuckte die Schultern. „Ihre
der hat mir ſelbſt geſagt, ſie habe einſt
m Grafen volle Freiheit für ihr Handeln
rt und er habe fie ihr mit feinem Wort
t. Er läßt fie gewähren. Die Gräfin
eider davon auch ganz allein die Schuld! *
ch! rechtet nicht! rechtet nicht vor ſolchem
“ rief Cornelie und brady in Thränen aus,
mir, Ihr, die Ihr Menfchen feid, was
was thut Helene?“
dheim antwortete nicht gleich, ſchien zu
en und fprah endlih: „Geben Sie mir
tort zu fchweigen, fo follen Sie es wiflen!“
rnelie reichte ihm die Hand, er nahm fie
gte: „Die Bräfin malt von früh bis fpät,
it dem Ertrage ihrer Arbeit die immer neuen
ven jened Elenden zu beden, fo weit es
y it! Er felber hat einen verfchiwiegenen
dmann gefunden, der die Gemälde außer-
erhandelt! Im Saale Ihres Serm Vaters
ein ſolches Bild!” |
n unferm Saale?" fragte Cornelie mit
lihem Erftaunen.
d
a2
„Das Feſt der Madonna von Piedi Grotta“ —
„SR von Agnello!“ — fiel ihm ornelie
in's Wort.
Feldheim fchüttelte verneinend das Haupt.
„Es lebt in ganz Italien fein Maler diefes Ne
mens, alle‘ Werke, welche unter bemfelben feit
drei Jahren Auffehen in der Kunftwelt machten,
find Arbeiten der Frau Gräfin,“
„Aber die Berichte der Journale über Agnel⸗
lo's zurücgezogene Lebensweife im Gebirge, über
feine Anonymität und feine einfamen Reifen in
fernen Zonen — —“ |
„Sie find offenbar erfunden, der Gräfin freie
Hand zu lafſſen!“
Cornelie fühlte fih wie von grelem Licht ges
blendet, nicht fühlg die Zuftände zu überfehen;
aber dad Elend ihrer einzigen Schwefter ftarrte
ihr wie ein bobenlofer Abgrund entgegen.
„Mnd das Alles gefchah! fie rang mit aller
Roth des Lebens!” rief fie endlich aus, „fie ar
beitete Tag und Nacht und ich, ich dachte nur
an mid und an mein Seelenheil! *
Sie weinte bitterlih. Als fie ſich beruhigt
413
», reichte fie den Freunden die Hänbe und
„Sagt mir, was fol ich thun?“
„Nach Reapel gehen, da die Gräfin es ablehnte
er zu kommen,” meinte Feldheim.
Bornelie horchte auf, der Gedanke traf fie und
n in ihr eine Reihe von Vorftellungen zu er
m. „Das gab Ihnen Gott ein!" rief fie
— „Sie werben uns Beide erretten!“ und
furz verabfchiedend, entfernte fie fich gleich
uf.
Ste war ftil und nachdenfend den ganzen
id; ald der Baron zur Ruhe gegangen war,
fie fih Schreibgeräthe in den Saal bringen,
fi) vor dem Bilde ihrer Echweiter nieder
ſchrieb faft bi8 zum Morgen. Fruͤh als ber
he Bote in das nächfte Städtchen ging, nahm
wei Briefe für die Gräfin und für Pleſ—⸗
mit. Man Eonnte fie al8 Befenntniffe be-
ıen. Der Brief an Pleſſen lautete: |
Se näher der Tag unferer beabfichtigten Vers
ng und Deiner Ankunft mir rüdte, um fo
er ift mein Herz geworden, um fo enftlicher
ch in mid) gegangen, mich zu prüfen und
Aa
diefe Prüfung bat mir unwiderleglich dargethan,
daß wir uns fchon feit längerer Zeit nicht mehr
auf gleihem Standpunkte befanden, daß wir «6
wußten, und und nur der Muth gebracdh, es aue
zufprechen! Sch klage Dich, ich Elage mich bed
bald nit an, mein Freund! Der Irrthum, ke
und umfing, hatte feine Quelle in unferer ganzen
Slaubensrichtung, dieſe ift nicht mehr diefelbe
und wir dürfen und alfo auch nicht länger taw
{hen ber die Bedeutung, die wir für einander
hatten, die wir fünftig für einander haben Eönnen!
„Erfahrungen der fchmerzlichften Art Haben
mich belehrt, daß der blinde Glaube, den wir zu
unferem Panier erhoben hatten, ein Verbrechen
gegen die Vernunft, daß er bie Duelle alles
Aberglaubend und die Urſache der traurigften
Derwirrungen im Leben werden kann. Du felbft,
Lieber! haft es mir einft geftanden, wie die gänz-
liche Ungleichartigkeit unferer Naturbegabung, bie
mich Dir zuweilen als eine erwünfchte Freundin
erfcheinen ließ, Dir noch öfter fremd und abftos
Bend gewefen ift, und wie Du ftetd Bedenken
getragen haben wuͤrdeſt, Dich) mit mir zu verbins
4
415
hätte nicht ein Fingerzeig des Höchften, wie
es nannteft, Dich zu mir geführt, Weil Du
9 betrachteft, bift Du auch jet geneigt, ein
dniß aufrecht zu erhalten, dad und Fein Heil
yricht, denn wir empfinden, denken, glauben
t mehr gleih — und was ift die Ehe, was
ı fie fein, wo diefe Grundbedingungen ihr fehlen?
„Grade unfere Unzufammengehörigfeit konnte
die Lehre geben, daß ed ein Frevel war, in
m Zufalle, der und verbunden, den Fingerzeig
8 Gottes fehen zu wollen, den wir ald den
veifen, den Allgütigen verehren. Gott kann
richt wollen, daß fein Ebenbild, der Menſch,
orgehe aud den Umarmungen zweier Gatten,
m die rechte Liebe fehlt, die fich Feine ausfuͤl⸗
e Nothwendigkeit, und die dahin gefommen
, einander ald die Mittel der Selbiterziehung
betrachten, jener egoiftifchen Selbdfterziehung,
den Nächten vergißt, wenn er nicht ebenfalls
st wird, die eigenen Tugenden an ihn aus—⸗
N und zu entfalten.
Wir glaubten uns einfeitig und ausfchließlich
Is ſelbſt vollenden zu können und vergaßen,
416
daß wir nicht ald Einzelmejen daſtehen, fondern
daß jeder von und mit angeborenen Verhältnifien,
mit angeborenen Pflichten auf die Welt fommt, und
dag man fi durch eine Erziehungsweife nicht er
heben kann, die und von jenem naturgemäßen Bw
den unferes Lieben und Wirfens entfremdet. Wit
glaubten und zur höchften Selbftlofigfeit erheben
zu müflen, und wir verarmten an Liebe, wir wol
ten werden wie die Kinder und verlernten, und
wie fie dem Zuge unferer Herzen, unferer Neigum
gen unbefangen hinzugeben, Wie aber durften
wir e8 wagen, und diefem Zuge der Natur zu
überlaffen, da wir und fagten: „des Menfchen
Dichten und Trachten fei böfe von Jugend an?"
Wie durften wir ed wagen, von dem allweifen
Gott der Liebe zu behaupten, daß er den Mens
ſchen alfo erfchaffen ?
Sch fehe mit fchmerzlichem Erfchreden, wit
fehr ich irrte, wie viel ich verfäumte, wie viel
ih gut zu machen habe, an meinem Vater, an
meinen Gefchwiftern und vor Allen auch an Dir.
Sch würde verfuchen, Dir meine Zufunft zu wer
hen, zu Deinem Wohl zu leben, hätte ich eb
417
— — — — — —
klar empfunden, daß eine Frau dem
ie wohlthuend zu werben vermag, dem
ht aus innerer Nothwendigkeit in freu⸗
iebendem Müflen dienftbar macht. Die
ve ift ein Richtanderdfönnen, ift ein Un⸗
ed, iſt ganz Empfindung ohne Re
- und alles Befte in und muß ja fo
iß aus und hervorgehen, wie die Blüthe
Stiel der Blume. So habe ih Dich
ebt, fo fönnte ih Dich nicht lieben,
Eympathie, die mich zu Dir gezogen
ne ed feine Härte meines Weſens, daß
iefem nadten Geftändniß vor Didy trete;
» es Dir und mir, Dir feinen Zweifel zu
b darf, nun ih den Zuftand meines
enne, nicht die Folgen eines Irrthums
e Häupter herabziehen, in den wir und
ich verftridt haben.
halte Dich wertb und in Ehren, denn
ehr gut und bift mir immer ein milder,
er Freund geweſen. Ich danfe Dir
‚ aller Art, Dein Wohl und Weh wird
theuer fein, Dein Andenken geheiligt,
gen. I. 97
418
und Loch fann ih Dein Weib nicht werden,
Dad Einzige, was ich für Dich zu thun vermag
in unjerer Lage, ift, daß ich es bin, die unſer
Buͤndniß löft, daß ich Dir Deine Freiheit wieder
gebe, die Du wohl auch erfehnft, und die Deme
Großmuth fich fcheut von mir zu fordern.
„Du ſuchteſt Ruhe und Dein milder Sinn
wird fie finden in der betradytenden Stille, zu
der Du Dich zurüdzuziehen vorhaft, Du wirft
auch meiner dann wieder freier und Liebevoll
denfen, und wirft vergeben, was Dich an mit
fränfte, was meine Unbefriedigung Dir an Veh
gebracht,
„Sch aber will fortan ftreben, mich wieder
zufinden, indem ich mich vergeffen lerne, mid) zu
erziehen, indem ich mich an Andere hingebe. Id
will verfuchen, immer nur das Nächfte anzugrei
fen, damit mir fchlichted Thun das reflectirte
Wollen abgewöhne und meinen Hochmuth nie
berhalte, der die Duelle aller unferer Leiden war.
„Eine Liebespflicht ruft mich in die Serne;
ih hoffe, mein Vater geftattet mir, fie zu erfüllen
und Helenen Beiftand und Troſt zu bringen, bie
N‘
419
ſehr bedarf. Die Entfernung wird ſich
lthuend legen zwifchen Dir und mir, und das
ußtfein uns über dad Weh eines folchen frei«
gen Scheidens forthelfen, daß wir bamit das
‚te thaten und Uebel von und abgemwenbet
N. |
„So fei denn der Segen des Himmeld mit
Beiden und das Auge Gotted auch auf dem
de, den ich zu gehen denke. Xebe wohl, guter,
r Freund! erinnere Dich meiner, wie ich an
7 gedenken werde, in Neigung und in Mit-
bl, und bete für mich, wie ich zu Gott flehen
de um Dein Heil, um Deinen Frieden, — —
it laß und fcheiden!“
Tief aufathmend hatte fie den Brief beendet.
Rı faltete fie die Hände zum Gebete; aber
— hatte fie es gethan, als fie fih erhob,
zu jet beten!” rief fie aus, „ift es doch Bots
Rube, die ich fühle, war es doch eine Got⸗
inme in ber eignen Bruft, die mich fchon
ermahnte, zu handeln, wie ich jest gethan.
' mußte fein, ed war Nothwendigfeit, und
war’d Gebot!”
27*
20
An dieſem Moment fielen ihre Augen auf
dad Delgemälde, das Werf der Gräfin. „Und
dält nicht auch Helene ihre Handlungsweife für
Rotbwendigkeit? If es ihr nicht Nothwendigkeit,
dem Wanne beisuftehen, der fie beherrſcht? Schien
ed ibr nicht eine Nothwentigfeit, als fie vom
Grafen ibre Freibeit forterte? Hielt er es nicht
für nerbwentig, fie zu gewähren? — Wo if
die Graͤnze? wo tie Wahrheit?“ fragte fie fih
prüfent, und ohne Betenfen antwortete fie fi:
„Das, was ter Menſch in ruhiger Ueberlegung
fortdauernd al& eine Rothwendigfeit für fich ers
fennt, das ift Geſetz für ihn, dem muß er fol Ä
gen; und darin liegt der Friede,” fchloß fe
tie Sclbitbetrachtung, „ben ich jegt empfinde.“
Daß fie mit dieſer Erfenntmiß den Gott ents
thronte, der über der Erde die Thaten der Mens
jchen lenkt und wägt, daß fie den Gott in ihre
eigene Bruft verjegte, den fie fortan zum Gejeb:
geber und Richter über ſich erhob, deſſen war fie
ſich in Liefer Stunde nicht bewußt; aber bie
Gedanken, die in und entfiehen, find die Pfeiler,
aud denen fi) unſere Zukunft aufbaut,
a
a an nn nn
Achtzehntes Kapitel,
eich von der Ermüdung der durchwachten
bewegt durch innere Erregung, trat Cor»
m naͤchſten Morgen vor den Vater hin.
ch komme, lieber Vater!” fagte fie, „von
e Billigung eines Schritted zu erbitten,
gethan habe!“
t Baron, der eben eine Unterredung mit
nfpector beendet hatte, und mitten unter
ingsbuͤchern faß, fchien zufrieden zu fein
m Erfolge feiner Conferenz, denn er ſah
aus, und ſich zu der Tochter wendend,
er fcherzend: „Der Billigung nach) voll;
r That kannſt Du entrathen; aber ich hoffe
422
Dir zuftimmen zu fönnen, ba es fih um feine
Lebendfrage handeln wird. Was wünfcheft Du?“
Cornelie fühlte ſich durch die feltene Heiterkeit
bed Vaters befangen. Sie hätte ihm die gute
Stunde nicht trüben, ihm die Mittheilung in die
fem Augenblid nicht machen mögen, und zögernd
fagte fie: „Dennod ift es eine Lebensfrage,
Vater!“ —
Er fah fie fragend an.
„Ich habe Herm von Pleffen fein Wort zw
rüdgegeben!”
„Nein! Nein!“ rief der Baron, indem er fd
erhob und mit der, ganzen ftolzgen Haltung feiner
würdigen Geftalt ihr gegenüber trat. „Das haft
Du nicht gethan!“
„Ich that es, lieber Vater!" wiederholte fie
mit einer Weichheit, die ihr dem Baron gegen |
über fremd geworden war; „ich mußte «8
thun!“
„Du mußteſt? Wo gab es ein Muß für Did, |
ald den Willen Deined Vaters? Mo gab es ein
Muß für Dih, ald mir zu geborchen, als bie
423
y zu fchließen, in die zu willigen ich mid)
Biderftreben entfchloffen habe, um Deine
u retten, um — —“
ch weiß dad, Vater!” bat fie, „ich weiß,
Dir ſchwer ward, mir damald Deine Zus
ng zu geben, und ich habe dad Opfer Dir
erzen gedanft — aber grade darum —
in ich Dein Spielball?" zürnte der Baron,
: Du, ih folle dad Werkzeug Deiner Thors
Deiner Selbftverblendung fein? wortbrüchig
ı am Ende meines Lebens?" —
ater!" bat Gornelie, „und hatte ich nicht
ein Wort zu löfen? Sollte ich denn
n, dad Weib eined Manned zu werben,
nen Manne unterzuorbnnen, den ich fchäßte
rt den ich nicht zu achten, nicht — —“
u hatteft den Mann zu’achten,“ fagte der
‚ „der fi großmüthig dazu bergab, Dei⸗
uf zu retten, denn diefen Ruf — hats
» entehrt!“
wter!“ rief Cornelie, „Vater! nimm das
drück.“
x hatteſt Dich entehrt!“ wiederholte er.
424
„Oder meinft Du, ich hätte den Tag vergeflen,
an dem ic) daftand neben Dir vor Deinen Ric»
tem? an dem ich meine Tochter, an dem id
eine Freiin von Heidenbruck um die Art ihrer
Gemeinfhaft mit Männern befragen hörte, bie
man ber Unfittlichfeit befchuldigte? Glaubſt Du,
das Nichtfehuldig der Richter fpräde Dich frei
in den Augen der Welt? Glaubft Du, es nähme
den Schimpf von meinem Haupte, den Du
mir angerhan? Denkſt Du, ich Fönnte bad
vergefien? Denkſt Du nit, daß mir Dein
Anblid in jeder Stunde ed vor die Seele ruft,
wie weit Du Dich vergangen, bi6 wohin Du es
gebracht haft?“
Sein Gefiht flammte, feine Blicke brannten
in Zorn.
Eornelie regte fi) nicht. Keine Thräne fam
in ihr Auge, fein Laut über ihre Lippen. Sie
fhien erftarrt zu fein. Der Baron ging mit gt
Ben Schritten im Zimmer auf und nieder, plöß
lich blieb er vor ihr ftehen.
„Du wirft Pleſſen's Frau!” fagte er fireng.
„Das kann ich nicht, das kann ich nicht meht,
425
— —
ter!“ rief ſie, „ſelbſt Pleſſen wuͤrde es nicht
e wollen!”
„Er muß es wollen!“ herrfchte der Baron.
icht Du, nicht er follt fpielen mit dem mir ges
enen Wort! Er muß es wollen!“
„Vater!“ flebte Cornelie, „ift es nicht genug,
: Du Helme unglüdlid) gemacht haft? nicht
ug, daß Deine Strenge fie in namenlofes
nd ſtürzte? daß ein fchulpbefledtes Leben fie
rückt?“ — —
Der Baron trat nahe an fie heran, faßte ih-
Arın mit feftem Drude, und fagte mit furdht:
er Kälte: „Vorwürfe? Du wagſt ed, mir Vor⸗
fe zu machen? Du? die Schande meines
ers?" —
Mit heftiger Bewegung ftieß er fie zurüd,
r dann aber fchaudernd zufammen, ald komme
n dad Bewußtſein deffen, was er gethan, —
d beide Hände gegen feine Stirne fchlagend,
ließ er das Gemach.
Cornelie hörte feine Schritte auf dem Mars
rboden ded Vorſaals; als fie verhallten, war
todtenftil. Sie war wie niebergeivorfen von
424
„Oder meinft Du, ich bätte den Tag vergeflen,
an dem ich daftand neben Dir vor Deinen Rid»
tem? an dem ich meine Tochter, an dem id
eine Freiin von Heidendbrud um die Art ihrer
Gemeinfhaft mit Männern befragen hörte, bie
man der Unfittlichkeit befchuldigte? Glaubſt Du,
das Nichtſchuldig der Richter fpräche Di fi
in den Augen ber Welt? Glaubft Du, es nähme
den Schimpf von meinem Haupte, den Du
mir angethan? Denkſt Du, ich Fönnte bad
vergefien? Denkſt Du nit, daß mir Dein
Anblid in jeder Stunde e8 vor die Seele ruft,
wie weit Du Did) vergangen, bis wohin Du es
gebracht haft?“
Sein Gefiht flammte, feine Blide brannten
in Zorn.
Cornelie regte fich nicht. Keine Thräne fam
in ihr Auge, fein Laut über ihre Lippen. Sie
fhien erftarrt zu fein. Der Baron ging mit gro
Ben Schritten im Zimmer auf und nieder, plöß
lich blieb er vor ihr ftehen.
„Du wirft Pleffen’d Frau!” ſagte er ftreng.
„Das kann ich nicht, das Fann ich nicht mehr,
|, zu welcher der Baron fi) zwang, aͤng⸗
ie, und war fo ohne allen Zufammenhang
m Austrud feiner Züge, daß Augufte ten
lick erfehnte, in dem er ſich zurüdzuziehen
Es war, ald ob der Friede und die Zwie⸗
ich verkörpert hätten in den Räumen, in bes
herrfchten, als ob man fie fehen, fie em⸗
fönnte, als ob ınan fie einathmete auch ges
nen Willen, —
r Nacht, ehe fie fich niederlegte, trat Aus
och an einen Blumentifch heran, die Plan»
. begießen. Die Rofen dufteten ihr voll
n, aber ihre Pracht erfchien dem Mäbds
ie ein Hohn. „Wie das hier nur fo
n kann!“ ſprach fie zu fich ſelbſt. „Daß
ht Alles welft vor Trauer und vor Zwies
u
e Fonnte den Echlaf nicht finden in ber
Mehrmals glaubte jie die Tritte des Bas
zu vernehmen, der über ihrem Zinmer
, dann hörte fie eine Thüre öffnen. Ges
torgen ſchlug plöglich der Fleine Hund des
an, und lief die Treppe Hinunter, ale
426
des Vaters fchwerem Worte, in einen Eefjel ge
funfen, ihr Haupt auf ihre Bruft herabgefallen.
Jetzt richtete fie fich langfaın empor, fah im Ges
mad umher, ald wolle fie an der Wirklichkeit der
Dinge prüfen, ob fie nicht geträumt Habe, und
blieb dann lange, in Gedanken verfunfen, auf
derfelben Stelle fiten, bis fie fih in ihr Zim⸗
mer zurüdzog, das fie hinter ſich verfchloß.
Mittags erfchien fie nicht zur Mahlzeit, ließ
auh Augufte, die nach ihr ſehen wollte, nicht
bei fi ein. Am Abende ging fie durch die ents
legeniten Wege ded Parkes in dad Dorf, dann
weilte fie am Grabe ihrer Mutter auf dem Kirch⸗
hofe, und fehrte erft fpät wieder in dad Schloß
zurüd,
Der Baron und Augufte fpeiften allein zu
Nacht in dem großen Saale, und ohne daß bie
Legtere wußte, was zwifchen dem Water und ber
Tochter vorgegangen war, theilte fich die büftere
Stimmung des Barons ihr mit. Der Saal fam
ihr in feiner Größe unheimlich vor, die Familien»
bilder in dem Halblicht fpufhaft, der Klang ber
Stimmen fchallte fremd. Die gleichgültige Unter
Neunzehntes Kapitel,
— 6ꝰt'— —
d ein Unerwartetes war geſchehen: Corne⸗
te das Vaterhaus verlaſſen.
hon am Abend hatte fie dem Kutſcher aufs
n, um vier Uhr Morgens den Eleinen Eins
r bereit zu halten, den fie einft angefchafft,
Irmenpflege in der Umgegend zu beforgen
en fie felbft zu fahren geübt war. Da fie
8 Hausrath und Kleidungsftüde für bie
idenden bei diefen Befuchen mitzunehmen
‚, hatte ihre Kammerjungfer fein Arg gehabt,
ad Fräulein einen Koffer gefordert, ihn ei-
ndig vollgepakt und am Morgen mit fid)
men hatte; und wenn dem Kutjcher und ber
428
folge er Jemand. Sie fand von ihrem Lager
auf, ging an das Fenſter, aber es war Niemand
zu fehen, und müde fchlief fie endlich mit dem
Gedanken ein, daß irgend ein Unerwartetes ge
fchehen fein müfle.
431
omeliend Wagen fommt von der Birken-
yerab, lieber Onkel!“ fagte Augufte,
tr Baron athmete auf, wie von fchwerer
befreit, entgegnete aber mit falten Tone:
fe Eornelie zu mir, wenn fie kommt!“ und
h auf fein Zimmer zurüd.
hon nach) wenigen Minuten langte dad Ca⸗
auf dem Hofe an, indeß ein fremder Bur⸗
hrte es, und brachte einen Brief Eorneliend
en Vater. Er enthielt die folgenden Zeis
zs giebt Worte, die fich nicht vergeffen lafs
reigniffe, die man nicht ungefchehen machen
mein Vater! Worte die fich ald unüber:
be Scheidewand zivifchen die Menfchen ftels
Ih kann die Irrthümer nicht aus meinem
nehmen, durch die ich in Deinen Augen
ntehrte, ich fann die Worte nicht vergeflen, .
u mir gejagt haft, und es ift mir unmöglich,
im Vaterhauſe auszudauern, feit ich weiß,
u mid) feiner unmerth achteft.
sch werde mich in Helenend Nähe begeben.
430
Dienerſchaft die ungewoͤhnlich frühe Ausfahrt auf—
gefallen war, fo hatten fie ſich zwar untereinan-
ber über die neue Grille der Herrfchaft audge
fprochen, aber ihre Befehle nach gewohnter Weile
ohne Weiteres vollzogen.
Ad Cornelie beim Fruͤhſtuͤck fehlte und der
Baron erfuhr, fie fei in aller Frühe auögefahren,
erbleichte er fichtlich, und fragte nach einiger Zeit
mit fcheinbarer Ruhe, weldye Straße fie einge
fchlagen habe? Man wußte e8 ihm nicht zu fa
gen. Er las dann, wie er ed gewohnt war, bie
Zeitungen, und begab fich auf fein Zimmer. Ge
‚gen Mittag fah Augufte ihn in den Park hinab
gehen und ein Belvedere befteigen, von dem man
einen weiten NRunbblid hatte Er war büfter
und fchweigfam ald er davon zurüdfan, und bie
Mittagstafel verging den Beiden noch trauriger
als das legte Abendbrod.
Ehen hatten fie ſich vom Mahle erhoben
und der Baron beftellte, ihm ein Pferd zu fat
teln, als die Kammerjungfer Corneliens eintrat
und Auguften leife eine Meldung machte,
435
: trat näher heran, beugte fi) zu dem
en hernieder und fagte leife: „Er ift doch
eſtorben, Erich?”
h trüg' es leichter, als ſolchen Brief von
rief er mit dem Tone des tiefften Kummers.
jine fand angfivoll neben ihm. Cie wagte
m Brief zu fordern, fie wußte nicht, wie
Bekuͤmmerten ſich nahen folle, denn Erich
ıft immer ihre Theilnahme an den Ange
iten feiner Bamilie mit einer fie Eränfen-
‚tfchiedenheit zurüdgewiefen, und mit fanfs
jen bat fie: „Soll ich nicht wiffen, was Dich
üttert, Erich? Ich Angftige mich um Dich!“
ornelie ift aus dem Vaterhauſe entflohen
it vierundzwanzig Stunden in Berlin!“
:ete er troden, ftand auf und d hide ſich
1ögehen an.
o wilft Du zu ihr?“
h muß fie aufiuchen, das ift auch Fein
Amt! Ich wollte” — er vollendete nicht,
fügte: „Lied den Briefl* und ging dann
tt,
gebrängter Kürze meldete der Water dem
28*
436
Sohne dad Vorgefallene und forderte ihn auf,
falls die Schwefter nicht zu ihm Fäme, fie aufzuſu⸗
chen, fie um ihre Pläne zu befragen, und ihr mit
zutheilen, daß der Baron ihre Reife nach Neapel
felbft ald rathſam anfehe und daß Erich fie dw
hin begleiten werde, „Ic rechne darauf, mein
Sohn,” hieß ed dann weiter, „daß Du augenblid-
lich aufbrechen und Alles thun wirft, was "Dit
nothwendig fcheint, um Auffehen zu vermeiden,
und ich lege unfere Ehre vertrauensvoll in Deine
Hand, weil Du allein von allen meinen Kindern
gewußt haft, was Tur ihr fehulbig bift.
„Es liegt ein hart Gefchik auf mir, Don
vier Kindern, die ich auferzogen habe in den ftreng-
ften ©efegen der Moral und Ehre, bift Du allein
mir geblieben, auf den idy meine Augen hoffend,
als auf den Erben unferes Namens, ald auf den
Erben der Achtung richten kann, die ich ihm er
worben zu haben mir bewußt bin. Helene und
Cornelie haben es dahin gebracht, daß ich mid
Iheue, ihrer Verhältniffe zu gedenfen, und Georg
giebt unferen alten Namen auf der Börfe Preis,
„Sie haben es dahingebradht, daß ich den Tag
437
mehr beflage, an dem Eure trefflihe Mutter
br Auge Schloß. Wohl ihr, daß fie nicht
yauen brauchte, was ich ſeitdem erlebt an
ı Kindern.
sch fühle meine Kraft entjchwinden, aber es
ht das Alter, das fie bricht. Die Schmad)
Schande meiner Kinder, die mid unvers
t trifft, beugt mich danieder, Mein Haus
amt um mid ber. Es wäre Zeit, daß
nein Erftgeborener, mein theurer Eohn, ber
ir nie Anlaß zu irgend einer Klage gegeben
jeit Du verantwortlich für Deine Handluns
ft — es wäre Zeit, mein Sohn, daß Du
hrteft in Dein Baterhaus, daß Du mir in
: fünftigen Gattin Erſatz gewährteft für
Töchter, die fo wenig ihrer edlen Mutter
n. Auf Dir, mein Sohn, beruhen die lehs
offnungen meined Lebens, auf Dir bie
n, bie ich noch erwarten fann, und Du
ftend wirft fie nicht zu Schanden machen,
icht, denn Du weißt, wad Du mir, was
)ir felber ſchuldeſt.
Begleite Deine Schwefter nad) Neapel und
A38
dann kehre dorthin zurüd, wo Dein Vater Did
erwartet. Gott fei mit Dir, mein geliebter Sohn!!
Regine lad den Brief und las ihn wicht.
Er bohrte fich ihr fohmerzlich in die Seele. Sie
fonnte nachempfinden, was Erich dabei fühlen
mußte; kam fie fich doch felbft wie ſchuldig vor
gegen den Baron, hatte fie felbft doch Mitleid
mit dem Greife, ber fih fo in feinem innerften
Leben angegriffen fühlte. Vor einem jremben
Zeiden vergeflen großmüthige Naturen leicht ben
eignen Schmerz, weil der Wunfch zu helfen fie
ein befchäftigt. Sie dachte, welch ein Kummer
Erich's Verhaͤltniß zu ihre dem Vater fein müflt,
hätte er davon erfahren. Sie ftellte fich die Mög
fichfeit vor, daß Cornelie den Bruder in feine
Wohnung aufzufuchen Fäme, und fie in berfelben
ande, Sie begriff nicht, daß der Baron nid
längft von ihrem Dafein unterrichtet worden,
fie malte es ſich aus, in wie vielen Fällen Erid
vor diefer Möglichkeit gezittert haben mochte,
und fo oft ein Fußtritt auf der Treppe fchallte,
fchraf fie zufammen, denn fie glaubte Cornelie
fommen zu hören.
— 430
e Angſt, dieſe Gedanken entwurzelten ſie
Umgebung, in der ſie ſich befand. „Wie
) iſt es,“ rief fie aus, „fein Daſein vers
u müffen! wie fann, wie fol Erich mich
venn er beftändig daran denfen muß, meine
ıheit zu verhehlen? Wie kann er mich lies
fein Vater mich verfluchen würde, wüßte
ih feinem Sohne bin?“
begriff es nicht, daß Erich jemals eine
Stunde an ihrer Seite genofien hatte, fie vers
„ jemald wieder Frieden zu finden neben
Sie verzieh ihm alle Härte und Mißs
'g, fie klagte fich ihrer Liebe an, fie bes
: al8 ein Verbrechen gegen ihn zu betrach»
d doch war biefe Liebe unverändert mäd)«
br, das tieffte Gefühl ihrer Seele.
war ihr unzweifelhaft, daß Erich dem
ines Vaters Folge leiften, daß er heim-
werde zu ihm, denn wie Fonnte er dem
e feined Vaters widerftehen? Hätte fie
in Vater gehabt, fie würde ihn ja nicht
: haben. „Hätte ich einen Vater gehabt,“
aus, „ed wäre ja Alles nicht geichehen!
440
AU das Elend wäre nicht herein gebroden
über mich, ich wäre ja ftill und fleißig geblieben an
feiner Seite und hätte mid) vor Niemand zu ſcheuen,
Niemand hätte fich meiner zu fehämen gebraucht!"
Die Tage, in denen fie nach dem Tode ihre
Vaters einfam und arbeitfam gelebt, das kleine
friedliche Stübchen, das fie bewohnt, die Freund
lichkeit ihrer alten Nachbarin, die Theilnahme, die
ihr diefelbe bewieſen, traten ihr lebhaft in das Ge⸗
bächtniß, und ſchienen ihr fehr genußreich, wenn fie fie
mit ihrer jebigen Lage verglih. ine tiefe Sehn⸗
fucht nad) Ruhe, nad) innerer Ruhe beimächtigte
fi ihrer. AM die Stunden, weldye fie in Qua⸗
len der Eiferfucht verlebt, wenn Erich bei ber
Frau von Werde verweilte, all die Tage, in des
nen fein Mißmuth fie gedrüdt, feine wachſende
Reizbarfeit fie gemartert, fanden als ein Bild
der Angft und Unruhe vor ihrer Seele, felbft die
Erinnerung an jene Ergüffe der Liebe, zu denen
er fih dann oftmald wieder hingeriſſen zeigte,
trugen nur dazu bei, jened Gefühl der Angftigen-
den Unruhe in ihr zu fleigern und ihr Verlangen
nad) anderen Zuftänden zu erregen.
441
„Ausruhen! nur einmal ausruhen!“ ſeufzte
„Nur allein fein, nur nicht mehr die Noths
idigkeit haben zu gefallen, um geliebt zu wers
; denn waß ift die Liebe, die man täglidy neu
bern, täglich neu erfaufen muß? Was fann fte
ich, was kann ich ihm noch fein, neben der
Onme feines Vaters, der ihn, ruft, der ihn bie
te Hoffnung feined Lebens nennt? Mußte
nicht dahin fommen, mich als die Duelle aller
er Leiden anzufehen? Mußte er nicht dahin
nmen, die Stunde zu verwünfchen, die und zu
ander führte?“
Der ganze Abend verging ihr in dieſem
hmerz. Es war fpät, ald Erih nach Haufe
n. Sein verbüftertes Ausfehen war nicht ger
ht fie zu ermuthigen. Er hatte bie Fremden⸗
en nachgeſehen, die Poſtregiſter durchforſchen
ſen, in keinem derſelben war der Name ſeiner
hweſter zu finden geweſen. Kein Bekannter
er Familie war, nach den Poſttabellen, an dem
a feinem Vater bezeichneten Tage auf dem
urfe gefahren, fo daß man hätte Ausfunft von
n fordern können, ob Cornelie vielleicht früher
438
dann kehre dorthin zurüd, wo Dein Vater Did
erwartet. Gott fei mit Dir, mein geliebter Sohn!”
Regine las den Brief und lad ihn wieder.
Er bohrte fich ihr fchmerzlich in die Seele. Sie
fonnte nachempfinden, was Erich dabei fühlen
mußte; Tam fie ſich doch felbft wie ſchuldig vor
gegen den Baron, hatte fie felbft doch Mitleid
mit dem Greife, der fih fo in feinem innerften
Leben angegriffen fühlte Vor einem fremden
Leiden vergefien großmüthige Naturen leicht ben
eignen Schmerz, weil der Wunfch zu helfen fie
allein befchäftigt. Sie dachte, weldy ein Kummer
Erich's Verhaͤltniß zu ihr dem Bater fein müflt,
hätte er davon erfahren. Sie ftellte ſich die Mög
fihfeit vor, daß Cornelie den Bruder in feiner
Wohnung aufzufuchen Fäme, und fie in verfelben
ande, Sie begriff nicht, daß der Baron nidt
längft von ihrem Dafein unterrichtet worden,
fie malte es ſich aus, in wie vielen Fällen Erid)
vor dieſer Möglichfeit gezittert haben mochtt,
und fo oft ein Fußtritt auf der Treppe fchallte,
fchraf fie zufammen, denn fie glaubte Cornelie
fommen zu hören.
443
ih, ſchrieb auch noch öfter ald zuvor, und
8 hörte Regine ihn feufzen, wenn er fie
ig oder abfendete,
o ging der Sommer zu Ende, der Herbft
an und die Abende wurden länger. Erich
viel zu Haufe, es lag etwas Gebrochenes
‚nem Wefen, feine Phantafie war meift mit
en Vorſtellungen befchäftigt, fo daß Regine
ich für feine Gefundheit fürchtete,
Infähig, ihn zu erheitern, fah fie ihn eines
ds an ihrer Seite fiten. Er hatte das Buch,
7 gelefen, fortgelegt, ven Kopf auf den Arm
3t, und ftarrte gedanfenvoll vor ſich nieder.
re betrachtete ihn lange, ein Entſchluß ſchien
rer Seele zu ringen. Mehrinals legte fie ihr
eug fort, als rüfte fie fich zu einer Unter:
g, und immer nahm fie es wieder nur um
figer auf, als wolle fie die Gedanken, bie
alten, durch die Arbeit verfcheuchen. Ends
wüdte fie die linfe Hand feft gegen die Aus
wie es ihre Weife bei heftiger Gemuͤthsbewe⸗
war, und fagte leife: „Erich! ich fehe ja, wie
icklich Du bift, warum fagft Du mir es nicht?”
434
—
feine Frau Urſache hatten, Corneliens Reife nad)
Neapel als eine Liebeöpflicht zu betrachten, aber
die Dienerfhaft des Schloſſes war nicht über
bie Flucht Eorneliend zu täufchen, wenn fchon fie
diefelbe nach ihrer Weiſe deutete,
Noch am Abend trug ein reitender Bote ein
Schreiben ded Barond an Erich zu dem naͤchſten
PBoftamte, und mochte der Vater auch die Kraft
befigen, im perfönlichen Verfehr mit feiner Um
gebung den Schein der Ruhe über fich zu breiten,
feine Sorge, fein Gram und fein Verzagen [pre
hen aus jeder Zeile feined Briefes.
Erich befand ſich zu Haufe, ald er ihn em
pfing, Regine war in feinem Zimmer, Sie fah
ihn erbleichen, fah den Ausdruck feiner Züge im
mer fehmerzlicher werben, bis er endlich das Blatt
aus feinen Händen finfen ließ, und aufgeftügt in
tiefen Gedanfen vor feinem Schreibtifch figen
blieb,
„Erich, fragte fie, was ift gefchehen?“
Er antwortete ihr nicht.
„Iſt Dein Bater krank?“
Schlimmer als daß!
— — — — ⏑—
.- ug mn 5 ‚rm 2. NM
435
ie trat näher heran, beugte fi) zu dem
iden hernieder und fagte leife: „Er ift doch
geftorben, Erich?“
Ich trüg’ es leichter, ald folchen Brief von
"rief er mit dem Tone des tiefften Kummers.
tegine ftand angftvoll neben ihm. Sie wagte
ben Brief zu fordern, fie wußte nicht, wie
m Befümmerten fich nahen folle, denn Eric)
faft immer ihre Theilnahme an den Ange
heiten feiner Familie mit einer fie Fränfen-
Entſchiedenheit zurüdgewiefen, und mit fanf
jagen bat fie: „Sol ich nicht wiſſen, was Dich
chüttert, Erich? Ich Ängftige mich um Dich!“
Eornelie ift aus dem Baterhaufe entflohen
feit vierundzwanzig Stunden in Berlin!”
ortete er troden, ftand auf und d ſchicie ſich
Ausgehen an.
So willſt Du zu ihr?“
Ich muß ſie aufſuchen, das iſt auch kein
Amt! Ich wollte“ — er vollendete nicht,
ın ſagte: „Lied den Brief!“ und ging dann
fort.
n gebrängter Kürze meldete der Water dem
28*
448
zufammengebrochen unter ihrer Laft! Was habe
ich nicht Alles erfonnen, Dir zu helfen, für Did
zu forgen, Deine Zukunft angenehm zu maden,
und Alles fchien mir Deiner doch nicht werth;
Nichts fhien mir genug für dad, was ich Dir
ſchulde!“
Der ſanfte Ausdruck ihrer Züge ſchwand, je
laͤnger er ſprach, ein ſtrenger Ernſt trat an ihre
Stelle, fie hörte ihm zu, ohne ihm zu antworten,
Beide verfanfen in Schweigen, die Unterredung
fam zu feinem Abſchluß. Die Nothwendigkeit
ihrer Trennung hatten fie Beide anerfannt, ohne
einen Zeitpunft für dieſelbe feftzufegen, und ängft
lich beffommen, wie vor der Nähe eines fihen
Todes, gingen ihnen die folgenden Wochen hin.
Li
yeiundzwanzigfies Kapitel,
erften klaren Herbfttage Famen ber Ges
Friedrich's fehr zu ftatten, und als knuͤpfe
eberfehrende Erinnerung auf dem Punkte
dem ihm das Bemwußtfein entfchwunden,
feine erfte Brage der Ankunft der Gräfin
ezan.
ſchien es mit Freude zu hoͤren, daß ſie
olgt ſei, verlangte aber Cornelie zu ſehen.
igte ihm, ſie ſei verreiſt, er glaubte die
alſo vollzogen, bis er allmaͤhlich durch
das Geſchehene erfuhr.
ſah er ſich Anfangs ausſchließlich auf die Ge⸗
t feiner Mutter und Auguſtens angewieſen.
lungen. II. 29
A450
Die Freundlichkeit, welche die Lebtere der Mir
fterin bewies, das Lob, welches diefe dem Fraw
fein jpendete, die Neigung, die fie für daſſelbe
hegte, trugen noch dazu bei, feine Dankbarkeit
und Anerfennung für Augufte zu erhöhen, wäh
rend fein Mitleid für fie durch die Kunde ange
regt ward, daß Georg mit ihr gebrochen habe.
Ihre Niedergefchlagenheit, des Barons ſich
immer ſteigernde Abgeſchloſſenheit machten das Zu⸗
fammenfein mit ihnen druͤckend. Die Dienerfchaft
nie vor ungerechtem Tadel von den verftimmten
Gebietern ficher, beforgte unluftig den Dienk, :
nur felten erfchienen Edelleute aus der Nachbar
ſchaft, dem Baron einen Befuch zu machen, noch
feltener wurden fie empfangen und Fein gern ge
fehener Gaft betrat die Schwelle. Das Unglüd
laftete über dem Haufe wie ein bdüfterer, fhweret
Himmel, und die Güte, welche der Baron und
Augufte dem Geneſenden bewiefen, vermochte ihn
nicht zu erquiden. Sie war wie das Eonnenlicht, dad
ftumpf und fahl in Wintertagen aus den Wolfen
hervorbämmert und bie ſchwere Luft und die win
terlihe Starrheit noch fühlbarer macht.
451
ſprach von Erich's Ruͤckkehr, die er vers
und hoffte auf fie, wie der Menſch auf
änderung hofft, wenn feine Zuftände ihm
find; aber man wußte nicht, wann er
würde, und wußte noch weniger, was
yentlich davon erhoffte So war es denn
), daß Friedrich, den trüben Einprüden
ehen, ſich oftmals nah dem Pfarrhauſe
‚ und bier fand er immer heiteres frifche®
m!“ rief ihm Feldheim eines Abends ent-
„was bringen Sie und für Nachrich⸗
Ihrem verwünfchten Schloffe, denn «8
drüben, wie im Palaſt der verzauberten
en Bee!“ j
id ed war body fo anders,” meinte die
in, „als die Frau Baronin noch dort wals
fchaltete! Gott, war das ein Leben, eine
nheit! man konnte nichts Prächtigeres
als das Haus vol fehöner, froher Mens
Aber feit fie die Augen gefchloffen bat,
8 ob der gute Geift gewichen und ein
ngezogen wäre. Mandymal Fommt mir
29*
“>
ertenlih ein Serum ım, tas ich denke, eb
werte no; irzenk eim Unglũd kur zerhehen!”
Sie krach ab, wel das Waren tie Abend⸗
jurre würuz Die Knaben drängten ach zum
Tirke, une fıum ja tie Familie bei tem be
Ikeitnen Mahl in Heiterkeit verjammelt, ald
ker Jüngiie, son jeinem Zeller aufichenp, yplöplid
fragte: „Zante! wie fpuft ed tenn trüben?“
‚Wie es puft? was meinſt Du kamit, mein
Kind?“
„Run! was ber böje Geiſt im Schloſſe thut,
der böje?“
„Schäme Ti,” rief der Paſtor, „wer wird
denn ſolchen Unfinn glauben, es giebt gar feine
böjen Geifter, es giebt gar feinen Epuf und —"
„Schwager!” fiel ihm Feldheim in’d Wort,
„Schwager! ruiniren Sie mir die Kinder nidıt!
— Ich danfe Bott, daß ich fie in Stalien vor
aller Aufklärung bewahren fonnte, und vollends
den Jungen, in dem ein Künftler ſteckt! Reden
Sie ihm doch die Phantafie nicht zu Schanden,
woranfoll er denn glauben, wenn nicht an Spuk?“—
Und fi) gegen den Kleinen wendend, fagte er:
N
453
Onkel ſpaßt nur, freilich giebt’8 böfe Geiſter
alten Spuf, und drüben das ganze Schloß
vol davon vom Keller Bid zum Dache. In
großen Saale mit den Sammetmöbeln, in
Du neulich bineingegudt haft, und der immer
ngte Benfter hat, da figt der Eine, das ift
Jochmuthöteufel! *
Was thut der, Papa?“ fragte der Knabe.
Der zetert und fchreit, fo wie ein Menſch
ikommt, der nicht Schuhe und Strümpfe an
fondern Stiefel, und kommt Einer, der feine
fchuhe hat, den nimmt er beim Genid und
ihn hinaus; und Einer, ber, wie ich, eine
fe bat mit Delfleden und eine Leinwandhoſe,
fchmeißt er die Treppe hinunter, daß man
und Beine brechen kann. Es iſt ein ſcheuß⸗
Geſchoͤpf!“
Wie ſieht der denn aus?“
Lang und vornehm, und dann hat er große
n, die er zukneift, und dicke Augenbrauen,
hoch heraufzieht, er fieht jo aus — —“
Wie der Herr Baron!“ rief der Kleine.
Ja, es wird wohl ſo ſein!“ entgegnete der Vater.
454
„Sind noch mehr böfe Geifter dort?“
„Ganze Rudel! Da find die diden, graum
Vorurtheile und verfluchte Grundfäge, bie feinen
Menfchen dort froh werben laflen, und alle Kin
der zum Haufe hinaustreiben!“
„Ale Kinder?“
„Sa! alle Kinder! wo Grundfäge find, ge
beiht Fein Kind. — Aber iß jebt Deine Sup,
ich erzähle Dir morgen zu Ende!“
Der Knabe ließ ſich das gefallen, und wils
rend der Paſtor mißbilligend den Kopf fchüttelte,
fagte Friedrich: „Sie haben ſchon neulich Ihre
Abneigung gegen alle Grundfäpe und namentlid)
gegen ein Leben ober ein Erziehen nach feften
Grundfägen ausgefprochen, fo daß ich beinahe
glauben muß, ed fei Ihnen Ernft damit?“
„Zweifelten Sie daran?"
„Sa! weil ich mir nicht denfen fann, wit
man ohne fette Anfıhauungen, ohne fefte Prin⸗
cipien in den taufend Conflicten beftehen fol, die
ſich und entgegen ftellen. “
„Lieber Freund!“ rief der Maler, „und find
benn die Conflicte, die man gewöhnlich mit
5
m vornehmen Namen titulirt, nicht meift bie
ge fefter Grundfäpe? IR nicht alles Unglüd
ber Erde, find nicht unfere religiöfe und ſtaat⸗
> Unfreiheit eine Folge fefter Grundfäbe? Das
abenfte, was man mit felten Grundſaͤtzen ers
hen fann, ift, daß man Andere damit zu
ınde richtet, oder beften Falls, daß man jelbft
fie zum Märtyrer wird. Andere zu Grunde
richten ift aber ein Verbrechen, und fi) zum
irtyrer zu machen, meift eine Thorheit. Ich
te Nichts vom Märtyrthum.“
Mit der ihm eigenen Heiterkeit, hob er fein
is empor und rief: „Man hat, zum Fluch der
nſchheit, fo oft den Wein auf die Erhaltung
iffer Grundſaͤtze geleert, daß es Zeit ift, eins
‚in ehrlihem Bier ihnen ein Pereat zu brin⸗
. Bereant die Orundfäge!“
Er jah dabei fo glüdlich aus, hielt den Ans
enden jo fröhlich fein Glas entgegen, daß felbft
Paſtor nicht umhin Fonnte, lächelnd mit ihm
uftoßen; jedoch bemerkte er: „Es Fame nur
auf an, wie Sie die Menfchen erziehen wollen,
n Sie feine fefte Dogmen für Recht und
456
Sitte, für Moral und Geſetz, mit einem Work,
feine Schranfe für den Menfchen anerfennen mi
gen?“
„Komme ih Ihnen wie ein Verworfentt
vor?“
„Schwager!“ tabelte der Paſtor.
„Nein! antworten Sie mir darauf! Komme
ich Ihnen wie ein Verworfener vor?“
„Sie find der bravfte Menfch unter det
Sonne," fügte der Paſtor und reichte ihm bie
Hand, „dad Mufter eines Gatten, eined Bw
terd, und — — "
„Genug, genug!” rief Feldheim. „Das Alte
genügt mir, Nun fehen Sie — ich habe gat
feine Orundfäge!“
„Sie find aber auch von den würbigften El
tern zu allem Guten angeleitet worben !* meinte
der Paſtor.
„sa! indeſſen war in unferm Haufe nie von
Grundfägen die Rede. Oder weißt Du etwas
davon, Schwefter? haft Du einen Grundfag und
anpreifen, einen andern Grundfag bei uns jemals
tadeln hören, ald den, den bie alte Kathrine und
457
— — -- —
in unferm Gichorienkaffee zu trinfen
8 ift wahr,“ befräftigte die Geftagte, „man
in unferm Haufe nicht viel davon, Die
waren Beide gut, thaten einander und und
n alles Liebe, was fie Eonnten, und waren
auch menfchenfreundlih und barınherzig.
chen wurde darüber nicht viel und nachge⸗
noch weniger. Es war eben fo und fonnte
inders fein!“
Ja habt Ihr's, da Habt Ihr's!“ rief der
‚ „das iſt's ja grade, was ich meine. Es
infachheit, Schlichtheit in den Menfchen da-
und Einfachheit und Schlichtheit das ift
ylichfeit, denn der Menſch ift gutartig und
gutartig, bis ihn die feften Grundfäge vers
haben. Wo aber in einem Haufe bie
[lichte Menfchlichkeit herrſcht, da ift weiter
in Erziehen mehr von Nöthen, da wächt
wie in der himmlifchen Campagna felice,
on felbt — man hat nur den Samen
ven und bie und da einen wilden Scyöß-
uszuroden — dazu aber braudyt man fo
452
ordentlih ein Grauſen an, daß ich benfe, «8
werbe noch irgend ein Unglüd dort gefchehen!*
Sie brach ab, weil das Mädchen die Abend
fuppe auftrug. Die Knaben drängten fich zum
Tifche, und kaum faß die Familie bei dem br
fheidenen Mahl in Heiterkeit verfammelt, ald
der Juͤngſte, von feinem Teller aufjehend, ploͤtzlich
fragte: „Tante! wie fpuft e8 denn drüben?“
„Wie es fpuft? was meinft Du bamit, mein
Kind?‘
„Run! was der böfe Geiſt im Schloffe thut,
ber boͤſe?“
„Schäme Dih,“ rief der Baftor, „wer wir
denn ſolchen Unfinn glauben, es giebt gar feine
böfen Geifter, e8 giebt gar feinen Spuf und —“
„Schwager!* fiel ihm Feldheim in's Wort,
„Schwager! ruiniren Sie mir die Kinder nidt!
— Ich danfe Gott, daß ich fie in Stalien vor
aller Aufklärung bewahren fonnte, und vollendd
den Jungen, in bem ein Künftler ſteckt! Reben
Sie ihm doch die Phantafie nicht zu Schanden,
woran ſoll er denn glauben, wenn nicht an Spuf?"—
Und ſich gegen ven Kleinen wendend, fagte er:
459
mc mit Agned und dem ältern Knaben red⸗
verfucht, indeß es wollte nicht gehen, Weißt
wohl, Agnes, was Du für ein unluftigeß,
es Kind gewefen bift in Deinen Zeichen« und
ifftunden? Wir hätten fie für ihr ganzes Les
mürrifch machen Eönnen, hätten wir auf dem
ndfaß der Xebenserheiterung durch die fchönen
fte beharren wollen. Sept wird fie freilich
: Künftlerin werden, aber doch eine nüßliche
frau, wie ihre arıne Mama, die auch fo
itlos, und mit der ihr Mann doch immer
zufrieden iſt!“ Sie reichte dabei freundlich
Manne die Hand, Agned war aufgeftanden,
Mutter zu Eüffen,
Als Died Heine Intermezzo zu Ende war,
erkte Sriedrih: „Alles, was Sie da fagen,
nir nicht neu und dennoch fremd. Ich habe
feit Jahren, faft möchte ich fagen, feit ich
tftändig denfen kann, mit PBerfonen zu thun
ıbt, die c8 im Felde der Moral, der Politik,
Religion, ja felbft der Freiheit, auf ein Leben
ı feften Grundfägen angelegt Hatten, und id)
t neige dazu. Es liegt, fo ſchwer ed auf der
460
— — — —
einen Seite iſt, den Grundſaͤtzen gerecht zu wer
den, boch eine Bequemlichkeit darin, ſich an fi
fehnen, auf fie berufen zu fönnen. Es enthet
und manches Kampfes, mancher Verlegung” —
„Die Grundfäge,” fiel ihm der Maler ind
Wort, „find, um es kurz zu machen, ein Cor
fett, ein unbequemes und doch unentbehrlicdkt
Ding für die verrenkten Zuftände der Frank und
ſchwach gewordenen Menichheit — gefunde Men
jhen brauchen Grundfäge fo wenig als ein
Schnürleib, um fhön zu fein, die rechte Schön
heit leidet nur darunter. *
„Es ift freilich oftmals leicht,“ meinte ber
Paftor, „ſich hinter feinen Grundſaͤtzen zu verfchan
zen, wenn Forderungen der Menfchlichfeit verweis
gert werden follen!“
„sn der Erziehung laſſen allerdings fefte Grund
fäge feine Freiheit, alfo auch fein Individualifiren
zu, was doch die Hauptfache bei aller Erziehung
iſt!“ feßte Friedrich Hinzu.
Der Dialer lachte bel auf. „Bravi! Bravi!“
tief er, „da pfeift Ihr ja Alle ſchon meine Weiſe!
Bedenkt doch nur, daß ein Menfch, der fich hin
N
461
und fagt: „Die Menfchlichkeit ift eine Pflicht,
will ich menfhlich fein,* und nun bingeht
bringt dem Armen mit gloriofem Bewußtfein
überlegten- Pflichterfüllung eine Gabe, daß
ein Menſch die wärmfte Arınenfuppe Falt laͤ⸗
fann; während das kalte Stüd Brod, das
Barmfühlende fih vom Munde nimmt, um es
geben, weil's ihn dazu drängt, zum Labfal
für den Empfänger. Wie kommt es denn,
Ihr bier mit allen Euren Wohlthätigfeits-
Iten Feine Liebe ernten Eönnt? Wie fommt
—“ Er hielt inne, und da man ihm nicht
drtete, antwortete er felbft: „Ihr fäet feine
‚ wie fol fie denn erwachfen, und wie wollt
te faen? Iſt doch Eure ganze Bildung nicht
Bildung freier Menfchlichfeit und fehöner
fondern bie Bildung der Reflerion, und bie
fruchtbar im Menfchenverfehr, noch unfruchts
ale in der Kunſt. Geht mir mit Eurer
riondbildurfg, mit Euren Orundfägen! Ein
tone ift ein Heros gegen Euch in feiner
heit und in feiner Großmuth, in feinen Tus
n und in feinen Laftern! Es ift doch Eins
462
falt, e8 ift Kraft darin! — wo aber follen Ein
falt und Kraft auffommen unter der Obhut
flectirter Orundfäge, die jeden neuen Keim gleid
lang reden und reglementsmäßig an Spaliere
binden möchten? Geht mir mit dem ganzen
Plunder, mögt Ihr ihn nun Knechtfchaft, oder Frei⸗
heit nennen. Die Eine ift fo gut wie bie As
dere Drefiur bei Euch — eben weil Euch die na
turwüchfige, einfache Menfchlichfeit mangelt!“
Hatte er Anfangs ſcherzend gefprochen, fo war
er immer ernfthafter geworden und endlich in je
nen reinen Zorn gerathen, ber frei von allem per⸗
fönlihen Mißempfinden, durch die allgemeinen
Hebel angeregt, eine der erhabenften menfchlichen
Leidenschaften if. Auch der Paſtor, fo meit er
zu Anfang des Geſpräches von den Anfichten de
Schwagers abgewichen war, ftimmte ihm jest bei,
und Friedrih gab ihm aus voller Veberzeugung
Recht.
„Welche Weisheit,“ fagte er, „liegt in ben
Worten: „So ihr nicht werdet wie die Kinblein“
— aber wie folen wir e8 anfangen, und von bei
Reflerionsbildung zu erlöfen? wie fönnen wir je
457
— — — — — —
taͤglich in unſerm Cichorienkaffee zu trinken
gab?“
„Es iſt wahr,“ bekräftigte die Gefragte, „man
wußte in unſerm Hauſe nicht viel davon. Die
Eltern waren Beide gut, thaten einander und uns
Kindern alles Liebe, was ſie konnten, und waren
ſonſt auch menſchenfreundlich und barmherzig.
Geſprochen wurde darüber nicht viel und nachge⸗
dacht noch weniger. Es war eben fo und Eonnte
nicht anders fein!“
„Da habt Ihr's, da Habt Ihr's!“ rief der
Maler, „das iſt's ja grade, was ich meine. Es
war Einfachheit, Schlichtheit in den Menfchen das
mals; und Einfachheit und Schlichtheit das ift
Menschlichkeit, denn der Menſch ift gutartig und
bleibt gutartig, bis ihn die feften Grundſaͤtze vers
dorben haben. Wo aber in einem Haufe bie
rechte ſchlichte Menfchlichfeit herrſcht, da ift weiter
gar fein Erziehen mehr von Nöthen, da wädhft
Alles, wie in der himmlifchen Campagna felice,
faft von felbt — man bat nur den Samen
zu fireuen und hie und da einen wilden Schoͤß⸗
ling auszuroden — dazu aber braudyt man fo
464
leerem Prunk und die Bewunderung und Bere
rung vor denen, bie fi) mit ihm und durch ihn
von Euch unterfcheiden und die Ihr als unnahbar
über oder unter Euch geftellt glaubt. Die Aeſthe⸗
tie wird mehr reine Menfchlichkeit unter Euch
erzeugen, die Borurtheile fiegreicher befämpfen, als
die Religion!“
Er wendete ſich dabei zu dem Paſtor, reichte
ihm die Hand und fagtes „Und jebt Fönnen Sie
meinetwegen auch wieder gegen meine heidnifchen
Kunftanfichten und gegen alle Kunft zu Felde zies
ben, Schwager! es ſchadet ihr Nichts, denn
fie ift unfterblich — Hab’ ich doch wieder einmal Als -
(ed herunter geſprochen, was ich auf der Seele
hatte! — Nun aber Marſch in’d Bett, Zungen!“
rief er den Kleinen zu, „und nehmt Euch vor dem
Hochmuthsteufel in Acht! “
Die Kinder gingen um den Tifch herum, die
gute Nacht zu wünfchen, und entfernten fich dann,
während die Erwachfenen noch beifammen blieben.
Als fie dad Zimmer verlaffen hatten, fagte ber
Vaftor: „Wenn Sie fo in Abftracto gegen bie
feften Grundfäge zu Felde ziehen, fo ließe fich das
465
: wohl fo Manches jagen, indeß mit ben
dfägen unfered Herrn Barons ift es doch
ich faft ein mißlih Ding. Die Kinder has
vie ein rechtes kindliches Herz zu ihm gefaßt,
it immer vor ihnen geftanden, wie der ftrenge
Iſraels, fie haben ihn in Ehrfurcht angebes
und er hat gerichtet über Leben und Tod.
yat ihnen Gefege und Lebensregeln gegeben
feinem Sinn, und feines von Allen ift da⸗
u Rechte gefommen. Auch mit dem jungen
ı Baron fol’8 nicht fo fein, wie der Vater
ohl wünfchte! “
Mit Erich?“ fragte Friedrich, „was wiſſen
von ihm?“
Er hat ’nen fchlimmen Handel mit einem
enzimmer,“ fagte der Paſtor. „ES fol ein
es Mädchen fein, rechtlicher Leute Kind, und
nun fchon feit Sahren mit ihm in feinem
er“
Woher haben Sie die Nachricht?" fragte
rich, fchmerzlich betroffen über ded Freundes
ı- und über fein mangelnded Vertrauen.
Der Sohn der alten Anna, des jungen Herrn
andlungen. I. 30
466
Spiellamrad, der im GarbesRegimente ald Un
teroffizier dient, ift bei der Mutter zum Beſuch
geweſen und hat's erzählt!“
„Es mag nicht wahr fein!” begütigte bie
Paſtorin.
„Nicht wahr? Er hat das Frauenzimmer ſelbſt
geſehen, wenn er ab und an zum jungen Herm
gekommen iſt, und er ſagt, er habe fie ſogar ge
fannt. Ihr Vater habe ihn vor zehn Jahren in
Königsberg einerereirt!“
Eine unheimliche Ahnung zudte in Friedrich
auf, Wenn ed Regine wäre? wenn er deshalb
gefchwiegen hätte? dachte er. Aber er verwarf
den Einfall eben fo ſchnell wieder, als er ihm ges
fommen war, Hatte Regine ihm doch mehrmald
in jedem Jahre gefchrieben, ohne irgend Etwas
zu erwähnen, was auf ſolche Verhältniffe hindeu⸗
ten Eonnte; hatte er doch erft nach feiner Gene
fung einen Brief von ihr erhalten, in dem fie
ihm gejagt, fie denke daran, Berlin zu verlaffen
und wolle fehen, daß fie eine Stelle ald Bonne
ober als Begleiterin einer Herrfchaft finde, bie
auf Reifen gehe; „Thorheit, Wahnfinn!* rief er im
467
oſtgeſpraͤch, ſo daß die Anderen ihn erftaunt bes
‚teten und er feine Zerftreutheit vor ihnen zu ents
[digen hatte, Aber fo undenkbar ihm die Sache
n, fo feft er fie als unglaublich von fich wies,
ı0ch Fehrten feine Getanfen immer wieder auf den
enftand zurüd. Er fragte, ob der Unteroffizier
ı bei der Mutter fei, aber er hatte das Dorf bes
ı verlaffen, Der quälende Zweifel blieb alfo in
drich's Seele haften und ließ ihn feine Ruhe,
Er hörte kaum, was der Paftor von ded Bas
I wachfender Strenge fagte, von der Härte,
der er, feit Fräulein Cornelie verreift fei, alte
echtſame hervorfuche, und wie alle feine Leute
iber klagten, daß er gar nicht mehr derſelbe,
er wetterwenbifch in feinen Anordnungen ges
den und auf Feine Weife mehr zu befriedigen
„Es iſt hohe Zeit, daß der junge Herr zurüds
t, daß wieder ein zufriedener Menfch und vor
m eine Frau in’d Schloß fommt, denn Alles
üftert und verfümmert dort fowohl, als auch
Dorfe, Die alte Liebe fchwindet in den Leus
Das arme Mädchen aber, die Augufte, Hat
30*
468
vollends böfe Tage!“ fagte die Paftorin, und
Alte floffen nun über in des Fräuleind Lob, Io
daß Friedrich wieder aufinerffam zu werden begann,
„Schen Eie, wie gut fie ift,* meinte bie
Paftorin gegen ihn gewendet, „und wie fie an
Alles denkt! Da ift fie geftern bei mir gewelen
und hat mich gefragt, ob es denn nicht zu ma
chen wäre, daß Ihre Mutter hier im Dorfe bliebe,
weil Sie felbft den Winter bier verleben wollen;
und flug wie fie ift und unfichtig, bat fie ge
meint, wenn Ihre Mutter fi) bei der alten Anna
in Koft geben wollte, fo würde es Ihnen billiger
fein als fie in der Stadt zu unterhalten, fie würde
befier leben und die beiden alten Frauen hätten
das größte Behagen davon. Sie hatte die Sadıe
auch ſchon mit der Anna befprochen, und wollte
nun wiffen, was ich davon bächte, ehe fie es
Ihnen ſagte.“
„Ja!“ ſagte Friedrich, gerührt von dieſer
Vorſorge, „ſie iſt in der That ſehr gut. Wie
viel habe ich ihr ſchon zu danken, mit welcher
Aufopferung hat ſie meiner Mutter es erleichtert,
mich zu pflegen, mit welcher Freundlichkeit weiß
469
ich zu den Anfichten und Begriffen der alten
ı berabzujtimmen! Eie ift fehr gut — und
r iſt auch fie nicht gluͤcklich!“
‚Es iſt Alles richtig, was Sie zu ihrem Lobe
n,“ bemerkte der Paſtor, „und ich fpreche
8 dagegen; nur will mir, der ich fie von
e Jugend an fenne, ein gewifler Zug ber
ufriedenheit in ihren Weſen nicht gefallen.
weiß nicht fih an das Gute ihrer Lage
‚alten, fie denkt jelten an das, was fie hat,
defto öfter an Alles, was ihr fehlt, fie fieht
über fich, nie unter fih — und mit folchen
iſchen iſt nicht leicht zu leben; denn kaͤmen
ch in den fiebenten Himmel, fie finden doch
Etwas, was ihnen fehlt und find nie redht
eben. *
„Zufrieden?“ rief Feldheim, „wo fol denn
n Frauenzimmer von ſechsundzwanzig Jahren
Zufriedenheit herfommen, wenn es noch feinen
ın und Ausſicht hat eine alte Jungfer zu
en? Und e8 wär Schade um fie, denn fie
übfceh und friſch!“
‚Sehr hübſch!“ fagte die Paftorin, deren ent«
464
leerem Prunf und die Bewunderung und Vereh⸗
tung vor denen, bie ſich mit ihm und durch ihn
von Euch unterfcheiden und die Ihr als unnahbar
über oder unter Euch geftellt glaubt. Die Aeſthe⸗
tif wird mehr reine Menfchlichfeit unter Euch
erzeugen, die Borurtheile fiegreicher befämpfen, ald
die Religion!“
Er wendete fich dabei zu dem Paſtor, reichte
ihm die Hand und fagtes „Und jet Fönnen Sie
meinetwegen auch wieder gegen meine heibnifchen
Kunftanfichten und gegen alle Kunft zu Felde zie⸗
hen, Schwager! es ſchadet ihr Nichts, denn
fie ift unfterblich — hab’ ich doch wieder einmal Als
led herunter gefprochen, was ich auf der Seele
hatte! — Nun aber Marſch in’d Bett, Jungen!“
rief er den Kleinen zu, „und nehmt Euch vor dem
Hochmuthsteufel in Acht!“
Die Kinder gingen um den Tifch herum, die
gute Nacht zu wiünfchen, und entfernten fich dann,
während die Erwachfenen noch beifammen blieben.
Als fie das Zimmer verlaffen hatten, fagte ber
Paftor: „Wenn Sie fo in Abftracto gegen bie
feften Grundfäge zu Felde ziehen, fo ließe fich das
|
471
Ja!“ wendete die Paſtorin ein, „aber in
Tagen, da ift ein nüchterner Sinn —“
In böfen Tagen,“ fiel der Bruder ihr in's
t, „in böfen Tagen, bei Roth und Eorge,
Zank und Etreit, ba ift ja eine nüchterne
„ die al die Noth fo Flar vor Augen fieht,
fie durdy ein Bischen Täufchung oder Hoffe
| zu mildern, die all den Zwieſpalt mit fchar-
vüchterner Gerechtigkeit betrachtet, ohne bie
nswürbdige Schwäche der Nachgiebigfeit, — da
a folhe Frau ein wahres Unglüd. Ich
e mih auf, Weib, wenn Du mir jemals
tern wirft!“ rief er lachend, und gegen Fries
gewendet wiederholte er: „ft fie nüchtern,
alten Sie fih den Schatz vom Leibe! Sonft
ein ftattlich Mädchen und eine Frau müflen
ja einmal haben, Herr Paftor in spe!“
Ohne daß er es fich eingeftand, machte biefe
rredung einen unangenehmen Eindruck auf
rich. Es verdroß ihn, daß man ihn aus fei-
Ruhe ftörte, daß man ihm Wünfche und Pläne
rbreitete, die er nicht hegte, ja felbft Augus
3 Bürforge für feine Mutter warb ihn dadurch
472
verleidet, oder doch mindeſtens verbächtig gemacht.
Er verlor feine Unbefangenheit gegen das Fraͤu⸗
fein, er glaubte ſich zurüdhalten zu müflen, um
nicht gegen feinen Willen in ein Berhältniß ge
zogen zu werten, bad man zwifchen ihnen her
zuftellen dachte; und doch reizte es ihm zu willen,
ob Augufte die Pläne der Anderen 'theile, doch
fchmeichelte ihm die Vorftellung, eine Nichte, eine
Pflegetochter des Hauſes zur Frau zu nehmen,
das einft eine Verbindung mit ihm als eine Un
möglichkeit betrachtet hatte.
Aber fein Zug in feinem Herzen ſprach für
Augufte. Er fchäste fie, er war ihr dankbar,
aber er liebte fie nicht. Der Dialer hatte das
rechte Wort gefunden, fie war zu nüchtern; iht
fehlte, um Friedrich’ Neigung zu gewinnen, jene
Anmuth, ohne welche das tägliche Beifammenfein
farblo8 und bald zu einer, allen Reizes baaren
Gewohnheit und Ermüdung wird, Dennoch be
Ihäftigte ihn feit jenem Abende der Gedanfe an
bie Ehe oftmald, und das glüdlihe Familien
leben, deſſen Zeuge er in dem Pfarrhaufe war,
ließ ihm zum erften Male feit: den Tagen feiner
|
|
473
ı ein befchränftes Dafein in bürgerlichen
tniffen als etwas Schönes, Begehrenswer⸗
fcheinen. Was hatten der Reichthum, der
die Bildungdmöglichkeit, weldye allen Kin⸗
ed Barons zu Theil geworden waren, für
ı bewirken vernocht? Welche Erfolge hatten
bie Zufriedenheit und richtige Entwidlung
nzelnen geliefert? welche Segnungen konnte
Zegünftigten dad Leben bieten, die der Paſtor
ne Frau, die das Künftlerpaar nicht eben fo
ıd Schön genoflen? Nicht die äußeren Bedin⸗
‚waren e8, bie hier den Frieden, dort das Un⸗
er Familien erzeugten, e8 war ber Geilt der
ber hier waltete und dort fehlte. Nicht in
oas wir befigen, fondern darin, wie wir es bes
liegt fein Werth, feine Kraft, feine Wirk⸗
für und, Wir find Herren über unfere
enheit, jo lange wir Herr bleiben über
Willen. Die Möglichkeit des Streben
ed Erringend oder die Möglichfeit einer
seichränfung find Jedem gegeben, und Jeder
ch dieſen Anlagen eben auch die Audficht,
ı Einen oder dem Andern feine Zufrieden»
468
vollends böfe Tage!“ fagte die Paſtorin, und
Alte floffen nun über in des Fräuleins Lob, fo
daß Friedrich wieder aufmerkfam zu werden begann,
„Schen Sie, wie gut fie ift,“ meinte die
Paftorin gegen ihn gewendet, „und wie fie an
Alles denkt! Da ift fie geftern bei mir gemelen
und hat mic) gefragt, ob es denn nicht zu mas
hen wäre, daß Ihre Mutter hier im Dorfe bliebe,
weil Sie felbft den Winter bier verleben wollen;
und Hug wie fie ift und umfihtig, bat fie ge
meint, wenn Ihre Mutter fich bei der alten Anna
in Koft geben wollte, fo würde e8 Ihnen billiger
fein als fie in der Stadt zu unterhalten, fie würte
beffer leben und die beiden alten Frauen hätten
dad größte Behagen davon. Sie hatte die Sadıe
auch fchon mit der Anna befprodhen, und wollte
nun wiffen, was ich davon dächte, ehe fie es
Ihnen fagte.“
„Ja!“ fagte Sriedrih, gerührt von dieſer
Borlorge, „fie ift in der That fehr gut. Wie
viel habe ich ihr ſchon zu danken, mit welcher
Aufopferung bat fie meiner Mutter e8 erleichtert,
mich zu pflegen, mit welcher Freundlichkeit weiß
469
fie fich zu den Anfichten und Begriffen der alten
rau berabzuftimmen! Sie ift fehr gut — und
leider ift auch fie nicht glücklich!“
„Es ift Alles richtig, was Sie zu ihrem Lobe
fagen,* bemerkte der Paſtor, „und ich ſpreche
Nichts dagegen; nur will mir, der ich fie von
ihrer Jugend an fenne, ein gewiffer Zug ber
Unzufriedenheit in ihrem Weſen nicht gefallen.
Sie weiß nicht fih an das Gute ihrer Lage
zu halten, fie denkt felten an das, was fie hat,
aber deſto öfter an Alles, was ihr fehlt, fie fieht
ftet8 über fich, nie unter fih — und mit folchen
Menfchen ift nicht leicht zu leben; denn kaͤmen
fie auch in den fiebenten Himmel, fie finden doc)
noch Etwas, was ihnen fehlt und find nie recht
zufrieden, ”
„Zufrieden?“ rief Feldheim, „wo fol denn
einem Yrauenzimmer von fehsundzwanzig Jahren
die Zufriedenheit berfommen, wenn es noch feinen
Mann und Ausfiht hat eine alte Jungfer zu
werden? Und e8 wär Schade um fie, denn fie
ift hübſch und friſch!“
„Sehr hübſch!“ fagte die Paſtorin, deren ent-
476
Abende länger, die Ratur herbftlicher werden. Die
Einfamfeit, welche dadurch auf dem Lande ker
vorgerufen wird, bie Abgetrenntheit von ber übtis
gen Welt waren ihm willfommen, nur die Sorge
um Regine zog feine Gedanken aus dem Kreilt
fort, in dem er fi) bewegte. Er Fonnte fi) nicht
überwinden, den Verdacht gegen fie auszufprecden,
der ihn fo grundlos gekommen war, und bed
ließ es ihm feinen Frieden, bis er fich entfchloß,
Erich zu fragen, was es mit den Gerüchten ſei,
die er vernommen.
Mit unummundener Offenheit geftand ber
Freund ihre Wahrheit zu. Er fchilderte ihm bie
Art, in der er das Mädchen wiedergefunden, ba6
er fchon in der Jugend gefannt, erwähnte mit
bitterer Reue feiner Handlungsweife, mit Liebe des
Mädchens, mit großem Schmerz der zwilchen ih—
nen nothwendig gewordenen Trennung. Dann
aber ſprach er in dem Briefe die Bitte aus, Frie
drich möge ihm, als einen Freundſchaftsbeweis, bie
Gunſt geftatten, ihm die legten Detaild und den
Namen feiner Geliebten erft mündlich mittheilen
zu dürfen,
AM
„Sa!“ wenbete die Paftorin ein, „aber in
böfen Tagen, da ift ein nüchterner Sinn —“
„Sn böfen Tagen,“ fiel der Bruder ihr in’
Wort, „in böfen Tagen, bei Roth und Sorge,
bei Zanf und Streit, da ift ja eine nüchterne
Frau, die al die Noth fo Far vor Augen fieht,
ohne fie durch ein Bischen Täufchung oder Hoff⸗
nung zu mildern, die all den Zwieſpalt mit fehar-
fer nüchterner Gerechtigkeit betrachtet, ohne bie
liebenswuͤrdige Schwäche der Nachgiebigfeit, — ba
ift ja folhe Frau ein wahres Unglüd. Ich
hänge mich auf, Weib, wenn Du mir jemals
nüchtern wirft!” rief er lachend, und gegen Fries
drich gewendet wieberholte er: „Ift fie nüchtern,
fo halten Sie ſich den Scha vom Leibe! Sonft
iſt's ein ſtattlich Mädchen und eine Frau müffen
Sie ja einmal haben, Herr Paftor in spe!“
Ohne daß er es fich eingeftand, machte dieſe
Unterredung einen unangenehmen Eindruck auf
Friedrich. Es verbroß ihn, daß man ihn aus fei-
ner Ruhe ftörte, daß man ihm Wünfche und Pläne
unterbreitete, die er nicht hegte, ja felbft Augus
fiens Fuͤrſorge für feine Mutter warb ihn dadurch
472
verleidet, ober doch mindeftene verdächtig gemadht.
Er verlor feine Unbefangenheit gegen das Fräw
fein, er glaubte ſich zurüdhalten zu müflen, um
nicht gegen feinen Willen in ein Verhältniß ge
zogen zu werden, dad man zwifchen ihnen her
zuftellen dachte; und doch reiste es ihn zu willen,
ob Augufte die Pläne der Anderen theile, doch
fchmeichelte ihm die Vorftellung, eine Nichte, eine
Mflegetochter des Haufes zur Frau zu nehmen,
das einft eine Verbindung mit ihm als eine Un
möglichkeit betrachtet hatte,
Aber fein Zug in feinem Herzen ſprach für
Augufte. Er fchägte fie, er war ihr banfbar,
aber er liebte fie nicht. Der Maler hatte dad
rechte Wort gefunden, fie war zu nüchtern; iht
fehlte, um Yriedrich’8 Neigung zu gewinnen, jene
Anmuth, ohne welche das tägliche Beifammenfein
farblo8 und bald zu einer, allen Reizes baaren
Gewohnheit und Ermüdung wird. Dennoch be
fhäftigte ihm feit jenem Abende der Gedanke an
die Ehe oftmald, und das glüdliche Familien
leben, defien Zeuge er in dem Pfarrhaufe war,
ließ ihm zum erften Male feit den Tagen feiner
479
felbft, ald Stieffinder des Glücks betrachtete,
.. e8 ihre wohlthuend war, von ihnen liebevoll
kannt zu werden, und weil fie es als eine
idung anfah, daß ihr die Sorge für den Frans
Sriedrih in dem Augenblide zugewieſen wors
war, in dem Georg fie für immer verlaffen
e.
Dreiundzwanzigftes Kapitel
— — —
Erich war für einige Tage zu einer befreun
beten Familie auf dad Land gegangen, ald Regine
an einem hellen Dectobermorgen in das Zins
ner eined Hoteld trat, in dem eine noch jung
Dame fie empfing. Sie hatte fich fehr veränbert,
ihre Wangen waren bleich geworden, ber Gtam
hatte feine Spuren in ihren edlen Zügen auß
geprägt.
Scheu und demüthig blieb fie nahe bei ter
Thüre ftchen, als zaudere fie vorwärts zu treten,
als falle e& ihr fchwer zu fpredhen. Die Damt
auf dein Sopha bemerkte es, erfundigte fich nad
ihrem Begehr und nöthigte fie zum Sigen. Re
475
merfantilifchen Treibens gaben, in das Sener ſich
mit Behagen Hineingezogen fah, weil es feinem
Drange nach Thätigfeit und Selbftändigfeit ent-
ſprach, diefe Briefe machten Friedrich die Etille
nur nod lieber. Er empfand fie ald ein Be-
bürfniß für fi) nad den Leiden feiner Krank⸗
heit, und ohne daß er ed gewahr ward, fpann
fih fein Leben in die Schranken feiner jeßigen
Umgebung ein.
Was er von Pleffen über den Fortgang bes
Proceſſes gegen die gemeinfamen Freunde hörte,
was der Doctor ihm über die, gegen ihn ver-
hängte und immer noch nicht entfchiedene Unter-
fuhung, fo wie über den wachſenden Drud bes
richtete, den Polizei und Cenfur über die Preſſe
ausübten, war nicht geeignet, ihn in feine frühes
ren Verhaͤltniſſe zurüdzuloden. Der Doctor felbft
begann an eine Entfernung aus den Lande zu
denfen, Pleſſen, der Eorneliend Entfcheidung er-
wartet hatte, ſchickte fih an nad) Gnadenfrei zu
gehen, und damit waren bie wefentlichften Bezie-
hungen gelöft, die ihn dort gefeflelt hatten.
Mit Behagen ſah er die Tage Eürzer, bie
A82
fchließen, die bei Ungewohnten ihre Haͤtten
hat?” "
Da hielt fi) Regine nicht länger, Die Th
nen flürzten ihr aus den Augen, und bie gefalts °
ten Hände gegen ihre Bruft brüdend, fagte fi
leife: „Ja! ich bin fehr unglücklich!“
Der innige Ton der Wahrheit erfchütterte die
Dame „Was kann ich für Sie thun?“ rief fe.
vol Theilnahme und ergriff Regine's Hände
„Sagen Sie mir, Liebe! was kann id für Sie
thun?“
„Nehmen Sie mich mit ſich!“ bat Regine
und fügte dann lebhaft hinzu: „Sch habe Nie
mand, auf den ich mich berufen dürfte, feine
Empfehlungen, die für mich fprächen, die wenigen
Menfhen, die mich bier kennen in der großen
Stadt, die würden gegen mich zeugen, ich habe
Niemand ald mich felbft und die Zuverficht auf
Ihre Menfchlichkeit, die mir Ihr Anblick giebt!"
Die Dame trodnete fi die Augen. „Was
it Ihnen denn gefchehen? Was beprängt Sie?"
forfchte fie theilnehmend.
Regine kämpfte mit fich felbft, endlich fagte
477
So auffallend dies lebte Verlangen für Fries
drich fein mußte, fo Hatten Erich's Offenheit und
por Allem der Umftand, daß er feine Geliebte
fhon in der Heimath gefannt haben wollte, ihn
doch völlig beruhigt; denn Regine hatte nach fei-
ner feiten Ueberzeugung Erich niemald gejehen,
und bald zog er fich wieder in bie Fleine Welt
zurüd, in der er heimifch zu werden begonnen
Hatte. |
Er felbft nahm Auguftend Borfchlag, feine
Mutter nad) dem Gute überzufiedeln, wieder auf,
um fih aud von bdiefer Seite abzuſchließen,
und mit Zufriedenheit fah er die befcheidene Habe
ber Meifterin im Haufe der alten Anna anlangen.
Selbft die Ausficht, daß die Familie ded Malers,
Daß der Baron und Augufte mit Anfang bed
Minterd den Ort verlaffen würden, erfchredte ihn
nicht; er freute fich vielmehr darauf, bald ganz
auf fich felbft und auf den Verkehr mit den fchlich-
teften Menſchen angewiefen zu fein, und das Zus
fammenfein mit den Bewohnern des Schloſſes
war ohnehin nicht erheiternd.
Die Erfehütterung, welche ber Baron durch
484
Himmel lebt, * rief Regine, „Sie follen dies Ber-
trauen nie bereuen! Sie follen es nie bereum,
mich gerettet zu haben!*
Sie reichte der Dame die Hand, bie jene
nahm, es entftand eine Pauſe. Beide raum
fhienen betroffen von dem plöglihen Bertraum
das fie zu einander gefaßt; dann fagte bie
Dame: „Ih hatte vor nah Italien zu reifen,
Bamilienverhältniffe hindern mich daran, und id
gehe nah Frankreich. Wann koͤnnen Sie fertig
fein?“
„Zu jeder Etunde, gnädige Frau!“
„So laflen Sie ed übermorgen früh fein.
Es drängt mich von hier fortzufommen. ”
Regine erklärte fich bereit und wollte die Da
me verlaffen, als diefe lächelnd fagte: „Aber Ihre
Wohnung und Ihren Namen möchte ich doch
wiſſen!“
„Ich heiße Regine Baldig — —“
„Regine Baldig?“ wiederholte die Fremde,
„Regine Baldig? Sind Sie eine Koönigsbergerin?“
„Ja! gnädige Frau!“ antwortete Regine, vers
wundert über dieſe Frage.
485
eh ein merfwürdiger Zufall" rief die
zab dann Reginen nochmals die Hand und
‚Sa, Sie follen mit mir gehen und wir
einander nicht verlaffen, denn auch ich bin
) felbft geftellt und recht allein! Auf übers
alfo! — Für Ihren Paß forgen Sie
h habe bereits. einen für mic) und meine
ng audfertigen laſſen. Auf übermorgen
ine langte erleichterten Herzens in ihrer
ı9 an. Sie padte eine befcheidene Garde⸗
ammen, ließ alle wertbvollen Gegenſtaͤnde,
y ihr gefchenft, zurüc, ordnete feine Zimmer
Heimkehr, und fchrieb ihm dann, daß fie
mmerjungfer einer vornehmen Dame nad)
ch gehe, daß fie den Ort ihrer Beſtim⸗
:[bft nicht Fenne, und daß fie ihn um ih⸗
feiner Ruhe willen beſchwoͤre, nicht nady
orfchen. Kein Wort der Klage, ded Bes
oder des Vorwurfs fprach fi) in dem
ud. Er war voll fanfter Trauer, vol
r Erich, der Ausdrud einer großmüthigen
ie fich beſchieden hatte zu entfagen.
Dreiundzwanzigftes Kapitel,
— W—t) — —
Erich war für einige Tage zu einer befreun
beten Familie auf dad Land gegangen, ald Regine
an einem hellen Detobermorgen in dad Zins
mer eined Hoteld trat, in dem eine noch junge
Dame fie empfing. Sie hatte fi fehr veränbert,
ihre Wangen waren bleich geworden, ber ram
hatte feine Spuren in ihren edlen Zügen aus
geprägt.
Scheu und demüthig blieb fie nahe bei ter
Thüre ftchen, als zaubere fie vorwärts zu treten,
al& falle es ihr fchwer zu ſprechen. Die Dame
auf dem Eopha bemerkte es, erfunbdigte fich nad
ihrem Begehr und nöthigte fie zum Sitzen. Re
as2
ſchließen, die bei Ungewohnten ihre Härten
bat?“ ; “
Da bielt fi) Regine nicht länger. Die Thraͤ⸗
nen flürzten ihr aus den Augen, und bie gefalte
ten Hände gegen ihre Bruft brüdend, fagte fie
leife: „Ja! ich bin fehr ungluͤcklich!“
Der innige Ton ber Wahrheit erfchütterte bie
Dame „Was Ffann ih für Sie thun?“ rief fir -
vol Theilnahme und ergriff Regine's Hände,
„Sagen Sie mir, Liebe! was Tann ich für Sie
thun?“
„Nehmen Sie mich mit ſich!“ bat Regine
und fügte dann lebhaft hinzu: „Sch habe Nie
mand, auf den ich mich berufen dürfte, Feine
Empfehlungen, die für mic) fprächen, die wenigen
Menfhen, die mich hier fennen in ber großen
Stadt, die würden gegen mid) zeugen, ich habe
Niemand als mich felbft und die Zuverficht auf
Ihre Menfclichkeit, die mir Ihr Anblick giebt!“
Die Dame trodnete fi die Augen. „Was
ift Ihnen denn geſchehen? Was bebrängt Sie?"
forfchte fie theilnehment.
Regine Fämpfte mit fich felbft, endlich fagte
484
Himmel lebt,“ rief Regine, „Sie follen dies Ber-
trauen nie bereuen! Sie follen es nie bereum,
mich gerettet zu haben!“
Sie reichte der Dame die Hand, bie jene
nahm, ed entfland eine Paufe. Beide Frauen
fhienen betroffen von dem plöglihen Vertrauen
dad fie zu einander gefaßt; dann fagte bie
Dame: „Ich hatte vor nah Italien zu reifen,
Bamilienverhältniffe hindern mich daran, und id
gehe nad) Frankreich. Wann Fönnen Sie fertig
fein?
„Zu jeder Stunde, gnädige Frau!”
„So lafien Sie es übermorgen früh fein.
Es drängt mich von hier fortzufommen. ”
Regine erklärte fi) bereit und wollte die Das
me verlaffen, als diefe lächelnd fagte: „Aber Ihre
Wohnung und Ihren Namen möchte ich doch
wiſſen!“
„Ich heiße Regine Baldig — —“
„Regine Baldig?“ wiederholte die Fremde,
„Regine Baldig? Sind Sie eine Koönigsbergerin?“
„Sal gnädige Frau!” antwortete Regine, vers
wundert über dieſe Frage.
485
„Welch ein merfwürdiger Zufall” rief die
Dame, gab dann Reginen nochmals die Hand und
fagte: „Sa, Sie follen mit mir gehen und wir
wollen einander nicht verlaffen, denn auch ich bin
auf mich felbft geftelt und recht allein! Auf übers
morgen alſo! — Für Ihren Paß forgen Sie
nicht, ich babe bereits. einen für mich und meine
Bedienung audfertigen laffen. Auf übermorgen
alfo I“
Regine langte erleichterten Herzens in ihrer
Wohnung an. Sie padte eine befcheidene Garde⸗
robe zufammen, ließ alle werthvollen Gegenftände,
bie Erich ihr geſchenkt, zurücd, ordnete feine Zimmer
für die Heimkehr, und fchrieb ihm dann, daß fe
ald Kammerjungfer einer vornehmen Dame nad)
Frankreich gehe, daß fie den Ort ihrer Beftims
mung felbft nicht kenne, und daß fie ihn um ih
rer und feiner Ruhe willen befchwöre, nicht nady
ihr zu forfchen. Kein Wort der Klage, ded Bes
dauernd oder ded Vorwurfs ſprach fi) in dem
Briefe aus. Er war vol fanfter Trauer, vol
Liebe für Erich, der Ausdruck einer großmüthigen
Seele, die ſich befchieden hatte zu entfagen.
Den Brief legte fie auf Erich's Schreibtiſch.
Als fie am Morgen ihrer Abreife dem Portier
die Schlüffel ihrer Wohnung übergab, fah dieſer
fie ruhig mit ihrem Gepäde davonfahren. Cr
glaubte, fie gehe zu Erich auf das Land.
Wenig Wochen fpäter meldeten die Zeitungen
die Verlobung des Barond Erich von Heiten |
brud mit der Freiin Sidonie von Werbed, un
ber Bräutigam hatte die Freude, feine Schweſter,
bie Gräfin St. Brezan, bei der Verlobung gegen
wärtig zu haben, die ihren Gemahl auf feine
außerordentlihen Mifften nad) Petersburg be
gleitete.
8540 «11
'
on
z.
3 2044 051 148 :
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